M ullins sah nach unten. Mit absolut reglosem Gesicht richtete sie ihre Bluse, doch obwohl die Narbe wieder bedeckt war, musste ich noch draufstarren.
Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen.
Die ganze Zeit im Beobachtungsraum hatte sie nicht einen Moment den Blick von Daniel Redding abgewendet.
»Mein Team hat den Fall untersucht«, sagte sie ruhig. »Ich bin ihm ein wenig zu nahe gekommen und ich war nachlässig. Redding hatte mich zwei Tage in seiner Gewalt, bevor ich entkommen konnte.«
»Daher kennen Sie Dean.« Ich hatte mich schon gefragt, wie sie ihn so gut hatte kennenlernen können, wenn sie nur seinen Vater verhaftet hatte. Aber wenn sie eines von Reddings Opfern gewesen war …
»Ich bin kein Opfer«, stellte Mullins klar, die meinem Gedankengang geradezu gespenstisch dicht gefolgt war. »Ich bin eine Überlebende, und Dean ist der Grund dafür, dass ich überlebt habe.«
»War das der Fall, von dem Sie vorhin gesprochen haben?« Irgendwie fand ich meine Stimme nicht, denn die Worte kamen heiser und leise hervor. »Als Sie sagten, dass Gefühle für jemand anderen die Zutaten sind, mit denen jemand ermordet wird, haben Sie da von jemandem geredet, den Daniel Redding getötet hat?«
»Nein, Cassie, habe ich nicht. Und das ist die letzte Frage, die ich zu Daniel Redding, meiner Vergangenheit oder dem Brandmal auf meiner Brust beantworten werde. Ist das klar?« Mullins’ Stimme war so gleichmütig, so sachlich, dass mir nichts übrig blieb, als zu nicken.
Die Tür zum Gefängnis ging auf und Briggs und Dean traten heraus. Sie wurden nur von einem Wachmann begleitet, dem älteren. Ich sah, wie er Agent Briggs etwas gab – eine Akte. Dean stand vollkommen, geradezu unnatürlich still neben ihm. Seine Schultern waren zusammengezogen, sein Kopf gesenkt, und seine Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter.
»Stell Dean keine Fragen über diese Sache«, verlangte Agent Mullins. Es war ein verzweifelter, dringender Befehl. »Erzähl ihm nicht einmal, dass du das Brandmal gesehen hast.«
»Nein. Das tue ich nicht. Ich werde ihm keine Fragen stellen.« Ich hatte immer noch Mühe, Sätze zu bilden, und schwieg, als Dean und Briggs zum Auto kamen. Dean machte die Tür auf und stieg ein. Er schloss die Tür, aber er sah mich nicht an. Ich kämpfte gegen den Drang an, die Hand nach ihm auszustrecken, und versuchte, mich auf den Sitz vor mir zu konzentrieren.
Briggs reichte Agent Mullins die Akte, knallte sie ihr förmlich auf den Schoß.
»Besuchereinträge«, sagte er. »Redding darf eigentlich gar keinen Besuch haben. Der Gefängnisdirektor muss verrückt sein. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Liste vollständig ist.« Agent Mullins schlug die Akte auf und überflog die Namen.
»Ehegattenbesuche?«, fragte sie.
»Mehrere!«, stieß Briggs hervor.
»Glaubst du, unser Täter ist auf dieser Liste?«, fragte Mullins.
»Das könnte wahr sein«, erwiderte Briggs angespannt, »und es würde uns das Leben leichter machen, aber genau deshalb denke ich, dass unser Täter nicht auf dieser Liste ist. Denn ich glaube nicht, dass es so denkbar einfach ist. So viel Glück werden wir nicht haben.«
Ich erwartete, dass Mullins ihn ebenfalls anfuhr, doch stattdessen berührte sie seinen Unterarm leicht mit den Fingerspitzen.
»Lass ihn nicht an dich herankommen«, sagte sie leise. Unter ihrer Berührung entspannte sich Briggs ein wenig. »Wenn du das zulässt, gewinnt er.«
»Das ist alles so bescheuert«, stieß Dean aus und kräuselte verächtlich die Lippen. »Wir haben gewusst, was passieren würde, wenn ich herkomme. Er hat versprochen zu reden. Tja, geredet hat er, aber wir haben keine Ahnung, wie viel von dem, was er gesagt hat, wahr ist und womit er uns nur verarscht hat.«
Nicht ich hätte hinter der Glasscheibe sitzen sollen, dachte ich. Lia hätte der Befragung zusehen sollen. Mir war der Unterschied zwischen laufenden und alten Fällen egal. Mir ging es um Dean.
