M itten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Ich konnte mich nicht an den Albtraum erinnern, aber ich wusste, dass ich einen gehabt hatte. Mein Herz raste. Meine Brust fühlte sich an wie eingeschnürt, und ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass ich in der Falle saß. Ich warf die Bettdecke zurück.
Wie von selbst krochen meine Finger zu dem Red-Rose-Lippenstift. Auf der anderen Seite des Zimmers drehte sich Sloane in ihrem Bett um. Ich hielt den Atem an und wartete, ob sie aufwachte. Doch sie schlief weiter. So leise wie möglich stand ich auf und schlüpfte aus dem Zimmer.
Ich brauchte Platz. Ich brauchte Luft. Ich musste atmen können.
Im Haus war es still, als ich mich nach unten schlich. Ich war mir nicht mal sicher, wo ich hinwollte, bis ich vor der Küchentür stand.
»Ich sagte doch, es geht mir gut.«
Abrupt blieb ich stehen, als die Stille im Haus durch das gedämpfte Streitgespräch hinter der Tür zerrissen wurde.
»Es geht dir nicht gut, Dean. Niemand verlangt von dir, dass es dir gut geht. Mir geht es jedenfalls nicht gut dabei.«
Agent Mullins und Dean. Sie streiten sich.
Ich hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und machte mich bereit, mich zurückzuziehen, lauschte auf Schritte, doch es kamen keine. Es klang nur, als wäre jemand zornig vom Tisch aufgestanden.
»Sie haben aufgehört.«
»Dean …«
»Sie haben beim FBI aufgehört. Ich glaube, wir wissen beide, warum.«
»Ich bin gegangen, weil ich meinen Job nicht gemacht habe, Dean. Ich war wütend. Ich musste beweisen, dass ich keine Angst hatte, und dabei wurde jemand getötet. Weil ich mich nicht an die Regeln halten konnte. Weil Tanner nicht einmal einen einzigen Fall sein lassen konnte.«
Tanner war Briggs’ Vorname. Durch die Tatsache, dass Agent Mullins ihn vor Dean so nannte, fragte ich mich, wie viel die beiden wirklich miteinander verband. So ein Gespräch führte man nicht mit jemandem, den man ein Mal bei der Verhaftung seines Vaters getroffen hatte.
»Wie hieß das Mädchen?« Deans Stimme war leiser als die von Agent Mullins. Ich musste mich anstrengen, seine Worte zu verstehen.
»Das kann ich dir nicht sagen, Dean.«
»Wie hieß sie?«
»Du darfst nicht an aktiven Fällen arbeiten. Lass es einfach.«
»Sagen Sie mir ihren Namen, dann lasse ich es.«
»Nein, tust du nicht.« Agent Mullins’ Stimme war jetzt schwerer zu hören. Vielleicht sprach sie leiser, weil die Alternative gewesen wäre zu schreien.
»Ich habe Ihnen einmal etwas versprochen«, sagte Dean beherrscht – zu beherrscht. »Ich habe das Versprechen gehalten. Sagen Sie mir den Namen des Mädchens, und ich verspreche, mich rauszuhalten.«
Meine Finger schlossen sich um den Lippenstift in meiner Hand. Briggs hatte mich Lockes Akten lesen lassen. Ich hatte mir den Namen jedes ihrer Opfer eingeprägt.
