Kapitel 15

S etz dich, ich mache das Licht an.« Der Name des Philosophie-Typen war Geoffrey. Mit G. So hatte er sich mir auf dem Weg zum Vorlesungssaal vorgestellt – als wäre es tragisch gewesen, wenn ich mir vorgestellt hätte, sein Vorname finge mit einem J an.

Ich wollte einem Kerl, der mich von einer Studentenparty fortgeschleppt hatte, nicht den Rücken zudrehen, also wartete ich an die Wand gelehnt darauf, dass Geoffrey mit G das Licht anschaltete. Es flackerte und dann wurde der Vorlesungssaal mit Licht geflutet. Hunderte altmodischer Holztische standen in gleichmäßigen Reihen. Im vorderen Teil des Raumes befand sich eine Bühne. Geoffrey ging rückwärts durch die Reihen.

»Kriegst du kalte Füße?«, fragte er mich. »Kriminologie ist nicht für jeden etwas.« Die meisten Leute hätten jetzt aufgehört. Doch nicht Geoffrey. »Ich bereite mich aufs Jurastudium vor.«

»Studierst du Philosophie im Nebenfach?«, musste ich fragen.

Er hielt inne und sah mich merkwürdig an. »Im Hauptfach.« Er behielt mich im Blick, während er auf die Bühne ging und seinen Laptop in den Projektor einstöpselte.

Wer bitte schön bringt seinen Laptop auf eine Studentenparty mit?

Ich beantwortete mir meine Frage selbst: jemand, der die ganze Zeit geplant hat, ein Mädchen hierherzubringen. Ich setzte mich, immer noch wachsam, aber weniger misstrauisch. Geoffrey war nicht unser UNSUB. Er war so eingebildet, dass er seine hohe Meinung von sich selbst nicht durch einen Mord bestätigen musste.

Andererseits hatte ich diese Notwendigkeit auch bei Locke nicht gespürt.

»Ich hoffe, wir sind nicht zu spät«, klang Michaels Stimme fröhlich durch den Hörsaal. Er war mir also gefolgt. Gut. Geoffrey runzelte die Stirn. Ich wandte mich auf meinem Sitz um und stellte fest, dass Michael nicht allein gekommen war. Bei ihm war ein Mädchen: hübsch, blond und kurvenreich, mit einer hippen Brille.

»Geoffrey!«

»Bryce.«

Offensichtlich kannten sich Geoffrey mit G und das hippe Mädchen. Geoffrey seufzte.

»Veronica, das ist Bryce; Bryce, das ist Veronica.«

Es war typisch Michael, uns zu folgen und auch noch Verstärkung mitzubringen. Verstärkung, die Geoffrey kannte – und, wenn ich mich nicht täuschte, ihn nicht mochte. Michael muss sie in der Menge ausgemacht haben, als sie sah, wie ich mit Geoffrey verschwand.

»Nett, dich kennenzulernen«, sagte ich zu Bryce. Sie legte ihren Arm um Michaels Taille. Es war tausendmal schlimmer zu sehen, wie sie ihn berührte, als wenn Lia es tat.

Lia gehörte wenigstens zu uns.

»Geoff«, begann Bryce, der es offensichtlich gefiel, Michael im Arm zu haben, und die Geoffreys Namen absichtlich verkürzte, um ihn zu ärgern, »das hier ist Tanner. Wir sind gekommen, um uns die Show anzusehen.«

Ich fing Michaels Blick auf und musste mich zurückhalten, nicht laut aufzulachen. Ich hatte mir Agent Mullins’ Vornamen gegeben und er sich den von Agent Briggs.

»Ihr wart aber nicht eingeladen«, erklärte Geoffrey tonlos.

Bryce zuckte mit den Schultern und ließ sich auf einen Sitz im Gang mir gegenüber nieder.

»Ich bezweifle, dass du willst, dass Professor Fogle von dieser kleinen Show erfährt«, sagte sie in einem Ton, der für mich keinen Zweifel daran ließ, dass sie schon einmal an meiner Stelle gewesen war und von Geoffrey eine kleine Show geboten bekommen hatte.

»Na gut«, gab Geoffrey nach. »Bryce ist in meinem Kurs«, erklärte er mir und wandte sich dann an Michael. »Ich bin der Assistent.«

»Nice. « Michael grinste.

»Ja«, gab Geoffrey angespannt zurück. »Das ist es.«

»Ich meine deinen Bart«, sagte Michael und spielte wie beiläufig mit Bryce’ Haarspitzen. Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. Es könnte zwar hilfreich sein, Assistent Geoff ein wenig herauszufordern, aber es war wenig hilfreich, wenn er so verärgert war, dass er Michael hinauswarf.

