D u warst in den meisten von Emersons Kursen. Ich schlüpfte in Clarks Kopf, ohne auch nur darüber nachzudenken. Du hast sie gerne beobachtet. Sie war nett zu dir. Du hieltest sie für perfekt. Und wenn du herausgefunden hättest, dass sie es nicht war …
»Hast du etwas?«, fragte Michael von seinem Platz auf der anderen Seite des Zimmers aus.
Ich sog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Möglicherweise.«
Ich konnte vor mir sehen, wie Clark Emerson ins Visier nahm, aber wenn er derjenige war, der sie angegriffen hatte, dann hätte ich erwartet, dass er unordentlicher vorgegangen wäre. Am Tag zuvor hatte ich Clark als unorganisierten Killer eingestuft. Emerson wurde nicht aus einem Impuls heraus getötet. Der Täter hatte nie die emotionale Kontrolle verloren. Und trotzdem …
Ein Telefon klingelte und unterbrach meinen Gedankengang. Erst nach einem Augenblick erkannte ich, dass es meines war. Ich wollte danach greifen, doch Lia war schneller, schnappte es mir weg und hielt es außer Reichweite.
»Gib her, Lia.«
Sie stellte sich taub und drehte das Telefon so, dass ich den Namen des Anrufers sehen konnte. Geoff stand auf dem Bildschirm. Was zur Hölle? Er hatte mir seine Nummer gegeben, die ich in mein Telefon getippt hatte. Aber meine hatte er nicht bekommen.
»Ihr zwei habt euch doch gesimst«, erklärte Lia betont unschuldig. »Ihr seid euch richtig nahegekommen.«
Verdammt, Lia! Ich musste unbedingt mein Passwort ändern.
»Sehen wir mal, was er zu sagen hat?« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie den Anruf entgegen.
»Geoffrey, gerade habe ich von dir gesprochen.« Sie lächelte über das, was er zu sagen hatte, stellte dann auf Lautsprecher, legte das Telefon auf den Tisch vor uns und sah mich herausfordernd an. Sie überließ es mir, ob ich den Anruf beendete oder nicht.
Schon klar. Als würde ich ihn jetzt einfach wegdrücken.
»Hast du das mit dem Professor gehört?«, fragte Geoffrey ernst. »Das ist überall in den Nachrichten.«
Die Nachricht vom Tod des Professors war also öffentlich gemacht worden.
»Das muss echt schwer für dich sein«, sagte Lia und legte die Füße auf den Couchtisch. Ihre Stimme drückte zwar tiefstes Mitgefühl aus, doch sie verdrehte dabei übertrieben die Augen.
»Das kannst du dir gar nicht vorstellen«, gab Geoffrey zurück. »Der Professor hat so was nicht verdient.«
Aber Emerson schon? , hätte ich beinahe gefragt.
»Erst das Mädchen und jetzt der Professor«, sagte Lia, die sich ganz anhörte wie ein Groupie in einer Tragödie, bereit, jedes von Geoffreys Worten aufzusaugen. »Was glaubst du, wer das getan hat?«
»Wir haben es hier mit einem organisierten Killer zu tun«, verkündete Geoffrey. »Hochintelligent und schwer zu fassen.«
Ich wusste nicht, was abstoßender war: dass Geoffrey so tat, als hätte er den Begriff »organisierter Killer« geprägt, obwohl er zeigte, dass er nur ein äußerst fragmentarisches Verständnis davon hatte, was die Bezeichnung bedeutete – oder die Tatsache, dass »hochintelligent« wohl eine Beschreibung war, die er auf sich selbst anwenden würde.
»Ich werde wahrscheinlich den Kurs übernehmen müssen, jetzt, wo Fogle weg ist«, fügte Geoffrey hinzu. »Ich weiß nicht, was mit seinem Buch Fesseln. Brennen. Schneiden. Hängen. Die Geschichte des Daniel Redding passieren wird.«
Geoffrey konnte es nicht lassen, den Titel des Buches zu nennen. Während ich ihn hörte, sah ich wieder Deans Gesicht vor mir, als er diese Worte gesagt hatte, blass und mit leeren Augen.
»Glaubst du, es könnte jemand aus dem Kurs sein?«, fragte Lia. »Aus deinem Kurs?«
Sie war so gut darin, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, dass Geoffrey es gar nicht merkte.
»Wenn es in diesem Kurs einen Studenten mit dem Potenzial für so etwas gäbe«, meinte Geoffrey im Brustton der Überzeugung, »dann würde ich das wohl erkennen.«
Meine erste Reaktion auf diese Worte war, dass er natürlich annahm, er könnte einen Killer erkennen. Doch meine zweite Reaktion ging tiefer. Er hatte das Wort Potenzial benutzt.
Potenzial in Bezug auf Fähigkeit oder auf Talent?
»Was ist mit dem Jungen, der in dem Kurs den Ton angab?«, brachte Lia erneut die Sprache darauf.
