Kapitel 19

S teinerne Mauern. Stacheldraht. Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf die Außenfassade des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem Deans Vater saß. Dean und ich saßen auf dem Rücksitz eines schwarzen Geländewagens des FBI. Agent Briggs fuhr, Agent Mullins saß auf dem Beifahrersitz. Von meiner Position aus – direkt hinter ihr – sah ich nur ihren Unterarm, der auf der Armlehne ruhte. Auf den ersten Blick wirkte sie entspannt, aber ihre Fingerspitzen pressten sich flach in das Leder.

Dean neben mir sah gelegentlich aus dem Fenster. Ich hatte meine Hand mit der Handfläche nach oben zwischen uns auf die Armlehne gelegt. Irgendwann riss er seinen Blick vom Fenster los und sah zu mir hinüber, aber nicht in mein Gesicht, sondern auf meine Hand. Dann legte er seine mit der Handfläche nach unten ein paar Zentimeter von meiner auf den Sitz.

Ich schob meine Hand näher zu seiner. Seine dunklen Augen schlossen sich und seine Wimpern warfen winzige Schatten auf sein Gesicht. Nach einer kleinen Ewigkeit begann seine Hand, sich zu bewegen. Er drehte sie im Uhrzeigersinn, bis die Handfläche flach auf dem Sitz lag, dicht neben meiner. Ich ließ meine Hand in die seine gleiten. Seine Handfläche war warm. Nach ein paar Sekunden schloss er seine Finger um meine.

Moralische Unterstützung . Genau dafür war ich hier. Genau dafür war ich mitgekommen.

Briggs fuhr auf einen gesicherten Parkplatz. Er parkte und schaltete den Motor aus. »Die Wachen werden kommen und Dean und mich holen.« Er sah erst Mullins an und dann mich. »Ihr beide bleibt im Wagen. Je weniger Leute einen weiteren Teenager hier sehen, desto besser.«

Briggs war nicht erfreut, dass ich dabei war, aber er hatte nicht versucht, dagegen zu reden. Sie brauchten Dean, und Dean brauchte auch etwas – jemanden –, das ihn mit dem Hier und Jetzt verband.

Die Hintertür des Gefängnisses öffnete sich. Zwei Wachen standen dort, beide gleich groß. Der eine war massig und kahl, der andere jünger, mit der Figur eines Läufers.

Briggs stieg aus dem Wagen und machte Deans Tür auf. Dean legte meine Hand vorsichtig in meinen Schoß und sagte: »Es wird nicht lange dauern.«

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. Seine Augen waren emotionslos und hart. Er wurde mit einem Lächeln geboren. Diese Worte aus dem Vernehmungsprotokoll von Redding hallten in meinem Kopf wider, als Dean die Tür zuknallte.

Dean und Briggs gingen auf die Wachen zu. Der kahle Mann schüttelte Briggs die Hand. Der jüngere machte einen Schritt auf Dean zu und betrachtete ihn eingehend. Gleich darauf lehnte er an der Wand und wurde durchsucht.

Ich wandte den Blick ab.

»Manche Menschen werden bei Deans Anblick immer seinen Vater in ihm sehen«, sagte Agent Mullins. »Daniel Redding ist bei den Wachen hier nicht unbedingt beliebt. Er mag Psychospielchen und hat ein Händchen dafür, Informationen über die Familien der Wachen herauszufinden. Briggs musste ihnen sagen, dass Dean Reddings Sohn ist. Es wäre sonst unmöglich gewesen, eine Besuchserlaubnis zu bekommen, nicht einmal mit einer Genehmigung von ganz oben.«

»Ihr Vater hat diesem Besuch zugestimmt?«, fragte ich und rutschte auf meinem Sitz so weit zur anderen Seite, dass ich sie besser sehen konnte.

»Es war seine Idee.« Mullins schürzte die Lippen. Froh war sie nicht darüber.

