Kapitel 27

D ie Zeitangabe auf dem Video wurde bestätigt. Es war offiziell. Emerson Cole war erwürgt worden, während die Studenten in Professor Fogles Kurs im Davies-Hörsaal ihre Zwischenprüfung ablegten.

Das FBI verfolgte das Video zu unserem guten Freund, dem Assistenten Geoff, zurück, der behauptete, Professor Fogle würde das immer so machen, um zu verhindern, dass ein Student den Test von einem Ersatzmann schreiben ließ. Das ganze Video zeigte auch Nahaufnahmen der einzelnen Studenten, als sie die Testbögen abgaben. Alle der dreihundertsieben möglichen Verdächtigen – dreihundertacht, wenn man Geoffrey mit einrechnete – waren anwesend.

Ihr Alibi war bombensicher.

»Ich habe Briggs gesagt, dass er mich das Video von der Unterhaltung mit Daniel Redding sehen lassen sollte.« Lia knallte die Kühlschranktür zu und ließ ihren Unmut dann an der Besteckschublade aus. Sie riss sie auf, dass der Inhalt nur so klirrte. »Wir jagen einer nicht existenten Spur hinterher, weil mich keiner sagen lässt, wann dieses herzlose, machiavellistische Stück …«

Lia verfügte über ziemlich drastische Beschreibungen für Deans Vater. Ich konnte keiner davon widersprechen. Ich stellte mich vor sie und nahm zwei Löffel aus der Schublade, von denen ich ihr einen hinhielt. Nach einem Moment nahm sie ihn.

Dann betrachtete sie misstrauisch den Löffel in meiner Hand. »Du teilst dir das Eis mit mir«, sagte ich. Sie wirbelte den Löffel dermaßen zwischen den Fingern hin und her, dass ich mich fragte, ob sie gerade mein vorzeitiges Ableben plante.

»Mit mir spricht Dean auch nicht«, sagte ich. »Und ich bin genauso enttäuscht wie du. Alles, was wir getan haben – alles, was wir versucht haben –, war umsonst. Der Täter ist nicht in diesem Kurs. Es spielt keine Rolle, dass Geoffrey nur minimales Mitgefühl besitzt und von der dunklen Seite fasziniert ist oder dass Clark etwas für Emerson übrighatte und viel aufgestaute Wut in sich trug. Nichts davon spielt eine Rolle, weil keiner von ihnen Emerson getötet hat.«

Das Einzige, was das FBI uns hatte tun lassen, war, uns auf eine irrsinnige Hetzjagd zu schicken, dank Deans psychotischem Vater. Und ich kam nicht umhin, mir dumm vorzukommen, weil ich geglaubt hatte, dass wir einfach zu einer Uni marschieren konnten oder uns nur ein paar Internetprofile ansehen mussten, um einen Killer zu finden. Dean war immer noch wütend auf uns und wir konnten ihm nichts bieten.

»Lia …«

»Lass gut sein«, unterbrach mich Lia. »Zu viel Bonding ertrage ich nicht, Cassie. Ich teile mir das Eis mit dir, aber wir essen es woanders. Ich bin nicht in der Stimmung, mich vor den anderen gut gelaunt zu geben, und der nächste, der mich bittet, etwas mit ihm zu teilen, wird einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben.«

»Schon kapiert.« Ich sah mich in der Küche um. »Schwebt dir ein bestimmter Ort vor?«

•••

Zuerst glaubte ich, Lia würde mich in ihr Zimmer führen, doch als sie die Tür hinter uns schloss, erkannte ich, dass das nicht ihr Ziel war. Sie schob ihr Fenster auf und kletterte mit einem verschmitzten Blick über die Schulter hinaus aufs Dach.

Klasse . Ich steckte den Kopf aus dem Fenster und sah gerade noch, wie sie um eine Ecke verschwand. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns kletterte ich vorsichtig selbst hinaus. Obwohl das Dach vor ihrem Fenster nur leicht geneigt war, hielt ich mich mit einer Hand fest und tastete mich vorsichtig zur Ecke vor, um die Lia verschwunden war. Als ich es geschafft hatte, atmete ich erleichtert auf.

Das Dach war hier flach. Lia saß mit dem Rücken an die Seitenmauer gelehnt und hatte ihre ellenlangen Beine fast bis zur Regenrinne ausgestreckt. Vorsichtig ging ich zu ihr und ließ mich neben ihr nieder. Wortlos hielt Lia mir die Eispackung hin.