Nach einem angespannten Moment entschloss sich Geoffrey, Michael und Bryce zu ignorieren, und begann mit seiner Show.

»Willkommen beim Kurs Monster oder Menschen? Die Psychologie des Serienmörders .« Geoffreys Stimme hallte durch den Vorlesungssaal, und ich konnte fast den Mann hören, den er imitierte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, während er über die Bühne ging und die Präsentation abspielte.

Eine Leiche.

Zoom auf die Leiche.

Und noch näher auf die Leiche.

Die Bilder zogen in schneller Abfolge über die Leinwand.

»Die Menschen definieren Menschlichkeit nach ihren Errungenschaften, nach den Mutter Teresas, den Einsteins und den Alltagsmenschen, die auf ihre Art tausendmal am Tag den Helden spielen. Wenn eine Tragödie eintrifft, wenn jemand etwas so Entsetzliches tut, dass wir es nicht fassen können, dann geben wir vor, diese Person sei nicht menschlich. Als gäbe es keine Verbindung zwischen ihnen und uns, als wäre nicht der Alltagsmensch ebenfalls jeden Tag auf tausend kleine Arten ein Schuft. Es gibt einen Grund, warum wir bei einem Zugunglück nicht wegsehen können, warum wir die Nachrichten ansehen, wenn eine Leiche gezeigt wird, warum die berüchtigtsten Serienkiller der Welt jedes Jahr Hunderttausende von Briefen bekommen.«

Geoffrey las die Worte ab. So gut er sie auch vortrug, war doch nicht er derjenige gewesen, der diese Rede geschrieben hatte. Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Mann zu, der es getan hatte. Indem ich Geoffrey zuhörte, wie er seine Worte nachahmte, erkannte ich, dass Professor Fogle eine Koryphäe war. Der Größe des Hörsaals nach zu urteilen war sein Kurs beliebt. Er war ein Geschichtenerzähler. Und er war von seinem Thema fasziniert – und er glaubte, dass der Rest der Welt seine Faszination teilte.

»Der Philosoph Friedrich Nietzsche sagte, dass jemand, der Ungeheuer bekämpft, selbst zu einem werden muss. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Geoffrey hielt bei einem Bild inne, das aus vielen kleinen Bildern bestand – nicht von Leichen, sondern von Menschen. Einige von ihnen erkannte ich – sie zierten bei uns zu Hause die Wände und lächelten uns aus ihren Rahmen an, als ständige Erinnerung daran, dass jeder das Monster sein konnte, das wir jagten. Der Nachbar. Der Vater. Ein Freund.

Eine Tante.

»Charles Manson, John Wayne Gacy, Son of Sam.« Geoffrey machte eine Kunstpause. »Ted Bundy. Jeffrey Dahmer. Diese Namen bedeuten etwas für uns. In diesem Semester werden wir uns mit ihnen allen befassen, doch anfangen werden wir mit jemandem aus unserer näheren Umgebung.«

Die anderen Bilder verschwanden und wurden durch das eines Mannes mit dunkelbraunem Haar und ebenso braunen Augen ersetzt. Er sah normal aus. Unauffällig. Harmlos.

»Daniel Redding«, erklärte Geoffrey. Ich starrte das Bild an und versuchte, eine Ähnlichkeit mit dem Jungen zu finden, den ich kannte. »Ich habe den Fall Redding vier Jahre lang studiert.«

»Und mit ich meint er den Professor«, hörte ich Bryce Michael laut zuflüstern. Geoffrey mit G ignorierte sie.

»Redding ist für mindestens ein Dutzend Morde im Laufe von fünf Jahren verantwortlich. Es begann damit, dass seine Frau ihn verließ, ein paar Tage vor seinem neunundzwanzigsten Geburtstag. Die Leichen wurden nach seiner Verhaftung während einer dreitägigen Ausgrabung auf Reddings Farm entdeckt. Drei weitere Opfer, die zu seinem M. O. passen, wurden jenseits der Staatsgrenzen gefunden.«

Auf der Leinwand tauchte ein Tatortfoto auf. Eine Frau, die schon längere Zeit tot war, hing von einem Deckenventilator. Ich erkannte das Seil – schwarzes Nylon. Ihre Arme waren ihr auf den Rücken gebunden und ihre Beine gefesselt. Der Boden unter ihr war blutgetränkt. Ihre Bluse war zerrissen, und darunter sah ich die Schnitte – manche lang und tief, einige flach, einige kurz. Doch was meinen Blick am meisten anzog, war das Brandmal auf ihrer Schulter, kurz unter dem Schlüsselbein.