Agent Mullins wandte sich um. Ich erwartete, dass sie Dean gegenüber genauso milde sein würde wie eben zu Briggs, doch stattdessen funkelten ihre Augen hart wie Diamanten, als sie Dean ansprach.
»Lass es!«, sagte sie und stieß mit dem Finger in seine Richtung.
»Lass was?«, fuhr Dean zurück. Ich hatte ihn noch nie so wütend gehört.
»Willst du wirklich dieses Spielchen mit mir spielen?«, fragte ihn Mullins mit hochgezogenen Augenbrauen. »Glaubst du, ich weiß nicht, wie das für dich da drin gewesen ist? Glaubst du, ich weiß nicht, was er gesagt hat und was du jetzt denkst? Was ich eben gesagt habe, meine ich auch so. Lass es, Dean. Lass es einfach bleiben!«
Während Briggs durch das Tor vom Gefängnishof fuhr, breitete sich angespanntes Schweigen im Wagen aus. Ich legte meine Hand mit der Handfläche nach oben auf den Sitz. Dean wandte sich zum Fenster und ballte die Hände zu Fäusten.
Ich sah auf meine Hand, die offen und abwartend dalag, doch ich konnte sie nicht wegziehen. Ich kam mir vollkommen fehl am Platz und völlig nutzlos vor. Ich war um Deans willen mitgekommen, aber ich musste keine Profilerin sein, um zu erkennen, dass er mich jetzt nicht hierhaben wollte. Mit einem einzigen Gespräch hatte sein Vater einen Keil zwischen Dean und den Rest der Welt getrieben und ihn so wirkungsvoll davon abgeschnitten, wie ein Messer es mit einem kranken Körperteil tat. Die unausgesprochene Nähe, die zwischen Dean und mir geherrscht hatte, war diesem Schlag zum Opfer gefallen – sie war fort, als hätte sie nie existiert.
Ich bin in dir, Junge. In deinem Blut, deinem Geist, in jedem Atemzug, den du machst.
Briggs nahm sein Telefon zur Hand. Ein paar Sekunden nachdem er gewählt hatte, brüllte er Befehle. »Redding hat uns die Lage der Hütte des Professors genannt, in der er immer schreibt. Sie liegt in Catoctin.« Briggs machte eine Pause. »Nein, ich weiß nicht, auf wen die Hütte eingetragen ist. Versuchen Sie es mit den Eltern des Professors, seiner Ex-Frau, College-Zimmergenossen … Versuchen Sie es mit allen und ihren verdammten Hunden, aber finden Sie sie!«
Briggs legte auf und warf das Telefon weg. Mullins fing es auf. »Wenn ich mich richtig erinnere, war das Werfen von Telefonen doch früher eher mein Fall als deiner«, meinte sie trocken.
Agent Mullins war diejenige gewesen, die von Daniel Redding gefoltert worden war, doch sie war von den dreien die Einzige, die sich nach diesem Besuch noch unter Kontrolle hatte.
»Hat Redding irgendetwas davon gesagt, dass der Professor eine Beziehung mit Emerson Cole hatte?« Agent Mullins’ Frage riss sowohl Dean als auch Briggs aus ihrer Wut, wenn auch nur kurz.
»Hättest du die Güte, mir zu sagen, woher du das weißt?«, fragte Briggs angespannt. Ich konnte ihn fast denken hören, dass Mullins hinter seinem Rücken irgendwelche Spuren verfolgt hatte.
»Frag doch Cassie«, schlug Agent Mullins vor. »Offensichtlich hat sie ein paar außerschulische Nachforschungen betrieben.«
»Wie bitte?«, fuhr Briggs auf.
Dean wandte langsam den Kopf vom Fenster ab und sah mich an. »Was für außerschulische Nachforschungen?«, fragte er leise und matt. »Was hast du getan?«
»Nichts«, sagte ich. »Spielt keine Rolle.«
»Nur du?«, wollte Dean wissen. Ich antwortete nicht. Er schloss die Augen. Sein Gesicht war angespannt. »Natürlich nicht nur du. Du würdest mich nicht anlügen, wenn es nur um dich ginge. Ich nehme an, Lia war mit dabei. Sloane? Townsend?«
Ich antwortete nicht.
