Kapitel 16

L ias Nachricht führte uns nicht wieder zur Party zurück. Offensichtlich war sie nicht ganz so vorsichtig gewesen wie ich, als sie mit ihrem Opfer allein loszog.

»Was genau hat Lia gesagt?«, fragte ich Michael.

Er hielt sein Telefon hoch, damit ich es sehen konnte. Es zeigte ein etwas schräg aufgenommenes Bild von Lia mit zwei Studenten: Es war ein wenig unscharf; man konnte nur erkennen, dass einer groß und der andere etwas rundlich war.

Habe gerade eine faszinierende Unterhaltung , las ich den Text dazu. Heron Hall, Dach.

»Was macht sie denn auf irgendeinem Dach?«

»Verdächtige befragen, die gar nicht wissen, dass sie befragt werden?«, vermutete Michael ein wenig ungehalten.

»Besteht die Möglichkeit, dass die Typen auf dem Bild keine Verdächtigen sind?« Ich wollte gerne glauben, dass sie nicht allein mit jemandem von der Party verschwinden würde, dem sie einen Mord zutraute. »Vielleicht sind es nur Freunde von Emerson.«

»Sie hat ein Bild geschickt«, sagte Michael schlicht.

Für den Fall, dass ihr etwas passiert , ergänzte ich in Gedanken. Lia hatte uns ein Bild der Kerle geschickt, mit denen sie redete, für den Fall, dass sie fort war, wenn wir das Dach der Heron Hall erreichten.

Wir hätten sie auf der Party nicht allein lassen dürfen. Ich hatte Lia nicht einmal gesagt, dass ich mit Geoffrey weggehe – so sehr war ich darauf aus gewesen, ihm Informationen zu entlocken.

Lia vermittelte zwar den starken Eindruck, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte, doch Lia konnte jeden beliebigen Eindruck erwecken.

Dean hätte sie nicht allein gelassen, dachte ich unwillkürlich. Deshalb war er auch der einzige Mensch, für den sie durchs Feuer gehen würde. Michael und ich würden nie auf dieses Level kommen.

Ich ging schneller.

»Sie wird uns nur auslachen, wenn wir uns Sorgen machen«, meinte Michael mehr zu sich selbst als zu mir. »Entweder das oder sie empfindet es als persönliche Beleidigung.«

Er ging ebenfalls schneller. Bei jedem Schritt malte ich mir aus, wie schlimm es werden konnte.

Lia gehörte zu uns. Es musste alles in Ordnung sein. Das musste es einfach. Bitte lass alles in Ordnung sein. Endlich gelangten wir zur Heron Hall. Das turmartige Gebäude war im neogotischen Stil errichtet – und offensichtlich so spät am Abend geschlossen und verriegelt.

Unbefugtes Betreten verboten.

Michael sah das Schild nur kurz an.

»Soll ich zuerst oder willst du?«

•••

Noch bevor ich Lia sah, hörte ich sie lachen. Es war ein fast glockenhelles Lachen, musikalisch und fröhlich – und mit ziemlicher Sicherheit falsch.

»Nach dir.«

Michael hielt mir die Tür zum Dach auf. Langsam entspannte ich mich ein wenig, als ich auf das mondbeschienene Dach trat und es nach Lia absuchte. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass sie unversehrt war, registrierte ich die Tatsache, dass sich ihr exklusiver Geschmack, was Kleidung anging, auch auf ihre Rendezvousorte erstreckte. Nicht nur ein Turm, nicht nur ein verschlossener Turm, nein, das Dach eines verschlossenen Turmes! Von hier aus konnten wir den ganzen Campus unter uns ausgebreitet sehen, dessen Lichter im Dunkeln funkelten.

Lia sah uns von der anderen Seite des Daches aus. Die Typen auf dem Foto waren noch bei ihr.

»Da seid ihr ja«, begrüßte sie uns und kam in einer Schlangenlinie auf uns zu, die mich schon auf festem Boden nervös gemacht hätte.

