M ichaels Porsche war ein Relikt aus seinem Leben vor der Akademie. Wenn man ihn am Steuer sah, konnte man sich leicht den Menschen vorstellen, der er damals gewesen war, der verwöhnte Junge mit dem Treuhandfonds, der von einem Internat zum anderen flatterte, den Sommer in den Hamptons verbrachte und für ein langes Wochenende nach Saint Barts oder Santa Lucia jettete.
Genauso leicht war es, sich vorzustellen, wie Michael von einem Mädchen zum anderen flatterte.
Lia saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie lehnte sich zurück und schmiegte die Wange an den Ledersitz. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind. Sie hatte das Fenster heruntergelassen und hatte offensichtlich nicht vor, es wieder zu schließen. Hin und wieder warf sie Michael einen Blick zu. Ich wünschte, ich könnte ihren undurchdringlichen Gesichtsausdruck lesen. Woran dachte sie?
Was fühlte sie, wenn sie Michael ansah?
Michael hielt seinen Blick auf die Straße geheftet.
Sosehr ich mich auch bemühte, die beiden nicht zu interpretieren, musste ich dennoch daran denken, dass Lia diejenige gewesen war, die Michael gebeten hatte, uns auf diesem unglücklichen Ausflug zu begleiten, und dass er sich bereit erklärt hatte, uns zu helfen. Warum?
Weil er keine Gelegenheit ausließ, die Ärger verspricht. Weil er ihr etwas schuldet. Weil er, obwohl es ihm Spaß macht, Dean zu ärgern, doch nicht will, dass es ihm schlecht geht. Die Antworten schossen mir durch den Kopf, als mich Michael im Rückspiegel ansah. Er hatte mir einmal gesagt, dass ich Fältchen in den Augenwinkeln bekam, wenn ich das Profil von jemandem erstellte.
»Wir müssen einen kleinen Umweg machen«, verkündete Lia. Michael sah zu ihr hinüber und sie deutete mit einem dunkelrot lackierten Nagel nach vorne. »Nimm die nächste Ausfahrt.«
Dann drehte sie sich zu mir um. »Genießt du den Ausflug?«
»Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht.«
Lia ließ ihren Blick von mir zu Michael und wieder zurückgleiten und stimmte mir dann zu: »Nein, du tust es nicht, weil es dir Spaß macht. Du tust es für Dean.«
Sie sprach seinen Namen nur ein klein wenig gedehnter aus als die anderen Worte und Michaels Hand packte das Lenkrad fester. Lia wollte ihn wissen lassen, dass ich es für Dean tat. Sie wollte, dass er über diese Tatsache nachdachte.
»Da ist eine Tankstelle«, sagte Lia und zeigte in die entsprechende Richtung. Michael fuhr an den Straßenrand und parkte. »Ihr beide wartet hier«, bestimmte Lia lächelnd.
Es sah ihr ähnlich, erst ein bisschen Öl ins Feuer zu gießen und dann zu verschwinden. Egal, wie gut er es verbarg, ich wusste, dass Michael sich gerade fragte, was genau mich dazu brachte, das für Dean zu tun. Genauso, wie ich mich fragte, warum Michael Lias Wunsch nachgekommen war.
»Da«, sagte Lia. Sie klang ziemlich zufrieden. Mit beeindruckender Geschicklichkeit wand sie sich aus dem offenen Fenster, ohne die Tür zu öffnen.
»Das ist keine gute Idee«, meinte ich, während Lia auf den Mini-Markt zuging.
»Absolut nicht«, stimmte Michael mir zu. Vom Rücksitz aus konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber das bösartige Funkeln in seinen Augen konnte ich mir gut vorstellen.
»Wir haben uns aus dem Haus geschlichen, um zu einer Studentenparty zu gehen«, stellte ich fest. »Und das hier geht echt nicht als Kleid durch.«
Michael drehte sich um, betrachtete mich und lächelte. »Grün steht dir gut.«
Darauf sagte ich nichts.