»Das wäre ein Motiv«, sagte Agent Mullins zu Briggs. »Der Professor hätte das Mädchen umbringen können, um die Affäre zu vertuschen.«
»Emerson«, verlangte Dean. »Ihr Name war Emerson.«
»Ja«, sagte Agent Mullins, ohne auf den Zorn in Deans Stimme einzugehen. »Stimmt. Und ob du es glaubst oder nicht, Dean, die Informationen, die wir heute von deinem Vater bekommen haben, egal wie unbedeutend sie jetzt auch zu sein scheinen, werden uns helfen, Emersons Mörder zu finden. Jetzt müsst ihr uns nur unseren Job machen lassen.« Sie hielt inne. »Also keine weiteren Nachforschungen. Keine Ausflüge. Das gilt für euch beide.«
Beim Wort Ausflüge fuhr Briggs den Wagen an den Straßenrand und schaltete den Motor aus.
»Du«, sagte er, wandte sich um und fixierte mich, »raus aus dem Auto.«
Mit diesen Worten stieg er selber aus.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, als ich zu ihm ging. Briggs war vielleicht bereit, kalkulierte Risiken einzugehen, wie Dean zu seinem Vater zu bringen, aber er fühlte sich mit diesen Risiken nur wohl, wenn die Berechnungen von ihm selbst angestellt wurden.
»Darf ich das so verstehen, dass du das Haus verlassen und eine Art Ausflug gemacht hast, um dich direkt in eine laufende FBI-Ermittlung einzumischen?« Briggs hob nicht die Stimme, doch in jedem Wort steckte so viel Zorn, dass er auch hätte schreien können.
»Ja.«
Briggs fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Wer war mit dabei?«
Das konnte ich ihm nicht sagen.
»Ich weiß, dass du helfen willst«, sagte er mit zusammengepressten Kiefern. »Es ist nicht fair, was dieser Fall Dean antut. Ihn hierherzubringen, um mit seinem Vater zu sprechen, das war nicht fair von mir. Aber ich hatte keine Wahl. Dean hatte keine Wahl, du hingegen schon. Du kannst dich entscheiden, mir zu vertrauen. Du kannst dich entscheiden, Agent Mullins nicht noch mehr Munition gegen diese Akademie zu liefern. Du kannst dich entscheiden, nicht wie ein verantwortungsloser, kurzsichtiger Teenager zu handeln, dem man nicht zutrauen kann, sich an Regeln zu halten, die für seine eigene Sicherheit aufgestellt wurden!« Jetzt schrie er doch.
Dean machte die Autotür auf, ohne auszusteigen. Er sah mich nicht einmal an. Briggs stieß den Atem aus. Ich konnte fast hören, wie er innerlich bis zehn zählte.
»Ich werde nicht fragen, wohin ihr gegangen seid«, sagte er, jedes Wort abwägend wie eine Drohung. »Ich werde dir nicht sagen, dass es dumm und verantwortungslos war, obwohl ich mir sicher bin, dass es das war. Ich frage dich nur – und nur ein einziges Mal, Cassandra –, wer dir das vom Professor und dem Mädchen erzählt hat.«
Ich schluckte schwer. »Der Name meiner Quelle ist Derek. Er arbeitete mit Emerson zusammen an einem Gruppenprojekt für Professor Fogles Kurs. In dieser Arbeitsgruppe waren noch zwei weitere Studenten – ein Mädchen namens Bryce und ein Junge namens Clark.«
Briggs’ Blick fiel kurz auf Dean.
»Was?«, sagte ich. Ich bemerkte die Wichtigkeit dieses Blickwechsels, wusste aber nicht, was er bedeutete.
Dean antwortete mir, während Briggs wieder einstieg.
»Mein Vater hat gesagt, dass wir mit dem Professor unsere Zeit verschwenden, wenn wir nach einem Nachahmer suchen.« Dean fuhr sich fahrig mit der Hand durchs Haar, krallte die Finger und riss heftig daran. »Er sagte, die einzig wirklich bemerkenswerten Briefe, die er erhalten hatte, wären von den Studenten dieses Kurses gekommen.«