»Auf keinen Fall«, meinte Geoffrey herablassend. »Gary sonst was. Der würde keiner Fliege was zuleide tun.«
Gary Clarkson. Genannt Clark. Ich hätte ihn nicht als tonangebenden Typen eingeschätzt und das verwirrte mich. Vielleicht war er doch mehr Planer, mehr Typ A, organisierter, als ich gedacht hatte.
Lia schnappte nach dem Telefon und beendete den Anruf abrupt. Die plötzliche Bewegung riss mich aus meinen Gedanken und ich folgte ihrem Blick. Im Gang hinter uns stand Dean.
Er sagte kein Wort über das, was er gehört hatte. Er drohte nicht damit, Briggs zu sagen, dass wir die Regeln gebrochen hatten, schon wieder. Er drehte sich nur um und ging schweren Schrittes zur Treppe.
Ich riss mein Telefon an mich, ohne dass mich Lia daran hinderte. Es klingelte schon wieder. Geoffrey , dachte ich, aber er war es gar nicht.
»Ihr müsst jemanden für mich nachschlagen«, sagte Briggs ohne weitere Höflichkeitsfloskeln.
»Sie auch«, erwiderte ich. »Gary Clarkson. Er kennt sich mit Gewehren aus und hatte mehrere Kurse gemeinsam mit Emerson. Und in Fogles Kurs gab er den Ton an.« Ich zögerte einen Augenblick, dann fügte ich hinzu: »Sie könnten sich auch den Assistenten des Professors ansehen.«
Das FBI hatte uns keine Akte über Geoffrey gegeben, doch das war nur ein Versehen ihrerseits. Er war zwar kein Student in diesem Kurs, aber an der Universität – und es würde Deans Vater ähnlich sehen, dem FBI etwas Wahres zu erzählen, was sie dennoch in die Irre führte.
»Ich kümmere mich darum«, versprach Briggs. »Aber zuerst müsst ihr sehen, was ihr über einen Conrad Mayler herausfinden könnt. Er hat vor zwei Jahren an Fogles Kurs teilgenommen.«
»Warum sollen wir ihn überprüfen?«
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Ich dachte schon, Briggs würde meine Frage nicht beantworten, doch nach kurzem Zögern sagte er: »Er hat das Video vom Tatort ins Netz gestellt.«
Briggs hatte so eine Art, einen Satz zu beenden, die jede Fortführung des Gespräches ausschloss.
»Okay«, sagte ich. »Conrad Mayler. Verstanden.«
•••
Zwanzig Minuten später hatten wir alles, was es online über Conrad Mayler zu finden gab. Er studierte Journalistik im Hauptfach. Angeblich mochte er Indie-Bands. Seine Lieblingsfilme waren Dokumentationen. Er hatte einen Blog, in dem er sich bissig über eine Reihe von Realityshows ausließ. Seinem Profil zufolge war er auf einer Privatschule gewesen und arbeitete Teilzeit beim studentischen Radiosender.
Seinen Beziehungsstatus gab er mit »Kompliziert« an. Das Mädchen, um das es in dieser Beziehung ging, war Bryce Anderson.
Dein Name taucht immer wieder auf . Ich stellte mir das blonde Mädchen vor. Ich hatte schon einmal den Fehler begangen anzunehmen, dass unser UNSUB ein Mann war. Egal was mein Bauchgefühl mir dieses Mal sagte, ich konnte es nicht riskieren, den gleichen Fehler ein zweites Mal zu machen.
Wenn man durch Conrads Status-Updates und Profile scrollte, konnte man leicht erkennen, dass er sich selbst für einen Journalisten hielt. Wahrscheinlich behauptete er, er hätte das Video von Emersons Leiche aufgenommen und online gestellt, weil die Öffentlichkeit ein Recht darauf hatte. Ich war fast überrascht, dass er es nicht in seinem Profil gepostet hatte.
Wie als Antwort auf meine Gedanken erschien ein neuer Post auf seiner Seite. Conrad hatte ein neues Video geteilt. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, als ich es abspielte, doch statt einer Leiche sah ich nur Reihen von Holzstühlen, auf denen Studierende saßen. Die Zeitangabe im Video zeigte 7:34 Uhr.
»Professor George Fogle sagte einmal, dass er seinen Kurs auf 7:30 Uhr morgens gelegt hatte, um diejenigen, die ihn nur aus einer Laune heraus belegten, von denen zu trennen, die es mit dem Studium der Kriminologie ernst meinten.« Die Kamera schwenkte durch den Raum und ich erkannte den Hörsaal.
Ich war schon dort gewesen.
»Vor drei Tagen nahmen dreihundertsieben ernsthafte Studierende an der ersten von drei Prüfungen zu Monster oder Menschen? teil. Die dreihundertachte Studentin, Emerson Cole, wurde an jenem Morgen tot aufgefunden.«
»Es gibt kein Flimmern«, stellte Sloane fest, die sich hinter mich gestellt hatte. »Spricht für eine gute Ausrüstung. Das Video ist allerdings mit einem Smartphone aufgenommen worden. Mindestens 1080px-Auflösung, wenn nicht höher.«
Das Video schaltete vom Hörsaal zu einem bekannten Bild – dem Clip mit der Leiche von Emerson. Die Erzählung ging weiter, doch ich schaltete ab.