Die Haut war heftig gerötet: verbrannt, blasig und zur Form eines R geschwollen.

Das hatte Deans Vater diesen Frauen angetan. Und dabei hatte er Dean zusehen lassen.

»Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen.« Geoffrey zeigte eine Reihe von Vergrößerungen der Frauenleiche. »Das war Reddings M. O., sein Modus Operandi.«

Als ich hörte, wie Geoffrey die technischen Begriffe verwendete, hätte ich ihn am liebsten geschlagen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wovon er redete. Für ihn waren das nur Bilder. Er wusste nicht, wie es war, herauszufinden, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da war, oder wie es war, sich in die Lage eines Killers zu versetzen. Er war nur ein kleiner Junge, der mit etwas spielte, wovon er null verstand.

»Zufälligerweise ist das auch der Titel von Professor Fogles Buch.«

»Er schreibt ein Buch?«, fragte ich.

»Über den Fall Daniel Redding«, antwortete Geoffrey. Offensichtlich wollte er sich nicht das Rampenlicht stehlen lassen. »Ihr seht also, warum er bei Emersons Mord zu den Verdächtigen zählt. Sie war gebrandmarkt, müsst ihr wissen.«

»Du hast gesagt, dass sie in deinem Kurs war. Du kanntest sie.« Meine Stimme war tonlos. Die Tatsache, dass Geoffrey so leichtfertig über den Mord an einem Mädchen sprechen konnte, das er kannte, ließ mich meine frühere Analyse überdenken – vielleicht war er doch zu einem Mord fähig.

Geoffrey sah mich an. »Die Menschen trauern auf unterschiedliche Weise.«

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber er schien den leisen Anflug eines Lächelns zu zeigen.

»Sie war in meiner Arbeitsgruppe«, informierte mich Bryce. »Für unser Endsemesterprojekt. Der Professor hat die Gruppen eingeteilt. Emerson war … nett. Ein bisschen keck sogar. Mal ehrlich, wer ist denn keck in einem Kurs über Serienmörder? Aber Emerson war so. Sie war zu allen nett. Einer der Jungs in unserer Gruppe … ihr solltet ihn mal sehen, er ist wie eine Kellerassel. Sobald man ihn anspricht, rollt er sich zu einer Kugel zusammen. Und Derek – der andere Typ in unserer Gruppe –, das ist einer von diesen Kerlen, ihr wisst schon. So ein ekliger Typ, der so tut, als wolle er sich eigentlich gar nicht als Supertyp aufspielen. So einer ist Derek. Aber Emerson schaffte es tatsächlich, ihn bloß durch ein Lächeln zum Schweigen zu bringen.«

Bryce klang weit weniger sachlich als Geoffrey. Was Emerson geschehen war, hatte sie zutiefst aufgewühlt. Für sie war das nicht nur eine Vorstellung. Sie lehnte sich zu Michael.

»Emerson tauchte nicht zur Prüfung auf.« Geoffrey klappte den Laptop zu. »Professor Fogle hatte sich krankgemeldet. Ich hatte die Tests am Morgen ausgedruckt, einen für jeden Teilnehmer des Kurses. Emerson war die Einzige, die nicht aufgetaucht ist. Ich dachte, sie wäre …« Geoff brach ab. »Ist auch egal.«

»Du dachtest, sie wäre was?«, fragte Michael.

Geoffrey runzelte die Stirn. »Was spielt das für eine Rolle?«

Es spielte eine Rolle, doch bevor ich eine rationale Erklärung dafür finden konnte, warum ich es wissen wollte, summte Michaels Telefon. Er las die Nachricht darauf und stand dann auf.

»Tut mir leid, Bryce«, sagte er. »Ich muss gehen.«

Bryce zuckte mit den Schultern. Sie würde ihm wohl nicht lange nachtrauern. Michael ging zur Tür und sah mich im Vorbeigehen an.

Lia , sagte er lautlos.

»Ich muss dann auch gehen«, erklärte ich. »Das war … intensiv.«

»Du willst schon gehen?« Geoffrey klang ehrlich überrascht. Wahnsinn, offenbar hatte er den Eindruck gehabt, er hätte mich am Haken. Ein totes Mädchen, eine irre Vorlesung. Sinnliche Blicke. Anscheinend war das seine Vorstellung von einem romantischen Date.

»Wie wär’s«, meinte ich und widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen, »wenn du mir deine Telefonnummer gibst?«