Kapitel 18

A bweichendes Verhalten, kriminelle Energie: Eine Einführung in die Kriminalpsychologie, 8. Ausgabe.

Mit Ringen unter den Augen und nur halb wach sah ich von dem Buch auf dem Küchentisch zu Dean auf und wieder zurück. »Im Ernst?«, fragte ich. »Agent Mullins will, dass wir eine Einführung lesen?«

Nach der letzten Nacht mit Lia und Michael brummte mir der Schädel, und mein ganzer Körper verlangte danach, wieder ins Bett zu gehen.

Dean zuckte mit den Schultern. »Wir sollen die Kapitel eins bis vier lesen«, sagte er, bevor er mich eingehend musterte. »Geht es dir gut?«

Nein, dachte ich. Ich leide unter Schlafmangel und kann dir nicht sagen, warum.

»Ja«, antwortete ich. Ich spürte, wie Dean versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, weshalb ich heute Morgen so komisch drauf war. »Ich kann nur nicht glauben, dass Agent Mullins’ Vorstellung von Unterricht … das hier ist«, fügte ich hinzu und deutete auf das Lehrbuch. Seit ich der Akademie beigetreten war, hatte ich das Prinzip Learning by Doing verfolgt. An echten Fällen. Echten Tatortfotos. Echten Opfern.

Und jetzt dieses Lehrbuch? Bryce, Derek und Clark hatten wahrscheinlich auch so eines gelesen. Vielleicht gab es sogar kleine Arbeitsblätter dazu.

»Vielleicht ist es Zeitverschwendung«, meinte Dean, der meinen Gedanken zu erraten schien. »Aber im Augenblick würde ich lieber meine Zeit verschwenden als Mullins’.« Weil Agent Mullins Emersons Killer jagte.

Ich nahm ihm das Lehrbuch weg und schlug Kapitel eins auf. »Kriminalpsychologie ist die Kategorie der Psychologie, die die Persönlichkeiten, Motive und kognitiven Strukturen untersucht, die mit abweichendem Verhalten einhergehen«, las ich vor, »besonders in Fällen, in denen andere mental oder physisch zu Schaden kommen.«

Dean starrte auf die Seite. Das Haar fiel ihm ins Gesicht. Ich las weiter und verfiel bald in einen Rhythmus, in dem meine Stimme das einzige Geräusch im Raum war.

•••

»Kapitel vier: Organisierte und unorganisierte Straftäter.«

Dean und ich hatten eine ausgedehnte Mittagspause gemacht, dennoch wurde ich langsam heiser.

»Ich bin dran«, sagte Dean und nahm mir das Buch weg. »Wenn du noch ein Kapitel liest, wirst du das Ende pantomimisch darstellen müssen.«

»Das könnte hässlich werden«, erwiderte ich. »Ich war nie gut in Scharaden.«

»Wieso habe ich das Gefühl, dass dahinter eine Geschichte steckt?« Dean grinste fast.

Ich schauderte. »Oh, lass mich lieber nicht daran denken. Unsere Familienspielabende waren immer ziemlich wettkampfmäßig angelegt. Und im Malunterricht habe ich auch jedes Mal versagt. Im Ernst, mehr willst du nicht wissen.«

»Also ich empfinde das nicht gerade als Charakterschwäche«, fand Dean und lehnte sich zurück. Zum ersten Mal, seit wir das Video von der Leiche gesehen hatten, wirkte er geradezu entspannt. Seine Arme hingen lose an seinem Körper herunter und seine Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Das Haar fiel ihm immer noch ins Gesicht, aber Schultern und Hals waren nur kaum merklich angespannt.

»Hat hier jemand von Charakterschwäche gesprochen?«, fragte Michael, der gerade in den Raum schlenderte. »Ich dachte, das sei einer meiner Vornamen.«

Ich sah wieder in das Lehrbuch und versuchte, so zu tun, als hätte ich nicht gerade Dean angestarrt.

»Einer deiner Vornamen?«, erkundigte ich mich.

Michael legte den Kopf schief. »Michael Alexander Thomas Charakterschwäche Townsend.« Er lächelte mich träge an. »Klingt doch imposant, oder?«

»Wir arbeiten«, sagte Dean nur.

»Achtet gar nicht auf mich«, meinte Michael und wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich will mir nur ein Sandwich machen.«

Michael tat nie »nur« irgendwas. Vielleicht wollte er ein Sandwich, aber er freute sich auch, dass er Dean ärgern konnte. Und er will nicht, dass wir beide hier allein sind, dachte ich.

»Also«, sagte ich, wandte mich wieder an Dean und versuchte, so zu tun, als sei das Ganze nicht peinlich. »Kapitel vier. Willst du weiterlesen?«

Dean sah zu Michael hinüber, der die Situation sichtlich zu genießen schien.

»Und was ist, wenn wir es nicht lesen?«, fragte er mich.

»Aber es ist unsere Hausaufgabe!«, gab ich mit schockiertem Ausdruck zurück.