»Reicht es nicht aus, dass ich geschworen habe, wir würden uns darum kümmern?«, widersprach Agent Mullins scharf. »Wir haben ein paar gute Spuren. Ich kann dir nicht sagen, welche das sind, aber ich kann dir versichern, dass es sie gibt. Es ist ein Nachahmer, Dean. Daniel Redding sitzt im Gefängnis. Er wird für den Rest seines erbärmlichen Lebens im Gefängnis sitzen.«
»Wie hieß sie?«
»Wozu willst du das wissen?« Dieses Mal sprach Agent Mullins laut genug, dass ich sie auch gehört hätte, wenn ich nicht direkt vor der Tür gestanden hätte. »Sag es mir, dann beantworte ich deine Fragen.«
»Ich will es einfach wissen.«
»Das reicht mir nicht, Dean.«
Dann war es still. Mindestens eine Minute lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Meine Atemgeräusche kamen mir unerträglich laut vor. Ich war sicher, dass jeden Augenblick einer von ihnen herausgestürmt kommen würde. Sie würden mich hier entdecken, wie ich an der Tür einem Gespräch lauschte, das privater war als alles, was Dean mir je erzählt hatte.
Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das ging.
»Ihr Name war Gloria.« Das kam von Dean, nicht Mullins, daher wusste ich nicht, auf wen sich das ihr bezog. »Er hat sie mir vorgestellt. Er ließ mich ihren Namen sagen. Er fragte sie, ob sie meine Mutter sein wollte. Ich war neun. Ich sagte ihm, ich wolle keine neue Mutter. Da hat er Gloria angesehen und gesagt: ›Wie schade.‹«
»Du wusstest es nicht«, sagte Mullins. Sie sprach wieder ruhig, aber immer noch laut genug, dass ich sie hören konnte.
»Und sobald ich es wusste, sagte er mir nicht mehr, wie sie hießen«, erwiderte Dean mit brüchiger Stimme.
Wieder herrschte Stille, furchtbar erdrückende Stille. Das heftige Klopfen meines Herzens übertönte meine Atemzüge. So leise wie möglich trat ich einen Schritt zurück.
Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte das hier nicht hören.
Ich wandte mich um, doch auch noch mit dem Rücken zur Tür hörte ich, wie Agent Mullins Deans Frage beantwortete.
»Der Name des Mädchens war Emerson Cole.«
•••
Wieder in meinem Bett schloss ich die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ich gehört hatte, als ob ich dadurch, dass ich es verdrängte, die Tatsache wiedergutmachen konnte, viel zu lange an der Tür gelauscht zu haben.
Ich schaffte es nicht.
Dean und Agent Mullins hatten sich nicht nur schon früher getroffen. Sie kannten einander. Sie verband eine gemeinsame Geschichte.
Denk nicht mehr darüber nach , sagte ich mir. Tu es nicht.
Doch ich konnte nicht aufhören, genauso wenig, wie Sloane keine mathematische Gleichung ansehen konnte, ohne die Antwort zu berechnen.
Dean hat dir einmal ein Versprechen gegeben, und was auch immer das war, er hat es gehalten. Das Einzige, was ich tun konnte, um seine Privatsphäre zu wahren, war, mich in Agent Mullins hineinzuversetzen anstatt in ihn. Du denkst nicht gerne an den Fall Daniel Redding. Es liegt dir etwas an Dean. Michael sagte, du hättest Angst, ihn auch nur anzusehen, doch offensichtlich gibst du Dean nicht die Schuld für das, was sein Vater getan hat.
Plötzlich wurde mir eine weitere Bedeutung ihres Gespräches klar.
Du wusstest, dass Dean herausgefunden hatte, was sein Vater tat, nicht wahr? Du wusstest, dass Daniel Redding seinen Sohn zusehen ließ.
Die Worte, die Dean mir am Tag zuvor zugeflüstert hatte, das Geheimnis, von dem ich sicher war, dass er es niemandem anvertraut hatte – sie kannte es ebenfalls. Irgendwie machte mir diese Tatsache es schwerer, meine Abneigung gegenüber Agent Mullins aufrechtzuerhalten.
Du glaubst, du könntest ihn beschützen. Du glaubst, wenn er nicht weiß, was passiert ist, dann betrifft es ihn auch nicht. Deshalb wolltest du ihm Emersons Namen nicht sagen.