»Ihr Vater will den Fall abschließen«, verdeutlichte ich mir die Logik der Situation. »Der Fall Locke ist in die Zeitungen gekommen. Das Letzte, was das FBI jetzt braucht, ist noch mehr schlechte Presse. Der Direktor muss den Fall schnell und leise abschließen und dazu benutzt er sogar Dean. Aber wenn es nach Ihnen ginge …«

»Wenn es nach mir ginge, wäre Dean seinem Vater nie wieder auch nur auf hundert Meter nahe gekommen«, warf Agent Mullins ein und sah aus dem Fenster. Briggs, Dean und der ältere Wachmann waren im Gebäude verschwunden. Der jüngere – derjenige, der Dean durchsucht hatte – kam auf uns zu. »Und wenn es nach mir ginge«, fuhr Agent Mullins fort und entriegelte die Tür, »hätte Dean nach der Verhaftung seines Vaters auch eine Chance auf eine normale Kindheit bekommen.« Sie machte die Tür auf und stieg aus. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie den Wachmann.

Er sah mit dem Anflug eines Lächelns auf sie herab. »Sie können nicht im Auto bleiben«, verkündete er. »Das hier ist ein gesicherter Bereich.«

»Das weiß ich. Und ich habe die Genehmigung, hier zu sein«, antwortete Mullins kühl und zog die Augenbrauen hoch. Sie verhielt sich wie jemand, der sein ganzes Leben in den alten Männerklubs verbracht hatte. Ein Gefängniswärter, der seine Macht ausspielen wollte, beeindruckte sie nicht im Geringsten.

Ich konnte förmlich sehen, wie der Mann sich fragte, ob es sinnvoll war, sich mit einer FBI-Agentin – und besonders mit dieser FBI-Agentin – anzulegen.

»Der Chef ist auf einem Sicherheitstrip«, sagte er und schob die Schuld auf seinen Vorgesetzten. »Sie müssen den Wagen wegfahren.«

»Gut.« Mullins setzte sich wieder ins Auto und dabei fiel sein Blick auf mich. Er hob die Hand und bedeutete mir, die Tür aufzumachen. Ich sah Agent Mullins an, die kurz nickte. Ich öffnete die Tür und stieg aus.

Der Wächter sah mich nur kurz an und wandte sich dann wieder an Agent Mullins. »Ist sie mit dem Redding-Jungen befreundet?«, fragte er. Seine Stimme ließ keinen Zweifel an seinen Gefühlen für Dean – und seinen Vater.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Michael es als Abscheu gelesen hätte.

»Wenn Sie mich bitte entschuldigen«, erklärte Mullins bestimmt, »ich parke den Wagen um.«

Der Wachmann sah mich an, und seine frühere Entscheidung, sich nicht mit Agent Mullins anzulegen, passte nicht zu seiner Abneigung gegen Dean – und jetzt mir gegenüber. Er wandte sich ab und sagte etwas in sein Funkgerät. Einen Augenblick später drehte er sich wieder um und sagte mit aufgesetzt höflichem Lächeln und Augen, die zu kalten, unbarmherzigen Schlitzen zusammengekniffen waren: »Ich habe bei meinem Chef angerufen. Ich fürchte, Sie beide müssen mitkommen.«

•••

»Sag kein Wort«, riet mir Agent Mullins leise. »Ich kümmere mich darum.«

Der Wachmann führte uns durch einen Gang. Agent Mullins griff zum Telefon.

»Ich kann Sie in den Besucherraum bringen«, sagte der Wachmann, »oder Sie warten in einem der vorderen Büros.«

Wen auch immer Mullins anrufen wollte, antwortete nicht, woraufhin sie sich an den Wachmann wandte. »Mr …« Sie brach ab und wartete darauf, dass er ihr seinen Namen nannte.

»Webber.«

»Mr Webber, es gibt einen Grund dafür, dass Sie und Ihr Kollege gebeten wurden, sich mit Agent Briggs am Hintereingang zu treffen. Es gibt auch einen Grund dafür, dass Agent Briggs Daniel Redding nicht im Besucherraum trifft. Dieser Fall ist vertraulich und es sollten nicht mehr Leute darüber Bescheid wissen als notwendig. Und niemand muss wissen, dass das FBI Redding besucht.«

Innerhalb der Gefängnismauern hatten die Wärter eine Machtposition und dieser hier kostete seine aus. Webber gefiel es nicht, daran erinnert zu werden, dass Mullins zum FBI gehörte. Er mochte sie nicht. Er ließ sich nicht gerne von oben herab behandeln.