»Jetzt müsstest du eigentlich etwas erwidern. Du weißt schon – zum Beispiel, dass mein Hemd meine Augenfarbe gut zur Geltung bringt oder so was.«
Er klang so ernsthaft, dass ich unwillkürlich lächeln musste. »Dein Hemd ist blau und deine Augen sind haselnussbraun.«
Michael neigte sich zu mir. »Du weißt doch, was man über haselnussbraune Augen sagt, oder?«
Lia machte die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. »Nein, Michael«, sagte sie grinsend. »Was sagt man denn über haselnussbraune Augen?«
»Hast du bekommen, was du wolltest?«, fragte Michael anstelle einer Antwort.
Lia reichte mir eine braune Papiertüte, die ich aufmachte. »Rote Gatorade und Becher?«, fragte ich. Was soll das denn?
Lia zuckte mit den Achseln. »Andere Länder, andere Sitten. Ihr wisst schon … Nicht auffallen heißt unser Motto. Wenn man auf einer Studentenparty ist, trinkt man zweifelhafte Fruchtbowle aus roten Bechern.«
Na wenn das so ist …
•••
Lia hatte recht gehabt mit dem Punsch. Und den Bechern. In dem schummrig beleuchteten Burschenschaftshaus fiel niemandem auf, dass unsere Drinks ein etwas anderes Rot hatten.
»Und jetzt?«, fragte ich Lia über die ohrenbetäubend laute Musik hinweg.
Sie begann ihre Hüften zu bewegen, und ihr Oberkörper folgte in einer Weise, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie einen perfekten Limbo hinlegen konnte. Sie sah zu einem Jungs-Trio hinüber, das an einer Wand lehnte, und schob Michael auf eine Blondine mit rot geränderten Augen zu.
»Und jetzt«, verkündete sie, »schließen wir ein paar Freundschaften.«
•••
Eine Profilerin, ein Emotionsleser und ein Lügendetektor gehen auf eine Party …
Eine Stunde später hatte Michael die Leute ausgemacht, die von dem Mord, der den Campus erschüttert hatte, am meisten betroffen waren. Wir fanden ein paar Partygäste, die aus anderen Gründen durcheinander waren – unter anderem, aber nicht ausschließlich wegen unerwiderter Liebe oder gemeiner Zimmergenossen –, doch es gab eine gewisse Mischung aus Kummer, Faszination und Furcht, die Michael bei den Leuten, die uns interessierten, festgestellt hatte.
Pech für uns, dass die meisten dieser Leute nichts Interessantes zu sagen hatten.
Lia hatte mit mindestens der Hälfte aller Jungen im Raum getanzt und mindestens drei Dutzend Lügen ausgemacht. Michael hörte der weiblichen Hälfte der studentischen Bevölkerung aufmerksam zu, während ich mich am Rand aufhielt, an meinem falschen Punsch nippte und die Studierenden, die sich in dem Haus drängten wie Geleebonbons im Glas, mit dem Auge einer Profilerin betrachtete. Es schien, als seien alle Studentinnen und Studenten der Colonial University hier versammelt – und ausgehend vom allgemeinen Mangel an Nüchternheit war ich mir sicher, dass von ihnen keiner Gatorade trank.
»Die Menschen trauern auf unterschiedliche Weise.«
Ein Junge trat neben mich. Er war knapp eins achtzig groß und komplett schwarz gekleidet. Auf seinem Kinn fand sich der Anflug eines Ziegenbarts, und er trug eine Brille mit Plastikrand, die er wahrscheinlich nicht auf Rezept bekommen hatte.
»Wir sind jung. Wir sollten nicht sterben. Sich mit billigem Alkohol zu betäuben ist ihr fehlgeleiteter Versuch, sich die Illusion von Unsterblichkeit zu erhalten.«
»Ihr Versuch«, wiederholte ich und gab mir Mühe, so auszusehen, als fände ich ihn interessant – und nicht, als ob ich glaubte, dass er mit ziemlicher Sicherheit entweder Philosophie oder Jura im Hauptfach studierte. »Aber nicht deiner?«
»Ich bin da eher realistisch«, gab der Typ zurück. »Menschen sterben. Junge Menschen, hübsche Menschen, Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Die einzige Unsterblichkeit liegt darin, etwas zu tun, woran man sich erinnert.«
Alles klar. Definitiv Philosophie. Gleich würde er anfangen, jemanden zu zitieren.