»Ja, ich weiß – ich habe dich nämlich dazu überredet, es überhaupt zu lesen.« Dean ließ den Finger über den Buchrücken gleiten. »Aber ich kann dir schon sagen, was drinsteht.«

Dean war seit fünf Jahren hier und dieses Lehrbuch war Profiling für Anfänger.

»Okay«, sagte ich. »Dann gib mir doch die Kurzversion. Erklär es mir.«

Früher einmal hätte Dean sich geweigert.

»Na gut«, sagte er jetzt und sah mich über den Tisch hinweg an. »Unorganisierte Verbrecher sind Einzelgänger. Sie passen nirgendwo richtig hin. Geringe soziale Fähigkeiten, viel aufgestauter Ärger.«

Beim Wort Ärger sah ich unwillkürlich zu Michael hinüber. Passt nie irgendwo richtig hin. Geringe soziale Fähigkeiten. Michaels Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich nicht die Einzige war, die fand, dass sich das wie eine perfekte Beschreibung von Clark anhörte.

Dean hielt inne. Ich zwang mich, Dean anzusehen, und wünschte mir, er würde nicht allzu viel darüber nachdenken, warum ein paar Worte über einen unorganisierten Killer zu einem wortlosen Austausch zwischen Michael und mir geführt hatten.

»Im täglichen Leben werden unorganisierte Killer allgemein als unsozial und unbeholfen angesehen«, fuhr Dean nach einer längeren Pause fort. »Die Menschen mögen sie nicht, aber sie haben auch keine Angst vor ihnen. Wenn der unorganisierte Killer einen Job hat, dann ist er wahrscheinlich unterbezahlt und nicht sehr angesehen. Unorganisierte Killer verhalten sich auch als Erwachsene noch wie Kinder. Statistisch gesehen ist es wahrscheinlich, dass sie noch bei einem oder beiden Elternteilen wohnen.«

»Und was ist dann der Unterschied zwischen einem unorganisierten Killer und einem Loser?«, wollte Michael wissen, der nicht einmal so tat, als würde er nicht lauschen.

»Wenn du so wärst wie Cassie und ich«, sagte Dean und erwiderte Michaels Blick fest, »dann müsstest du das nicht fragen.«

Eine tödliche Stille entstand.

Dean hatte noch nie zugegeben, dass wir beide gleich waren. Er hatte es nie geglaubt. Und es schon gar nicht Michael gegenüber geäußert.

»Tatsächlich?« Michael runzelte die Stirn, was in starkem Kontrast zu dem unveränderten Lächeln in seinem Gesicht stand. Ich senkte den Blick auf den Tisch. Michael brauchte meinen Gesichtsausdruck nicht zu sehen – denn der sagte, dass Dean recht hatte. Die Killer-Loser-Frage, die er gerade gestellt hatte, musste ich gar nicht stellen, weil ich die Antwort instinktiv wusste. Asozial, wütend und unbeholfen zu sein machte noch niemanden zum Killer. Solche Merkmale konnten uns nicht sagen, ob Clark ein Gewaltpotenzial in sich trug oder wie groß es war. Das Einzige, was uns diese Merkmale sagten, war, was für eine Art von Killer Clark werden würde , falls er diese Grenze je überschreiten würde.

Wenn Clark ein Killer wäre, dann wäre er ein unorganisierter Killer.

»Organisierte Mörder können sehr charmant sein.« Dean wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Sie wissen sich auszudrücken, sind selbstsicher und fühlen sich in den meisten gesellschaftlichen Situationen wohl.« Sein Haar fiel ihm ins Gesicht, doch er wandte den Blick nicht von mir ab. »Sie sind intelligent, aber narzisstisch. Möglicherweise können sie keine Furcht empfinden.«

Ich dachte an Geoffrey mit G, der mir einen Vortrag über die Bedeutung des Modus Operandi gehalten und ohne eine Spur von Bedauern Emerson erwähnt hatte.

»Andere Menschen findet der organisierte Mörder nicht seiner Zuneigung wert, weil sie unter ihm stehen. Für ihn bedeutet, durchschnittlich zu sein, entbehrlich zu sein.« Ich prägte mir Deans Worte gut ein.

»Was bedeutet schon ein Menschenleben, wenn die Welt so voll davon ist?« Deans Stimme wurde tonlos, als er das sagte. Daraus schloss ich, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. »Organisierte Mörder fühlen keine Reue.«

Deans Vater war ein organisierter Killer, dachte ich, streckte die Hand aus und legte sie über Deans. Er senkte den Kopf und sprach weiter.

»Organisierte Killer planen«, sagte er leise. »Unorganisierte Killer sind diejenigen, die aus einem Impuls heraus handeln.«

»Sie drehen durch«, ergänzte ich leise, »oder geben ihren Impulsen nach.«

Dean neigte sich vor und schloss seine Finger um meine. »Sie greifen eher von hinten an als ein organisierter Killer.«

»Welche Waffen benutzen sie?«, fragte ich, meine Hand immer noch in der seinen.