»Keine Sorge«, flüsterte Lia und umarmte mich wie eine fröhliche Betrunkene. »Ich bin topfit. Seit wir gekommen sind, habe ich nur Gatorade getrunken, sonst nichts. Und falls jemand fragt, heiße ich Sadie.«

Lia wandte sich wieder zu den Studenten. Ich folgte ihr und musste daran denken, dass Sadie Lias richtiger Name war.

Keiner von uns wusste, warum sie ihn geändert hatte.

Typisch Lia, ihren eigentlichen Namen als Alias zu benutzen.

»Derek, Clark, das sind …« Lia hickste, und Michael begriff den Hinweis, mit der Vorstellung fortzufahren.

»Tanner«, sagte er und streckte den beiden die Hand hin. »Und das ist Veronica.«

Der Typ links war groß und elegant, mit Politikerfrisur und klassisch schönen Gesichtszügen. Womöglich ließ er gleich seine Brustmuskeln spielen. »Ich bin Derek«, sagte er und ergriff meine Hand.

Er lässt sie wirklich spielen , stellte ich fest.

Derek stieß den Jungen zu seiner Rechten heftig genug mit dem Ellbogen an, dass dieser stolperte. Als er sich gefangen hatte, streckte er die Hand aus.

»Clark«, murmelte er.

»Hört sich an wie eine Ente«, fand Derek. »Clark, clark, clark!«

Ich ignorierte Derek und konzentrierte mich auf Clark. Sein Händedruck war überraschend fest, obwohl seine Hände selbst weich waren. Weich war überhaupt das Adjektiv, das ihn am besten beschrieb. Er war klein und rundlich und sah aus, als hätte man ihn aus Ton geformt, der nie ganz fest geworden war. Seine Haut war fleckig, und er brauchte mehrere Sekunden, bevor er mir in die Augen sah. Plötzlich machte es bei mir klick.

»Derek«, wiederholte ich, »und Clark.«

Hatte Bryce nicht gesagt, dass einer der Jungen, mit dem sie an dem Projekt für Monster oder Menschen? arbeiten sollte, Derek hieß? Und der andere erinnerte an eine Kellerassel …

Wie um alles in der Welt hatte Lia das hinbekommen? Sie sah mich verschmitzt an, und ich merkte, dass ich sie unterschätzt hatte. Das hätte ich nicht tun sollen – nicht, wenn es bei alldem um Dean ging.

»Ausgezeichnetes Gedächtnis«, sagte Derek mit einem Lächeln, das er wahrscheinlich vor dem Spiegel übte. »Ruft die Leute vom Hochbegabtenklub an, das Mädchen ist ein Genie!«

Ganz klar, er ging nicht davon aus, dass ich die Beleidigung erkannte. Das sagte mir sein herablassender Tonfall. Plötzlich wusste ich genau, was Bryce gemeint hatte, als sie ihn »so einen ekligen Kerl« genannt hatte. Er kam mit Sicherheit aus einer wohlhabenden Familie – ich würde auf eine lange Reihe erfolgreicher Anwälte tippen, wahrscheinlich mit einem Stammbaum in der Ivy League. Er liebte den Klang seiner eigenen Stimme noch mehr als Geoffrey und war der Typ, der in der Klasse eine Diskussion nur darum führte, weil er zeigen wollte, dass er der Bessere war. Und außerdem bleichte er wahrscheinlich seine Zähne.

»Clark und Derek haben dieses Mädchen gekannt«, brachte Lia leicht verschwommen hervor. »Ich habe Derek auf der Party getroffen. Er hat Clark gerufen. Ich habe ihn darum gebeten.« Sie lehnte sich an Dereks Brust und streckte die Hand nach Clarks Wange aus, woraufhin dieser knallrot wurde. Derek nickte mir über Lias Kopf hinweg zu, als sei für ihn glasklar, dass auch ich mich an ihn schmiegen wollte.

Zur Hölle, dieses Kleid würde ich garantiert nie wieder anziehen!

»Was für ein Mädchen?«, fragte ich.

»Das Mädchen, das getötet wurde«, antwortete Derek. »Emmie.«

»Emerson«, murmelte Clark.

»Wie war das, Clark?«, fragte Derek und grinste uns andere an, als wäre Clarks Unfähigkeit, sich auszudrücken, der beste Witz der Welt.