Ich vergrub meinen Löffel in dem Schokoladeneis und holte eine ordentliche Portion davon heraus.

Lia hob die Augenbrauen. »Das schreit nach Gehirnfrost.«

Ich biss ein Stückchen von der Portion auf dem Löffel ab. »Wir hätten uns Schüsseln mitnehmen sollen.«

»Wir hätten eine Menge Dinge tun sollen«, fand Lia. Sie saß ganz still da und blickte zum Horizont. Die Sonne ging gerade unter, und ich hatte das Gefühl, dass sie die ganze Nacht hier draußen bleiben würde, wenn ich nicht hier wäre. Zwei Stockwerke über der Erde, die Füße am Dachrand. Sie gehörte zu den Menschen, die es hassten, eingesperrt zu sein. Sie hasste es, in der Falle zu sitzen. Sie brauchte immer einen Fluchtweg.

Sie hatte ihn nur schon lange nicht mehr benutzen müssen.

»Dean kommt darüber hinweg«, sagte ich anstatt der Dinge, an die ich dachte – an Fluchtstrategien und Lias Kindheit und die Art, auf die sie höchstwahrscheinlich das Lügen gelernt hatte. »Er kann nicht ewig auf uns böse sein«, fuhr ich fort. »Wir haben schließlich nur versucht, ihm zu helfen.«

»Du hast es echt nicht gecheckt?«, fragte Lia, und in ihren dunklen Augen glitzerten Tränen, die sie nie vergießen würde. »Dean wird nicht böse. Er lässt es nicht zu. Wenn wir also jetzt zu ihm gehen und mit ihm reden würden, würde er nicht böse auf uns sein. Er wäre gar nichts . So geht er mit solchen Sachen um. Er macht dicht und schließt Leute aus und das ist gut so. Ich verstehe es. Von allen Menschen verstehe ich es am besten.« Lia schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie holte ein paarmal tief Luft und machte sie dann wieder auf. »Aber er schließt nicht mich aus.«

Dean kannte Lia besser als jeden von uns, und das bedeutete, er wusste genau, was es bedeutete, sie auszuschließen. Er wusste, dass er der Einzige war, dem sie vertraute, und allein ihre Beziehung verhinderte, dass sie sich ständig vorkam, als säße sie in einer Falle. Michaels Verteidigungsmechanismus in seiner Jugend war gewesen, Wut zu erkennen, und wenn er sie nicht abwenden konnte, provozierte er sie. Lias Strategie hieß, sich unter so vielen Tarnschichten zu verstecken, dass nichts, was ihr jemand antat, sie wirklich verletzen konnte, weil es ihr wahres Ich gar nicht erreichte.

Dean war die Ausnahme.

»Als ich hierhergekommen bin, gab es nur Dean, Judd und mich.« Lia versenkte ihren Löffel in der Packung und stützte sich auf die Handballen. Ich war mir nicht sicher, warum sie mir das erzählte, aber ich war mir sicher, dass alles, was sie mir jetzt erzählte, der Wahrheit entsprach. »Ich wollte ihn hassen. Ich bin gut darin, Menschen zu hassen. Aber Dean hat mich nie bedrängt. Er stellte mir nie eine einzige Frage, die ich nicht beantworten wollte. Nach ein paar Monaten wollte ich mich eines Nachts hinausschleichen. Ich bin gut darin, wegzulaufen.«

Ich speicherte das auf der wachsenden Liste von Dingen, die ich über Lias Vergangenheit wusste.

»Dean hat mich abgefangen. Er sagte, wenn ich ginge, würde er mitgehen. Ich habe gesagt, er blufft, doch wie sich herausstellte, war es kein Bluff. Ich rannte weg. Er folgte mir. Drei Tage lang waren wir weg. Ich hatte früher schon auf der Straße gelebt, er aber nicht. Er blieb nachts wach, damit ich schlafen konnte. Manchmal wachte ich auf und sah, wie er Wache hielt. Er sah mich nie so an wie die meisten Kerle. Er wachte über mich, anstatt mich zu beobachten.« Sie hielt inne. »Und er hat nie eine Gegenleistung verlangt.«

»So etwas würde er nicht tun.«

Lia lächelte spröde. »Nein«, bestätigte sie, »das würde er nicht. Am letzten Tag, bevor wir zurückgingen, erzählte er mir von seinem Dad und wie es kam, dass er hier war, und von Briggs. Dean ist der einzige Mensch, den ich kenne, der mich noch nie angelogen hat.«

Und jetzt sprach er gar nicht mehr mit ihr.