»Was sie gerade da haben«, antwortete Dean. »Einen stumpfen Gegenstand, ein Küchenmesser, die eigenen Hände. Der Tatort spiegelt den Kontrollverlust wider.«

»Aber bei organisierten Killern geht es nur um Kontrolle«, ergänzte ich und sah ihn an.

Dean hielt meinem Blick stand. »Organisierte Killer stalken ihre Opfer. Oft sind es Fremde. Jede ihrer Aktionen ist berechnet, vorherbestimmt und dient einem bestimmten Zweck. Sie gehen methodisch vor.«

»Und sind schwerer zu schnappen«, fügte ich hinzu.

»Es gefällt ihnen, dass sie schwerer zu schnappen sind«, erwiderte Dean. »Das Töten ist nur ein Teil des Vergnügens. Der andere ist, damit davonzukommen.«

Alles, was Dean sagte, ergab für mich einen Sinn, auf eine unglaubliche, intuitive Weise, als würde er mich nur an etwas erinnern, was ich schon immer gewusst hatte, und nicht versuchen, mir etwas beizubringen.

»Alles klar?«, fragte er.

Ich nickte. »Mir geht es gut.«

Ich sah zum Küchentresen, wo sich Michael sein Sandwich gemacht hatte. Er war fort. Irgendwann während der Unterhaltung mit Dean war er verschwunden.

Ich sah wieder auf den Tisch. Dean löste seine Hand von meiner.

»Dean?«, sagte ich. Meine Stimme war leise, aber deutlich. Ich konnte immer noch genau die Stellen spüren, wo er mich berührt hatte. »Organisierte Killer, das sind doch die, die Trophäen mitnehmen, nicht wahr?«

Dean nickte. »Trophäen helfen ihnen, ihre Morde erneut zu durchleben. So befriedigen sie ihre Mordlust, bis sie ein neues Opfer gefunden haben.«

»Locke hat von jeder Frau, die sie ermordet hat, einen Lippenstift mitgenommen.« Die Worte rutschten mir heraus, ohne dass ich es wollte. Narzisstisch. Beherrscht. Es passte.

»Mein Vater war ein organisierter Killer.« Eine unglaubliche Intensität umgab Dean, wenn er von seinem Vater sprach. Es war das zweite Mal, dass er sich mir öffnete, sozusagen als Gegenleistung. »Er sagte, dass andere schon früh, noch als er ein Kind war, wussten, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber solange ich mich erinnern konnte, war er eigentlich sehr beliebt. Er plante Dinge sorgfältig und wich nie von seinem Plan ab. Die Frauen, auf die er es abgesehen hatte, dominierte er. Er kontrollierte sie.« Dean hielt inne. »Und nicht ein einziges Mal hat er Reue gezeigt.«

Ich höre, wie die Haustür auf- und wieder zuging. Erst dachte ich, dass es Michael sei, der das Haus verließ, doch dann hörte ich Schritte näher kommen – zwei Leute, und einer ging schwerer als der andere.

Mullins und Briggs waren zurück.

Sie tauchten in der Tür auf, als Dean das Lehrbuch auf dem Tisch vor uns zuklappte.

»Cassie, können wir einen Augenblick lang mit Dean allein reden?«, bat Agent Briggs und richtete seine Krawatte. Diese Geste bei diesem Mann ließ bei mir die Alarmglocken läuten. Die Krawatte trug Briggs nur im Dienst. Sie gerade zu rücken war eine Art Bekräftigung. Egal, worüber er mit Dean reden wollte, es ging ums Geschäft.

Ich vertraute ihm nicht besonders, wenn es ums Geschäft ging.

»Sie kann bleiben«, erwiderte Dean. Wie bitte? Seine Worte schlugen ein wie ein Donnerschlag. Solange ich Dean kannte, hatte er mich immer fortgeschoben. Normalerweise spielte er sein Spiel allein.

Ich sah ihn an und fragte im Stillen: Bist du sicher?

Dean strich sich mit den Händen über die Oberschenkel. »Bleib«, sagte er zu mir. Er will mich wirklich dabeihaben. Dann wandte er sich an Briggs. »Worum geht es?«

Agent Mullins erstarrte und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

»Die Person, die Emerson Cole umgebracht hat, ist von deinem Vater besessen«, erklärte Briggs, der seine Ex-Frau ignorierte. »Es ist gut möglich, dass der Täter ihm geschrieben hat.«

»Und lasst mich raten«, warf Dean ein. »Mein lieber alter Dad vernichtet die Briefe, sobald er sie bekommt. Sie sind alle da oben drin.« Er tippte sich mit dem Finger an den Kopf.

»Er hat zugestimmt, uns zu helfen«, sagte Briggs. »Aber nur unter einer Bedingung.«

Die Anspannung in Deans Schultern und seinem Nacken war wieder da. Jeder Muskel seines Körpers war verkrampft.

»Du musst nichts tun, was du nicht willst«, warf Agent Mullins ein.

»Ich kenne die Bedingung.« In Deans Augen loderte ein Gefühl, das ich nicht identifizieren konnte. Nicht richtig Hass, nicht ganz Furcht. »Mein Vater sagt euch gar nichts. Er wird nur mit mir reden.«