»Ihr Name war Emerson«, sagte Clark und wurde noch röter als zuvor.

»Genau das habe ich doch gesagt.« Derek hob eine Handfläche in einer Geste, als wolle er sagen: He, was hat der Typ für ein Problem? Was will er eigentlich von mir?

Clark murmelte nur leise etwas, das Derek ignorierte. »Sie war in unserem Kurs«, erklärte mir Derek stattdessen.

»Ich glaube, ich habe heute Abend den Kursassistenten kennengelernt«, verkündete ich und wartete ihre Reaktion darauf ab. Derek erstarrte, während Clark sich gar nicht rührte. Ich konnte förmlich spüren, wie Michael neben mir jeden ihrer Gesichtszüge katalogisierte.

»Der Typ ist ein Idiot«, erklärte Derek.

Wer im Glashaus sitzt, sollte besser nicht mit Steinen werfen.

»Geoffrey scheint irgendwie auf den Tod abzufahren«, erzählte ich. »Aber so richtig. Und wie er über Emerson geredet hat – als ob ihm das völlig gleichgültig sei.«

Derek zuzustimmen war so, als ob man Wasser in brennendes Öl goss. Es machte die Situation nur noch schlimmer.

»Assistent Geoff glaubt, Stirnrunzeln und schwarze Kleidung seien ein Ersatz für wahre Intelligenz. Ich wette, er hat dir erzählt, er hätte Emerson gekannt.«

Ich nickte, weil ich sehen wollte, wohin das führte.

»Er kannte sie nicht«, fuhr Derek fort. »Er sitzt nur vorne vor den Studierenden und wertet die Papiere aus. Clark und ich, wir haben sie wirklich gekannt.« Er verlagerte sein Gewicht auf die Hacken. »Und diese eingebildete Blondine in unserer Projektgruppe, die kannte sie auch. Selbst Fogle kannte sie. Aber Assistent Geoff – der tut nur so, um sich aufzuspielen.«

»Was soll das heißen, Fogle kannte sie?«, wollte Michael wissen. »Ist das nicht ein ziemlich großer Kurs?«

Derek wandte seine Aufmerksamkeit Michael zu, und das, was er in Michael sah, schien ihm zu gefallen. Michael war früher wahrscheinlich vielen solchen Typen wie Derek begegnet.

»Wenn ich sage, dass der Professor Emmie kannte, dann meine ich, dass er sie wirklich kannte«, erklärte Derek. »Im biblischen Sinne, wenn ihr versteht, was ich meine?«

Ich sah Lia an, die ganz leicht nickte. Derek sagte die Wahrheit. Clark hingegen wurde wieder rot.

»Das tote Mädchen hatte also etwas mit dem Professor«, meinte Michael. »Wegen so was kann man aber gefeuert werden.«

»Und das macht ihn gleich zum Verdächtigen, schon klar«, höhnte Derek. »Warum sagst du nicht gleich, dass er es war?« Er lachte leise. »Erst hat er es ihr besorgt, dann hat er sie entsorgt.«

»Halt die Klappe!«, fuhr Clark plötzlich auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon du redest.« Er keuchte, als wäre er gerade eine Meile gelaufen. »Sie war nicht … sie war nicht so eine.«

»Alter!« Dieses Mal hob Derek beide Handflächen hoch. Ich machte mir nicht die Mühe, die Geste zu interpretieren. »Krieg dich wieder ein, ja? Ich hab’s schon kapiert. Über Tote redet man nicht schlecht.« Dann wandte er sich wieder an uns andere und beglückte uns weiter mit seiner Weisheit. »Ich verspreche euch, wenn die Polizei Fogle findet, wird die Uni nach einem Ersatz für unseren Kurs suchen. Der Typ ist schuldig.« Plötzlich wurde er ganz bleich. »Ich hoffe, sie übertragen die Kursleitung dann nicht Geoff.«

Clark holte erneut hörbar Luft. Lia warf erst mir einen Blick zu, dann Michael. Wir hatten erreicht, was wir mit dem Auftauchen bei dieser Party hatten erreichen wollen – und mehr.