»Agent Mullins war eines der Opfer seines Vaters«, sagte ich leise. Ruckartig sah Lia mich an. Daran, wie sie scharf Luft holte, merkte ich, dass sie meine Worte als Wahrheit anerkannte und nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte.

Ich hatte nicht das Gefühl, Dean zu verraten, wenn ich es Lia erzählte. Sie war seine Familie. Sie hatte sich mir in einer Weise geöffnet, wie sie es sonst niemandem gegenüber tat, und das sagte mir, wie dringend sie wissen musste, dass er sie nicht ausschloss, weil sie etwas falsch gemacht hatte. Deans Leben war im Augenblick ein Minenfeld.

»Mullins hat ein Brandmal, genau hier.« Ich deutete mit der Fingerspitze auf meine Brust. »Sie ist irgendwie entkommen. Ich glaube, Dean hat ihr dabei geholfen.«

Lia verarbeitete die Information mit undurchdringlicher Miene. »Und jetzt ist sie wieder da«, sagte sie schließlich, den Blick starr in die Ferne gerichtet. »Und Dean kann nur daran denken, dass er ihr nicht genug geholfen hat.«

Ich nickte. »Dann stirbt Emerson Cole und Dean muss ein Gespräch mit seinem Vater führen.« Ich lehnte mich zurück und ließ meinen Kopf leicht gegen die Hauswand stoßen. »In diesen Raum zu gehen, sich anzuhören, was Daniel Redding zu sagen hatte, das war es, was Dean hat dichtmachen lassen. Es war, als hätte ihm jemand die Seele geraubt. Und dann ließ ihn Agent Mullins wissen, dass wir unsere eigenen Nachforschungen betrieben haben …«

»Was du ihr verraten hast«, warf Lia ein.

»Mullins wusste bereits, dass ich mich hinausgeschlichen habe«, antwortete ich. »Außerdem habe ich ihr nicht gesagt, was wir getan haben. Ich habe ihr nicht einmal gesagt, dass du dabei warst. Ich habe ihr nur gesagt, was wir erfahren haben.«

»Aber das spielt keine Rolle mehr«, bemerkte Lia, »weil alle Studierenden in diesem Hörsaal – ganz zu schweigen von dem Assistenten – ein felsenfestes Alibi haben. Und anstatt uns so einzusetzen, wie sie es sollten, schließt das ach so weise FBI uns ein, hier, wo wir nichts tun können, um den Fall zu lösen oder Dean zu helfen.« Lia wickelte sich eine Strähne des tiefschwarzen Haares um den Finger. »Und da ist ja auch schon unser Lieblingsmensch.«

Ich folgte ihrem Blick. In der Auffahrt parkte ein schwarzer Wagen und Agent Mullins stieg aus.

»Was glaubst du, wo sie gewesen ist?«, fragte mich Lia.

Mullins war zuvor schon im Haus gewesen, hatte aber nur die Akten der Studierenden geholt und war wieder gegangen. Ich hatte angenommen, dass sie sich mit Briggs traf, aber er war nirgends zu sehen.

Die Beifahrertür ging auf und der Direktor stieg aus. Die beiden sahen aus, als hätten sie gerade eine sehr angespannte, sehr schweigsame Autofahrt hinter sich.

»Glaubst du, er will uns noch einmal sehen?«, fragte ich leise, obwohl sie weit genug weg waren.

Lia schlug mir die Hand über den Mund und zog mich zurück, sodass wir zum Teil vor ihren Blicken verborgen waren. Sie runzelte die Stirn. Ich nickte, um zu zeigen, dass ich sie verstand, und einen Moment später wusste ich, warum Lia das Dach so gern mochte.

Die Akustik war ausgezeichnet.

»Du kannst dir gerne das Auto nehmen, um nach Hause zu fahren«, sagte Agent Mullins mit ihrer Vernehmungsstimme, ruhig und ausgeglichen.

