Kapitel 25

D u hast Emerson Cole getötet. Du hast den Professor getötet. Es hat dir gefallen.

Während ich mich durch die Onlineprofile arbeitete, behielt ich diese Worte im Hinterkopf. Um mich herum waren auch Michael, Lia und Sloane in ihre Arbeit vertieft. Deans Abwesenheit war fast schmerzlich greifbar.

Ich versuchte, mich auf das Profil zu konzentrieren, das Agent Mullins uns gegeben hatte. Anfang zwanzig , sagte ich mir. Pendelt von zu Hause aus. Kein Vater anwesend. Vielleicht ein Stiefvater, der in den letzten Jahren dazugekommen ist. Kennt sich mit Feuerwaffen aus.

Das waren nicht unbedingt die Dinge, die man über die sozialen Medien mitteilte. Ich konnte aus den Lieblingsdingen einer Person auf ihre individuelle Persönlichkeit schließen – Lieblingsbücher, Lieblingsfilme, Lieblingszitate –, aber die verlässlichsten Informationen lieferten die Bilder und Statusanzeigen. Wie oft wurden sie geändert? Kommunizierten sie mit Freunden? Hatten sie eine Beziehung? Sloane hatte eine Art Methode entwickelt, um die Bilder nach dunklen Geländewagen oder Lastern abzusuchen, aber ich war mehr an den Geschichten interessiert, die die Bilder erzählten.

Schnappschüsse von anderen Leuten vermittelten mir einen unverfälschten Blick auf die Person. Wie selbstbewusst waren sie? Standen sie im Bildmittelpunkt oder am Rand? Hatten sie auf jedem Bild den gleichen Gesichtsausdruck, versuchten sie zu kontrollieren, was sie der Welt von sich zeigten? Starrten sie in die Kamera oder sahen sie weg? Was für Kleidung trugen sie? Wo wurden die Bilder aufgenommen?

Stück für Stück konnte ich mir ein Modell eines Lebens von Grund auf aufbauen – was hilfreicher gewesen wäre, wenn ich tatsächlich ein Profil des Täters hätte anlegen sollen, anstatt nur Kästchen auf einer Liste anzukreuzen.

Okay , sagte ich mir, als mir schon die Augen tränten, weil ich mir zu viele Profile angesehen hatte, von denen nur wenige meine Sinne ansprachen. Mullins und Briggs haben dir ein paar Schlüsselbegriffe gegeben, nach denen du suchen sollst. Also tu, was du immer tust. Nimm ein paar Details und schließe daraus auf das Gesamtbild.

Mullins hielt den Täter für jung, aber erwachsen. Warum? Als erstes Opfer hatte er sich eine junge Studentin gewählt. Jemand, der unbedingt andere dominieren wollte, würde mit einer leichteren Beute anfangen – einem lächelnden, lachenden jungen Mädchen von unscheinbarem Äußeren. Er war wahrscheinlich mindestens ein paar Jahre älter als sie, und da mir ein flüchtiger Blick auf Emersons Profil gezeigt hatte, dass sie zwanzig war, erklärte das Mullins’ geschätzte untere Altersgrenze. Wie war sie darauf gekommen, dass der Mörder nicht ein älterer Mann war, wie der Professor?

Du imitierst die Morde eines anderen Mannes. Du bewunderst ihn. Du willst sein wie er. Diesem Gedanken hing ich eine Weile nach. Aber du hast es auch riskiert, geschnappt zu werden, indem du dein Opfer an einem so öffentlichen Ort zur Schau gestellt hast – etwas, das Daniel Redding nicht getan hätte. Du hast schwarzes Seil mitgebracht, um sie daran aufzuhängen, aber in den Nachrichten wurde gesagt, dass sie mit der Antenne ihres eigenen Autos erwürgt worden war.

Um die Worte aus dem Lehrbuch zu verwenden, das Dean und ich gelesen hatten, deutete das auf einen organisierten Mord hin, doch er hatte auch etwas Unorganisiertes an sich. Der Angriff war offensichtlich geplant gewesen, aber er hatte auch etwas Impulsives.

Hast du geplant, sie auf dem Rasen vor dem Haus des Professors zu lassen? Oder war das etwas, das dir einfiel, als das Adrenalin durch deine Adern schoss?

Das Opfer in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, ließ auf den Wunsch nach Anerkennung schließen. Aber Anerkennung von wem? Von der Öffentlichkeit? Der Presse?

Von Daniel Redding? Das war eine Möglichkeit, die ich nicht ausschließen konnte, und irgendwie begannen noch weitere Teile von Mullins’ Profil plötzlich dazuzupassen. Ein impulsiver Nachahmer, der Redding vergötterte, war wahrscheinlich jünger als er selbst, wohl um zehn Jahre oder mehr.