Und Dean mochte er schon überhaupt nicht. Oder Redding.

Oder mich.

Das konnte nicht gut gehen.

»Wenn Sie nicht einen sicheren und privaten Ort haben, an dem wir warten können«, fuhr Agent Mullins fort, »dann schlage ich vor, dass Sie den Gefängnisdirektor anrufen und …«

»Sicher und privat?«, unterbrach der Wachmann sie nett und höflich genug, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

•••

Wir landeten in einem Beobachtungsraum. Auf der anderen Seite einer nur von uns aus durchsichtigen Spiegelwand saßen Agent Briggs und Dean einem Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen gegenüber.

Deans Augen.

Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte das nicht mit ansehen.

Doch dank des Egotrips dieses Gefängniswärters war ich nun hier und konnte nichts dagegen machen. Dean und sein Vater saßen einander schweigend gegenüber, und ich fragte mich unwillkürlich, wie lange sie dort schon saßen und einander anstarrten. Was hatten wir verpasst?

Mullins hielt ihren Blick auf Redding geheftet.

Deans Vater war kein großer Mann, aber so, wie er dort saß, mit einem leichten Lächeln auf den gleichmäßigen, unauffälligen Zügen, verlangte er Aufmerksamkeit. Sein dunkles Haar war dicht und ordentlich. Auf Wangen und Kinn zeigte sich ein leichter Bartschatten.

»Erzähl mir von den Briefen.« Dean richtete keine Frage oder Bitte an seinen Vater. Wie das Gespräch vor unserer Ankunft auch verlaufen war, jetzt war Dean jemand, der einen Auftrag hatte.

Er musste die notwendigen Informationen bekommen und dann verschwinden.

»Welche Briefe?«, fragte sein Vater freundlich. »Die, die mich bis in die Hölle verfluchen? Die von den Familien, die mir ihren Weg zur Vergebung beschreiben? Die von den Frauen, die mir Heiratsanträge machen?«

»Die vom Professor«, entgegnete Dean. »Von dem, der das Buch schreibt.«

»Ah«, sagte Redding. »Fogle, nicht wahr? Kräftiger Haarwuchs, tiefe, seelenvolle Augen, ein großer Freund von Nietzsche?«

»Er war also hier.« Die Vorstellung seines Vaters beeindruckte Dean nicht. »Was hat er dich denn gefragt?«

»Es gibt eigentlich nur zwei Fragen, Dean. Das weißt du doch.« Redding lächelte liebevoll. »Warum und wie

»Und was für ein Mensch war dieser Professor?«, forschte Dean weiter. »War er mehr am Warum oder am Wie interessiert?«

»Ein wenig am einen, ein wenig am anderen.« Redding neigte sich vor. »Woher kommt das plötzliche Interesse an meinem Kollegen, dem Professor? Hast du Angst, dass er deinen Anteil an unserer Geschichte nicht richtig darstellen könnte?«

»Wir haben keine Geschichte.«

»Meine Geschichte ist deine Geschichte.« In Reddings Augen glomm ein seltsames Licht auf, doch er beherrschte sich und schraubte die Intensität seiner Stimme eine Stufe zurück. »Wenn du wissen willst, was der Professor schreibt und wozu er fähig ist, schlage ich vor, du fragst ihn selbst.«

»Das werde ich«, sagte Dean. »Sobald du mir sagst, wo ich ihn finden kann.«

»Um Himmels willen, Dean, ich habe den Mann nicht in meiner Kurzwahlliste. Wir sind keine Freunde. Er hat mich ein paarmal interviewt. Und für gewöhnlich stellte er die Fragen, und ich antwortete, nicht umgekehrt.«

Dean stand auf, um zu gehen.

»Aber«, fügte Redding schüchtern hinzu, »er hat erwähnt, dass er meist in seiner Hütte in den Bergen schreibt.«

»Was für eine Hütte?«, fragte Dean. »Welche Berge?«

Redding deutete mit seinen mit Handschellen gefesselten Händen auf Deans Stuhl. Nach einem langen Augenblick des Schweigens setzte Dean sich wieder.