»Ich habe dich gebeten, mich hierherzufahren«, erwiderte der Direktor ebenso gleichmütig wie sie, nur im Bariton. »Ich möchte mit dem Jungen reden.«

»Dazu besteht kein Grund.«

»Ich glaube, du vergisst, wer von uns beiden hier der Direktor ist.«

»Und ich glaube, du vergisst, dass ich nicht die Einzige war, die nach dem Desaster mit Locke Fragen gestellt hat.« Sie hielt inne und wartete darauf, dass die Worte ihr Ziel fanden. »Ich habe Kontakte zum Geheimdienst. Die Leute in Washington reden. Was glaubst du, was passiert, wenn sie erfahren, dass das FBI in diesem Fall den minderjährigen Sohn von Daniel Redding zurate zieht?«

»In diesem Fall spielt die Geheimhaltung der Akademie keine Rolle«, entgegnete der Direktor, ohne aus der Fassung zu geraten. »Das FBI würde sowieso mit dem Jungen reden, egal ob er für uns arbeitet oder nicht. Wenn der Leiter des Geheimdienstes Fragen stellt – und das wird er nicht –, kann man es ihm leicht erklären. Reddings Sohn war beim ersten Mal dabei. Er kennt Reddings Psyche besser als jeder andere – dich eingeschlossen.«

»Ich habe zugestimmt, herzukommen und die Akademie zu bewerten, weil du gesagt hast, es wäre ein Fehler, Washington davon zu erzählen.« In Agent Mullins’ Stimme schlich sich ein Anflug von Emotion, doch ich konnte nicht erkennen, ob es Enttäuschung oder etwas anderes war. »Du hast mir gesagt, ich müsse sie selbst sehen, damit ich weiß, was wir aufgeben, wenn wir die Akademie schließen.«

Ich hatte mich schon gefragt, warum der Direktor seine Tochter hierherschickte, wenn ihm klar war, dass sie es für einen Fehler hielt. Jetzt wusste ich es.

»Du hast auf mich gehört«, entgegnete der Direktor ruhig. »Du hättest den Bericht einreichen können, aber das hast du nicht getan.«

»Als hättest du mir eine Wahl gelassen!«

»Ich habe dir nur die Wahrheit gesagt.« Der Direktor sah auf die Uhr, als wolle er andeuten, dass er zu viel Zeit mit diesem Gespräch vergeudete. »Die Akademie ist das Einzige, was diesen Jungen aufrechterhält. Glaubst du, er hätte es bei Pflegeeltern besser? Oder willst du, dass ich Lia Zhang wieder auf die Straße schicke? Sie würde irgendwann wieder geschnappt werden, und ich garantiere dir, dass sie beim nächsten Mal als Erwachsene vor Gericht kommt.«

Ich spürte, wie Lia neben mir erstarrte.

»Du wolltest, dass ich hierherkomme«, sagte Mullins zähneknirschend. »Ich bin hergekommen. Aber du hast versprochen, dass du auf meine Empfehlungen hören würdest.«

»Wenn du vernünftig wärst, würde ich auch darauf hören. Aber Dean Redding von diesem Fall fernzuhalten ist nicht vernünftig.« Der Direktor ließ ihr einen Augenblick Zeit, um zu antworten, und als sie das nicht tat, fuhr er fort: »Von mir aus bleib bei deiner Ansicht, dass diese Akademie falsch ist, aber im Grunde willst du diesem Killer ebenso sehr das Handwerk legen wie ich. Es kostet dich all deine Kraft, dich davon zurückzuhalten, die Naturtalente dazu einzusetzen, doch früher oder später wirst du deine Prinzipien über Bord werfen. Dann wirst du mir erzählen, dass wir diese Grenze überschreiten müssen.«

Ich erwartete, dass Mullins ihm widersprach, doch das tat sie nicht.

»Natürlich will ich sie einsetzen!«, rief sie. »Aber hier geht es nicht um mich! Oder dich. Oder das Büro. Es geht um die fünf Teenager, die hier in diesem Haus leben. Fünf reale Menschen, deren einziger Schutz Regeln sind, die du aufgestellt hast und jetzt immer wieder brichst. Du bist derjenige, der zugelassen hat, dass Cassie Hobbes am Locke-Fall gearbeitet hat. Du bist derjenige gewesen, der darauf bestand, dass Dean mit Redding redet. Du machst Regeln und brichst sie, du schickst zweideutige Botschaften –«

»Darum geht es hier nicht«, unterbrach der Direktor sie. Im Gegensatz zu seiner Tochter blieb er vollkommen gelassen. »Du regst dich nicht über irgendwelche Botschaften auf, die ich deiner Meinung nach aussende. Nach fünf Jahren bist du immer noch wütend darüber, dass ich mich in Bezug auf diese Akademie auf die Seite deines Mannes geschlagen habe und nicht auf deine.«