Du hast dich machtlos gefühlt und seine Macht bewundert. Du hast dich für unsichtbar gehalten und du willst gesehen werden.

Geländewagen und Laster waren groß. Man saß höher über der Straße. Auch Schäferhunde waren groß. Sie waren intelligent, stark – und wurden oft als Polizeihunde eingesetzt.

Du willst nicht nur einfach Macht. Du willst Autorität. Du willst sie, weil du sie nie hattest. Weil die Menschen in deinem Leben, die sie haben, dafür sorgen, dass du dich schwach fühlst. Du hast dich nicht schwach gefühlt, als du Emerson umgebracht hast.

Ich dachte an den Professor und wünschte mir wieder, dass ich wüsste, wie er gestorben war. Wenn du in Fogles Kurs warst, hast du den Professor bewundert – zuerst. Aber später hast du ihn dafür verachtet, dass er nur redete und nichts tat. Dass er dich nicht genügend beachtete. Dass er Emerson zu viel beachtete.

Organisierte Verbrecher suchten sich häufig Opfer, die sie nicht kannten, um das Risiko zu minimieren, dass man das Verbrechen zu ihnen zurückverfolgen konnte. Aber es war kein Zufall, dass Emerson eine Beziehung mit dem Professor gehabt hatte und jetzt beide tot waren – das sagte mir mein Bauchgefühl. Diese Opfer waren nicht zufällig gewählt worden. Sie waren nicht von einem Fremden ausgesucht worden.

»He, Sloane?«

Sloane sah nicht einmal von ihrem Computer auf, sondern hielt nur den rechten Zeigefinger hoch, während sie mit der linken Hand weitertippte. Nach ein paar Sekunden hörte sie auf und sah mich an.

»Kannst du mal die Stundenpläne der anderen Studenten mit denen von Emerson vergleichen und mir sagen, wie viel sie sich überschneiden?«, bat ich sie. »Ich glaube, wenn unser Täter auf Emerson fixiert war, dann hatten sie vielleicht nicht nur diesen Kurs gemeinsam.«

»Klar.« Sloane rührte sich nicht, um nach einer Akte zu greifen. Sie blieb einfach sitzen, die Hände im Schoß gefaltet und mit einem breiten Lächeln im Gesicht.

»Könntest du es jetzt gleich tun?«, fragte ich.

Wieder hielt sie den rechten Zeigefinger hoch. »Tue ich doch.«

Sloane hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Diese Fähigkeit, die es ihr ermöglicht hatte, den Tatort nachzubauen, bedeutete offensichtlich, dass sie die Daten nicht noch einmal ansehen musste, um sie zu analysieren.

»Emerson studierte Englisch im Hauptfach«, ratterte sie los. »Professor Fogles Kurs war für sie ein Wahlfach. All ihre anderen Kurse waren mehr auf dem Gebiet ihres Hauptfachs, außer Geologie, was wohl so eine Art Mindestanforderung im naturwissenschaftlichen Bereich darstellt. Die meisten anderen Studenten in Fogles Kurs haben Psychologie belegt, befanden sich im Jura-Vorstudium oder hatten Soziologie im Hauptfach und daher nur sehr wenige Kurse zusammen mit Emerson. Außer zwei Studenten.«

Wenn mein Instinkt mich nicht trog, wenn Emerson kein zufälliges Opfer gewesen war, dann interessierte es mich sehr zu erfahren, wer diese beiden Studenten waren.

Sloane durchsuchte geschickt die Aktenstapel auf dem Tisch und reichte mir zwei davon. »Bryce Anderson und Gary Clarkson.«

Bei der Nennung von Bryce’ Namen sah Michael von seiner Arbeit auf. »Bryce hat nicht erzählt, dass sie noch andere Kurse zusammen mit Emerson hatte.«

Ich ging wieder zu meinem Computer und suchte das Profil von Gary Clarkson. Anders als bei seinen Kommilitonen hatte er den Privat-Filter eingeschaltet, sodass ich nur sein Profilbild sehen konnte.

»Gary Clarkson«, sagte ich und drehte meinen Computer so, dass auch die anderen ihn sehen konnten. »Im Allgemeinen Clark genannt.«

Clark hatte Emerson gekannt. Er hatte auch gewusst, dass sie mit dem Professor geschlafen hatte. Er war wütend. Und wir betrachteten gerade ein Bild von ihm, auf dem er eine orangefarbene Jagdweste trug und ein Gewehr in der Hand hielt.