Wenn Agent Mullins ihn so gut kannte, wenn ihr so viel an Dean lag, warum verstand sie dann nicht, dass es die Unwissenheit war, die ihn umbringen würde? Es spielte keine Rolle, dass der Mörder nur ein Nachahmer war. Dass Dean ihren Namen wissen wollte, sagte mir, dass das für ihn keinen Unterschied machte.
Er würde sich selbst die Schuld am Tod des Mädchens geben, genau wie er sich die Schuld am Tod der anderen gab.
Ich sagte ihm, ich wolle keine neue Mutter.
Und Daniel Redding hatte gesagt: Wie schade.
Für Dean – und vielleicht auch für seinen Vater – war zumindest ein Opfer von Daniel Redding deshalb gestorben, weil sie kein passender Ersatz für Deans Mutter war.
Weil Dean gesagt hatte, dass er sie nicht wollte.
So viel zu meinem Vorsatz, ein Profil von Mullins zu erstellen und nicht von Dean.
Patsch. Ein kleines, kaltes Projektil traf mich seitlich am Kopf. Einen Augenblick lang dachte ich schon, ich hätte es mir eingebildet, doch dann … Patsch.
Ich machte die Augen auf, sah zur Tür und wischte mir über das Gesicht. Es war feucht. Bevor sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, wurde ich ein weiteres Mal getroffen.
»Lia!«, zischte ich leise, um Sloane nicht zu wecken. »Hör auf, mich mit Eis zu bewerfen!«
Lia steckte sich einen Eiswürfel in den Mund und rollte ihn mit der Zunge herum. Wortlos winkte sie mich in den Flur. Da sie garantiert weiter mit Eis geworfen hätte, bis ich tat, was sie von mir wollte, rollte ich mich aus dem Bett und folgte ihr in den Flur. Sie schloss die Tür hinter uns und zog mich ins danebenliegende Bad. Sobald sie diese Tür ebenfalls verschlossen hatte, schaltete sie das Licht ein, und ich sah, dass sie zusätzlich zu dem Becher mit Eiswürfeln in ihrer linken Hand ein glitzerndes mintgrünes T-Shirt in der rechten Hand hielt.
Mein Blick wanderte von der Kleidung in Lias Händen zu der Kleidung, die sie selbst trug: eine schwarze Lederhose und ein silbernes Top, das nur von einer Kette um ihren Hals gehalten wurde und kein Rückenteil hatte.
»Was hast du denn da an?«, wunderte ich mich.
Lia beantwortete meine Frage mit einem Befehl. »Zieh das an!« Sie warf mir das Top zu, doch ich wich zurück.
»Warum?«
»Weil«, erklärte Lia, als hätten wir uns nicht innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden zwei Mal gestritten, »man auf einer Studentenparty der Colonial University nicht im Pyjama auftauchen kann.«
»Eine Studentenparty«, wiederholte ich, doch dann wurde mir bewusst, was sie gesagt hatte. Colonial University . Der Tatort.
»Das ist keine gute Idee«, sagte ich. »Judd wird uns umbringen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Agent Mullins sowieso schon mit uns auf Kriegsfuß steht, und dabei haben Sloane und ich nur den Tatort im Keller nachgestellt.«
»Sloane hat den Tatort nachgestellt«, berichtigte mich Lia. »Du hast dich nur schnappen lassen.«
»Du bist total irre«, stellte ich fest und versuchte zu flüstern. »Du willst, dass wir uns aus dem Haus schleichen, um an einer Studentenparty an einer Universität teilzunehmen, an der eine FBI-Untersuchung stattfindet. Vergiss Judd und Mullins. Briggs würde uns umbringen.«
»Nur wenn wir erwischt werden«, gab Lia zurück. »Und anders als bei gewissen rothaarigen Personen in diesem Raum ist es meine Spezialität, nicht erwischt zu werden. Zieh das Kleid an, Cassie.«
»Was für ein Kleid?«
Lia hielt das Glitzerding hoch, das ich für ein T-Shirt gehalten hatte. »Dieses Kleid.«
»Das da ist auf keinen Fall lang genug für ein Kleid.«
»Es ist ein Kleid. Und im Augenblick ist es sogar dein Kleid, das Kleid, das du, ohne weiter rumzuzicken, anziehen wirst, denn die Jungs von der Verbindung sind gesprächiger, wenn man ein wenig Bein zeigt.«
Ich holte tief Luft und wollte gerade etwas dagegenhalten, aber sie trat unangenehm dicht an mich heran und schob mich gegen den Waschtisch.