»Ex-Mann.«

»Du hast ihn verlassen. Du hast das FBI verlassen.«

»Na los, sag’s schon, Dad. Ich habe dich verlassen.«

»Weißt du, in was für eine Lage mich das bringt, Veronica? Wie soll ich mich auf die Loyalität aller FBI-Mitarbeiter verlassen können, wenn nicht mal meine eigene Tochter es für nötig hält zu bleiben? Nach dem Vorfall mit dem Hawkins-Mädchen im Fall Nightshade war die Moral auf einem Tiefpunkt. Wir mussten uns als geschlossene Einheit zeigen.«

Agent Mullins wandte ihrem Vater den Rücken zu und ihre nächsten Worte schossen hervor wie Gewehrkugeln.

»Ihr Name war Scarlett und es war kein Vorfall. Ein Psychopath hat sich in unser Labor geschlichen und eine aus unserem Team getötet. Tanner und ich mussten beide etwas beweisen …« Sie brach ab, schwer atmend. »Ich habe das FBI verlassen, weil ich dort nicht hingehörte.«

»Aber du bist zurückgekommen«, sagte der Direktor. »Nicht für mich. Du bist wegen des Jungen gekommen. Was Redding dir angetan hat, was Scarlett im Nightshade-Fall passiert ist – das vermengt sich alles in deinem Kopf. Sie konntest du nicht retten, also hast du beschlossen, ihn zu retten.«

Mullins machte einen Schritt auf ihren Vater zu. »Irgendjemand muss es tun. Er ist erst siebzehn.«

»Und er hat dem lieben alten Daddy geholfen, als er erst zwölf war!«

Ich konnte mich nur schwer beherrschen, nicht vom Dach zu springen und mich auf den Direktor zu stürzen. Plötzlich wich die Anspannung aus Lia und sie erschlaffte. Sie sah entspannt aus. Fast friedlich. Was bei Lia bedeutete, dass sie auf nichts anderes als Blut aus war.

Manche Menschen sehen Dean an und sehen seinen Vater, dachte ich dumpf. Der Direktor machte Dean nicht direkt für die Sünden seines Vaters verantwortlich – er betrachtete ihn als Komplizen.

»Ich rede nicht mehr mit dir darüber, Veronica.« Die Geduld des Direktors war am Ende. »Wir müssen wissen, ob einer von Reddings Besuchern in diesem Fall ein möglicher Verdächtiger ist. Muss ich dir erst sagen, wer zu den Ehemaligen der Colonial University zählt? Der Druck, diesen Fall abzuschließen, kommt von ganz weit oben, Agent.« Seine Stimme wurde ein wenig weicher. »Du willst doch auch nicht, dass sich die Leichen stapeln.«

»Natürlich will ich den Kerl schnappen, bevor noch jemand verletzt wird.« Agent Mullins hatte mich davor gewarnt, Fälle zu meinem persönlichen Problem zu machen, doch dieser hatte ihren Schutzpanzer durchbrochen. »Deshalb wollte ich Redding ja selbst sehen.«

Der Direktor erstarrte. »Glücklicherweise habe ich dich davon abgehalten, ehe du diesen nicht durchdachten Plan in die Tat umsetzen konntest.«

Agent Mullins grinste ihn breit an. »Ach ja?«

»Veronica …!«

»Im Augenblick würde ich Agent vorziehen. Du wolltest jemanden, der Daniel Redding unter die Haut geht. Dafür brauchst du Dean nicht. Ich bin diejenige, die entkommen ist, Direktor. Und du weißt, was das für einen Mann wie Redding bedeutet.«

»Ich weiß nur, dass ich nicht will, dass du auch nur in seine Nähe kommst!« Zum ersten Mal klang er fast wie ein Vater.

»Lass mich mit Dean reden«, nutzte Mullins ihren Vorteil aus, auch wenn es nur ein geringer war. »Lass mich diejenige sein, die Dean die Besuchereinträge zeigt. Wenn er irgendetwas weiß, was sich als relevant erweisen könnte, wird er es mir sagen. Er vertraut mir.«

Nach bestimmt zehn oder fünfzehn Sekunden des Schweigens nickte der Direktor knapp. »Also gut. Aber wenn du und Briggs mir keine Resultate liefert, dann werde ich jemanden holen, der es kann.«