Kapitel 17

W ieder im Auto sagte erst mal keiner von uns ein Wort. Lia saß auf dem Rücksitz und hatte die Beine auf der Bank ausgestreckt. Michael fuhr, so schnell er durfte. Ich starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

»Das ging ja besser, als ich erwartet habe«, meinte Lia schließlich. »Wenn wir uns wieder ins Haus schleichen können, ohne erwischt zu werden, würde ich es als gelungene Aktion betrachten.«

»Ich dachte, du wirst nie geschnappt«, erinnerte ich sie und riss mich vom Fenster los, um sie anzusehen.

Lia betrachtete ihre Fingernägel. »Wir wohnen in einem Haus mit einer ausgebildeten FBI-Agentin und einem früheren Scharfschützen des Militärs. Ich bin leise, nicht unsichtbar. Nennen wir es ein akzeptables Risiko.«

So viel dazu. Als sie mich überredet hatte mitzumachen, klang das noch ganz anders.

»Und? Ärgerst du dich jetzt, dass du mitgekommen bist?«, fragte mich Lia. »Oder würdest du es noch mal machen, wenn du die Gelegenheit hättest?«

Ich konnte mich nicht darüber ärgern, dass ich mitgemacht hatte. Dazu hatten wir zu viel erfahren.

»Was hältst du von dem Assistenten?«, fragte ich Michael.

»Genau«, bekräftigte Lia und gähnte, »erzähl mal, Michael. Was hältst du von dem Assistenten, der eine so heiße Spur war, dass Cassie mit ihm die Party verließ und du ihnen hinterher bist?«

Es war das erste Mal, dass Lia die Tatsache erwähnte, dass wir sie allein gelassen hatten. Und sie brachte die Worte hervor, als sei ihr das völlig gleichgültig.

»Der Kerl hat Cassie angesehen wie ein Objekt unter Glas«, sagte Michael und suchte Lias Blick im Rückspiegel. »Meinst du wirklich, ich hätte sie mit ihm allein abziehen lassen sollen?«

»Ich bin nur überrascht, das ist alles«, erwiderte Lia mit übertriebenem Schulterzucken. »Ich meine, das letzte Mal, als du Cassie gefolgt bist, ging es ja richtig gut für dich aus.«

Das letzte Mal, als Michael mir gefolgt war, war er angeschossen worden.

Das hatte ich verdient. Dafür, dass ich sie auf der Party gelassen hatte, dass ich nicht einmal darüber nachgedacht hatte, verdiente ich alle verbalen Pfeile, die sie auf mich abschoss.

»Wir hätten dich nicht dort lassen sollen«, gab ich zu.

»Oh bitte!« Lia schloss die Augen, als würde sie das Gespräch zu Tode langweilen. »Ich kann schon auf mich aufpassen, Cassie. Ich habe gesehen, wie du gegangen bist. Ich hätte mitkommen können. Aber ich habe es vorgezogen, es nicht zu tun. Und hätte sich Michael die Mühe gemacht zu fragen, hätte ich ihm gesagt, er solle dir nachgehen.«

»Ich habe dir gesagt, du sollst auf der Party bleiben«, brummte Michael.

»Wie bitte?«, gab Lia zurück. »Wie war das?«

»Ich habe dir eine SMS geschickt, als ich gegangen bin. Du solltest auf der Party bleiben!« Michael schlug so heftig mit dem Handballen aufs Lenkrad, dass ich zusammenzuckte. »Aber du bist nicht nur mit einem abgezogen, sondern gleich mit zwei völlig fremden …«

»Zeugen?«, ergänzte Lia. »Glaub mir, das hatte ich im Griff. Mit den Dereks und Clarks dieser Welt werde ich im Schlaf fertig.«

Noch vor einer Woche hätte ich diese Worte nicht so verstanden wie jetzt. Aber jetzt wusste ich, dass Lia mit Sicherheit mit den Dereks und Clarks dieser Welt fertigwurde – weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach selbst mit viel, viel Schlimmerem hatte fertigwerden müssen.

»Also, liebster Michael«, fuhr Lia betont höflich fort, »konzentrier dich. Der Assistent. Was hattest du für einen Eindruck von dem Typen?«

Michael knirschte einen Augenblick lang mit den Zähnen, doch dann antwortete er: »Er war nicht sehr froh darüber, dass ich aufgetaucht bin. Und noch weniger erfreut, dass ich mit Bryce aufkreuzte. Ich habe Schuldgefühle in ihm aufblitzen sehen, als er sie erblickte, dann Besitzzwang, Herablassung und einen gewissen Kitzel.«

Ich schickte ein kurzes Dankgebet zum Himmel, dass sich Michael auf Geoffreys Gefühle konzentriert hatte, als er ihn mit Bryce gesehen hatte, und nicht auf meine.