»Du bist doch die Profilerin«, sagte sie. »Dann sag mir doch, wie es Dean gehen wird, wenn das FBI diesen Fall versaut. Sag mir, du wärst dir hundertprozentig sicher, dass wir nicht irgendetwas aufschnappen, was ihnen entgeht.«
Das FBI verfügte über Profiler und Vernehmungsspezialisten. Diese Agenten hatten eine Ausbildung. Sie hatten Erfahrung. Also hatten sie hunderttausend Dinge, die wir nicht hatten – aber niemand hatte Instinkte wie unsere. Das war ja der ganze Sinn dieser Akademie. Aus diesem Grund hatte Judd Angst, dass die Agenten nicht mehr aufhören könnten, uns für aktive Fälle einzusetzen, wenn sie damit erst einmal angefangen hatten.
»Was glaubst du, mit wem Studierende eher reden?«, fragte Lia. »Mit FBI-Agenten oder zwei spärlich bekleideten Mädchen im einigermaßen heiratsfähigen Alter?«
Leider musste ich zugeben, dass Lia recht hatte – selbst wenn man unsere Fähigkeiten außer Acht ließ. Niemand würde vermuten, dass wir etwas mit der Ermittlung zu tun hatten. Vielleicht erzählten uns die Jungs und Mädchen auf der Party etwas, das das FBI nicht wusste – oder sogar etwas, das sie dem FBI lieber nicht erzählen wollten.
»Mullins’ Andeutung, dass sie den Direktor auf irgendeine Weise dazu kriegen könnte, die Akademie einzustellen, war gelogen. Ich kann dir garantieren, dass das nicht in ihrer Macht steht. Bestenfalls kann sie einen von uns nach Hause schicken, und ich würde darauf wetten, dass der Direktor nicht zulassen wird, dass es ausgerechnet dich treffen würde, weil du eine schöne, glanzvolle Alternative zu Dean bist, dem der Direktor nie vertraut hat und den er nie mochte.« Lia trat einen Schritt zurück und ließ mir etwas mehr Raum. »Du hast gesagt, dir liegt etwas an Dean«, sagte sie leise. »Du hast gesagt, du willst ihm helfen. Das hier wird helfen. Ich würde dich wegen einer Menge Dinge anlügen, Cassie, aber Dean zu helfen gehört nicht dazu. Ich würde das nicht für dich oder für Michael tun, nicht einmal für Sloane. Aber für Dean würde ich in den Hades stolzieren und mich mit dem Teufel anfreunden, also entweder ziehst du jetzt das verdammte Kleid an, oder du gehst mir verdammt noch mal aus dem Weg.«
Ich zog das Kleid an.
»Und du bist dir ernsthaft sicher, dass das nicht nur ein Hemd ist?«, fragte ich mit misstrauischem Blick auf den Saum.
Lia bearbeitete mein Gesicht und trug eine Grundierung auf, bevor sie pinkfarbenen Lipgloss und eine Tube mit schwarzem Mascara schwenkte. »Glaub mir, es ist ein Kleid«, versicherte sie mir.
Bei solchen Gelegenheiten wünschte ich mir noch mehr als sonst, dass Lia keine notorische Lügnerin wäre.
»Und wie kommen wir überhaupt zu dieser Party?«, fragte ich.
Lia grinste. »Zufällig kenne ich einen Typen mit einem Auto.«