»Normalerweise würde ich fragen, ob der Typ das wirklich ernst meint, aber das ist ja wohl mehr als offensichtlich«, stellte Michael fest, der zu uns gekommen war. »Der glaubt wirklich, das sei hochaktueller Journalismus. Auf seiner Profilseite.«
»Er hat Emerson nicht getötet«, erklärte ich müde. Conrad passte nicht ins Profil. Unser Killer hatte keinen bissigen Blog.
Er hatte keine Freundin wie Bryce – nicht einmal, wenn es »kompliziert« war. Und derjenige, der Emerson getötet hatte, der sie wie einen toten Vogel zur Schau gestellt hatte, den ein Hund seinem Herrchen bringt, hätte niemals seinen »Videobericht« mit einem Bild aus dem Kurs begonnen.
Für das UNSUB war der Rest des Kurses bedeutungslos.
»Spiel es noch einmal ab«, verlangte Sloane. »Von Anfang an.«
Ich drückte auf Play. Sloane schob mich sanft aus dem Weg und übernahm. Mit den Shortcut-Tasten hielt sie das Video an, spielte weiter, hielt wieder an. Ihre Augen glitten über den Bildschirm.
»Die Stimme hatte recht«, sagte sie schließlich. »Es waren dreihundertsieben Studenten im Hörsaal, die am Test teilnahmen. Einschließlich unseres Verdächtigen«, fügte sie hinzu und deutete auf ein unverkennbares Gesicht – rund, mit stumpfen Augen – in der dritten Reihe. Clark. Er saß zwei Plätze neben Bryce und eine Reihe hinter Derek.
»Wer filmt den Test«, fragte ich, »und warum?«
»Weiß ich nicht.« Sloane schob konzentriert die Zungenspitze vor. »In den Nachrichten wurde gesagt, dass Emersons Leiche früh am Morgen entdeckt wurde«, überlegte sie schließlich. »Die Frage ist: wie früh?«
Ich folgte ihrem Gedankengang. Der Zeitangabe zufolge war die Aufnahme um 7:34 Uhr gemacht worden. Ich sprach das Offensichtliche aus. »Todeszeitpunkt. Wir brauchen den genauen Todeszeitpunkt.«
Sloane griff nach meinem Telefon und wählte eine Nummer aus dem Gedächtnis. Als niemand antwortete, rief sie erneut an. Und wieder. Und wieder.
»Was?« Briggs’ Ärger ließ seine Stimme so laut klingen, dass ich sie noch aus einiger Entfernung hören konnte.
»Ich betrachte es als unhöflich, mit über fünfundsiebzig Dezibel zu reden«, sagte Sloane pikiert. »Ich glaube, das nennt man Schreien.«
Briggs’ Antwort konnte ich nicht hören.
»Gibt es schon einen Autopsiebericht zu Emerson Cole?« Sloane hielt sich das Telefon mit der Schulter ans Ohr, um ihr Haar aus dem Pferdeschwanz zu lösen und neu zu binden. »Wir brauchen den Todeszeitpunkt. Die Todesursache würde auch helfen.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass Briggs ihr diese Information nicht geben wollte. Es war ein ziemlicher Unterschied, ob wir anhand der sozialen Medien ein Profil von Collegestudenten erstellten oder ob wir in die Einzelheiten eines geheimen Obduktionsberichtes eingeweiht wurden.
»Sie reden mit achtundsiebzig Dezibel«, stellte Sloane völlig unbeeindruckt von Briggs’ Einwänden fest. »Und wir brauchen immer noch den Todeszeitpunkt.« Wieder hielt sie inne und fuhr nach einer kurzen Pause langsam fort, als spräche sie mit einem Kleinkind. »Weil wir hier sitzen und uns ein Video ansehen, das um 7:34 Uhr an diesem Morgen aufgenommen wurde. Wenn ich die Karten vom Campus richtig im Kopf habe – und Sie wissen, dass das der Fall ist –, dann ist der Davies-Hörsaal fünfundzwanzig Minuten zu Fuß und zehn Minuten mit dem Auto vom Haus des Präsidenten entfernt. Das bedeutet Folgendes: Wenn der Täter beim Tod von Emerson Cole anwesend sein musste und er nach 7:25 Uhr und vor dem Ende dieses Tests stattfand, dann hat jeder Student in diesem Kurs ein Alibi.«
Danach schwieg Sloane etwas länger und legte dann auf.
»Was hat er gesagt?«, fragte Michael.
Sloane klappte den Laptop zu und schob ihn fort.
»Er sagte, dass die Leiche um 8:15 Uhr gefunden wurde. Der Todeszeitpunkt wurde auf 7:55 Uhr geschätzt.«