»Zu leben heißt zu leiden, zu überleben heißt, dem Leiden eine Bedeutung zu geben.«
Da war es. Die Herausforderung, diesem Kerl Informationen zu entlocken, bestand nicht darin, ihn zum Reden zu bringen, sondern ihn dazu zu bringen, dass er tatsächlich irgendetwas Interessantes sagte.
»Hast du sie gekannt?«, fragte ich. »Emerson Cole?«
Er gehörte zwar nicht zu den Studenten, die Michael ausgesucht hatte, aber, noch bevor er den Mund aufmachte, wusste ich, dass die Antwort Ja lauten würde. Er trauerte nicht um Emerson, doch er hatte sie auf jeden Fall gekannt.
»Sie war in meinem Kurs«, antwortete er ernst und lehnte sich an die Wand.
»In was für einem Kurs?«
»Monster oder Menschen «, erwiderte er. »Professor Fogles Kurs. Letztes Jahr schon. Jetzt bin ich sein Assistent. Fogle schreibt ein Buch und ich helfe ihm bei der Recherche.«
Ich versuchte, mit Lia auf der Tanzfläche Blickkontakt aufzunehmen. Professor Fogle war im Mordfall Emerson einer der Verdächtigen. Er gab einen Kurs über Serienmörder. Und irgendwie hatte sein Assistent mich gefunden.
Er ist gerne der Verfolger, dachte ich, während ich Lia zusah, die zwischen den Studierenden hindurchtanzte und auf Lügen achtete, nicht der Verfolgte.
»Hast du sie gekannt?«, wollte der Junge wissen und drehte den Spieß damit um. »Emerson. Hast du sie denn gekannt?«
»Nein«, antwortete ich und musste daran denken, wie viel Mühe es Dean gekostet hatte, auch nur ihren Namen zu erfahren. »Man könnte sagen, sie war die Freundin einer Freundin.«
»Du lügst.« Er streckte die Hand aus und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich musste mich beherrschen, nicht zurückzuzucken. »Ich halte mich für einen ausgezeichneten Menschenkenner.«
Du hältst dich in allem für ausgezeichnet, dachte ich.
»Du hast recht«, sagte ich, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er das gerne hörte. »Ich gehe hier nicht mal zur Uni.«
»Du hast die Geschichte in den Nachrichten gesehen«, vermutete der Junge, »und dann hast du dich entschieden, zu kommen und dich mal umzusehen.«
»Ungefähr so.« Im Kopf ging ich blitzschnell alles durch, was ich über ihn wusste, und entschied mich dann dafür, mich auf seine angebliche Expertise zu beziehen. »Ich habe gehört, dass der Professor unter Verdacht steht, weil er diesen Kurs gibt. Deinen Kurs.«
Der Typ zuckte mit den Schultern. »Es war besonders diese eine Vorlesung …«
Ich machte einen Schritt vor und seine Augen glitten zu meinen Beinen. Das Kleid, das Lia mir ausgesucht hatte, überließ nur wenig der Fantasie. Ich sah, wie hinter ihm Michael auf ihn zeigte und die Augenbrauen hochzog. Ich musste nicht nicken, um ihm zu sagen, dass ich eine vielversprechende Spur verfolgte, denn das konnte er in meinem Gesicht lesen.
»Ich könnte dir ja die fragliche Vorlesung zeigen«, schlug der Junge vor und ließ seinen Blick von meinen Beinen zu meinem Gesicht wandern. »Ich habe Professor Fogles Präsentation auf meinem Laptop. Und«, fügte er hinzu, »ich komme ohne Probleme in den Vorlesungssaal.« Er klimperte mit einem Schlüssel vor meiner Nase. »Es wäre genauso, als würdest du in der Vorlesung sitzen. Es sei denn, du bleibst lieber hier und ertränkst deinen Kummer in der Masse.«
Über seinen Kopf hinweg fing ich Michaels Blick auf.
Folge mir, dachte ich und hoffte, dass er mir diese Aufforderung irgendwie vom Gesicht ablesen konnte.
So eine Chance kann ich mir nicht entgehen lassen.