»Geoffrey glaubt, dass er weit über allen anderen steht.« Ich zwang mich, mich auf unser Thema zu konzentrieren. »Er genießt seine Machtposition im Hörsaal.« Ich hielt inne und sortierte meine Eindrücke von ihm. »Er hat mich gewählt, weil ich jung aussehe. Er hat erwartet, dass ich gierig jedes seiner Worte aufsauge, ein klein wenig Angst vor ihm habe, es aber auch toll finde, was er mir beibringen könnte.«

»Ein Anführer auf der Suche nach Anhängern?«, fragte Lia. »Was ist dann der Professor?«

»Wenn ich raten müsste«, begann ich und trommelte mit den Fingern nachdenklich gegen meinen Sitz, »dann würde ich sagen, dass Professor Fogle eine anziehende Persönlichkeit ist. Geoffrey hat seinen Bildervortrag vorgelesen. Der Professor ist ein Darsteller. Und wenn Derek über Emersons Beziehung zu Professor Fogle die Wahrheit gesagt hat …«

»Hat er«, warf Lia ein.

»… dann ist der gute Professor kein Verächter von Groupies«, fuhr ich fort. »Das gehört zu dem, was ihn an diesem Studiengebiet interessiert. Es ist der Titel seines Kurses. Diese Männer sind überlebensgroß. Sie sind Legenden. Sie sind das Zugunglück, das wir ansehen müssen, das verbotene, gefährliche andere.«

Michael akzeptierte meine Einschätzung widerspruchslos. »Ich müsste den Mann sehen, um etwas über ihn sagen zu können«, erklärte er. Das war einer der wichtigsten Unterschiede zwischen meiner und Michaels Fähigkeit. Michael interpretierte Menschen vor allem anhand ihrer Gesichtszüge, ich Persönlichkeiten und Verhaltensweisen, und dazu musste der Betreffende nicht unbedingt anwesend sein. »Aber ich kann sagen, dass Assistent Geoff ein wenig zu gerne über Reddings M. O. gesprochen hat. Er wollte den Ausdruck des Entsetzens auf Cassies Gesicht sehen, und als er das nicht bekam, lenkte er das Thema auf Emerson.«

»Und was hat dir sein Gesichtsausdruck über Emerson gesagt?«, fragte Lia.

»Dass er keine Schuldgefühle hat«, erwiderte Michael. »Nicht einmal um sie trauert. Ein klein wenig fürchtet er sich allerdings. Aber er ist zufrieden. Und loyal.«

»Loyal?«, hakte ich nach. »Wem gegenüber?«

»Ich sage es ja nur ungern«, seufzte Lia, »aber vielleicht hatte Derek ja recht. Vielleicht ist der Professor unser Mann. Während ich mich mit dem dynamischen Duo aus dem Geschenk Gottes an die Menschheit und dem Errötungswunder unterhalten habe, habe ich nur eine interessante Lüge entdecken können.«

»Von Derek?«, vermutete ich.

»Clark.« In Michaels Stimme lag keinerlei Zweifel. »Als er über Emerson sprach.«

»Ein Punkt an den Emotionsleser«, meinte Lia gedehnt. Ihre Gaben überschnitten sich mehr miteinander als mit meiner. »Als Clark gesagt hat, Emerson wäre nicht so eine.« Sie zwirbelte sich den Pferdeschwanz um den Zeigefinger. »Wenn ihr mich fragt, wusste Clark, dass sie sich mit dem Gruselprofessor in die Horizontale begeben hatte.«

»Was hast du gesehen?«, wollte ich von Michael wissen.

»Bei Clark?« Michael bog von der Autobahn ab. Bald waren wir zu Hause. »Ich habe Sehnsucht gesehen. Angst vor Ablehnung.« Er sah kurz zu mir hinüber. »Wut.«

Nicht nur Ärger, sondern Wut. Auf Derek, weil der schlecht über ein Mädchen gesprochen hatte, das Clark mochte? Auf uns, weil wir Fragen stellten? Auf den Professor? Auf Emerson?

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich. »Vorausgesetzt, wir werden nicht geschnappt, sobald wir zu Hause auftauchen.«

»Wir müssen herausfinden, was das FBI über Emersons Beziehung zum Professor weiß«, antwortete Lia und warf ihre Haare wieder über die Schulter. »Wenn sie es nicht wissen, müssen wir einen Weg finden, ihnen diese Information zukommen zu lassen.«

»Und was ist mit Dean?«, wollte ich wissen.

»Dean sagen wir nichts.« Obwohl Lia leise sprach, klangen ihre Worte wie ein Peitschenknall. »Für ihn ist es wichtig, dass dieser Fall gelöst wird. Er muss nicht wissen, was wir dafür tun.«

Dean würde nicht verstehen, warum wir für ihn so viel aufs Spiel setzten, denn tief im Inneren glaubte er, dass er es gar nicht verdient hatte, gerettet zu werden. Er hätte sich für jeden von uns eine Kugel eingefangen, aber er wollte nicht, dass wir etwas für ihn riskierten.

Die meisten Leute errichteten Mauern um sich herum, um sich zu schützen. Dean tat es, um alle anderen zu schützen.

Zur Abwechslung waren Lia und ich uns einmal vollkommen einig.

»Wir sagen Dean nichts.«