»Vielleicht muss man meinem Gedächtnis etwas nachhelfen«, verkündete Redding, neigte sich leicht vor und studierte eingehend Deans Gesicht.

»Was willst du?«, fragte Dean vollkommen tonlos. Redding schien es nicht zu bemerken oder es war ihm egal.

»Dich«, erwiderte der Mann und ließ seinen Blick über Dean gleiten, nahm jedes Detail in sich auf wie ein Künstler, der sein Meisterwerk begutachtet. »Ich will mehr über dich wissen, Dean. Was haben diese Hände die letzten fünf Jahre lang getan? Was haben diese Augen gesehen?«

Es war irgendwie beunruhigend zu hören, wie Deans Vater seinen Körper auseinandernahm.

Für dich ist Dean nur ein Ding, dachte ich. Er ist Hände und Augen, ein Mund, etwas, das man formen kann. Etwas, das man besitzt.

»Ich bin nicht gekommen, um über mich zu sprechen.« Deans Stimme verriet nichts.

Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Und ich kann mich offenbar nicht daran erinnern, ob die Hütte des Professors in Catoctin oder Shenandoah liegt.«

»Ich weiß nicht, was du von mir hören willst«, sagte Dean und sah seinen Vater durchdringend an. »Es gibt nichts, worüber ich reden könnte. Wolltest du das hören? Dass diese Hände, diese Augen … gar nichts sind?«

»Sie sind alles«, widersprach Redding mit vor Intensität vibrierender Stimme. »Und es gibt so viel mehr, was du tun könntest.«

Agent Mullins neben mir stand auf und ging einen Schritt näher an die Glasscheibe. Näher an Redding.

»Komm schon, Deanilein, in deinem Leben muss es doch etwas geben, über das es sich zu reden lohnt.« Redding war völlig gelassen und immun gegenüber der Feindseligkeit, die Dean ausstrahlte. Vielleicht bemerkte er sie auch gar nicht. »Musik. Sport. Ein Motorrad. Ein Mädchen.« Redding legte den Kopf schief. »Aha«, meinte er. »Also gibt es ein Mädchen.«

»Es gibt niemanden«, stieß Dean hervor.

»Mein Sohn, mich dünkt, du protestierst zu viel.«

»Ich bin nicht dein Sohn.«

Reddings Hand schoss vor und blitzartig stand er auf. Dean musste sich vorgeneigt haben, denn Redding schaffte es, ihn am Hemd zu packen und hochzuziehen.

»Du bist mein Sohn, mehr als du je der Sohn deiner Mutter, dieser Hure, warst. Ich bin in dir, Junge. In deinem Blut, deinem Geist, in jedem Atemzug, den du machst.« Reddings Gesicht war jetzt ganz dicht vor Deans, dicht genug, dass Dean bei jedem Wort seinen Atem spüren musste. »Du weißt es. Du fürchtest es.«

Gerade hatte Dean noch einfach dagestanden, doch plötzlich packte er seinen Vater an seinem Overall, und Daniel Redding wurde kraftvoll über den Tisch gezogen.

»He!« Briggs warf sich zwischen die beiden. Redding ließ Dean zuerst los und hielt resignierend die Hände hoch.

Du gibst nie auf, dachte ich. Du gibst nie nach. Du bekommst, was du willst – und du willst Dean.

Agent Mullins krallte ihre Hand um meinen Ellbogen.

»Wir gehen«, verkündete sie. Der Wachmann versuchte, sie aufzuhalten, doch sie starrte ihn so wütend an, wie sie es vermochte. »Noch ein Wort, noch ein Schritt und ich schwöre bei Gott, ich sorge dafür, dass Sie Ihren Job verlieren.«

Ich sah wieder zu Dean. Briggs legte ihm die Hand auf die Brust und stieß ihn heftig zurück. Wie ein Schlafwandler, der plötzlich aufgeweckt wird, zuckte Dean zurück und ließ seinen Vater los. Er sah zum Spiegel, und ich hätte schwören können, dass er mich dort stehen sah.

»Cassie«, sagte Agent Mullins scharf, »wir gehen! Sofort!«

Das Letzte, was ich hörte, bevor wir gingen, war Deans Stimme, die hart und leer klang.

»Und jetzt erzähl mir von der Hütte des Professors.«