Kapitel 32

I nnen unterschied sich das Haus der Simms stark von der ungepflegten Rasenfläche. Die Fußböden waren pieksauber. Auf jeder verfügbaren Fläche standen Porzellanfiguren. An den Wänden im Flur hingen Dutzende gerahmter Bilder: Christopher auf Bildern aus der Schule und nach der Schule, mit immer dem gleichen ernsten Gesichtsausdruck. Es gab nur ein Bild eines Mannes. Ich sah näher hin und erstarrte. Der Mann lächelte herzlich, um die Augen spielten ein paar kleine Falten. Und ich wusste, wer er war.

Daniel Redding. Was für eine Frau mit einer Vorliebe für Spitzenuntersetzer hängte sich denn das Bild eines Serienkillers an die Wand?

»Du hast seine Augen.« Trina schob uns ins Wohnzimmer und setzte sich Dean gegenüber. Sie wandte den Blick nicht von seinem Gesicht, als versuche sie, es sich einzuprägen. Als ob sie verhungere und er ihre Nahrung wäre. »Und der Rest … Nun, Daniel hat immer gesagt, du hättest viel von deiner Mutter.« Sie hielt inne und schürzte die Lippen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie gekannt hätte. Sie ist nicht hier aufgewachsen, weißt du. Daniel ging aufs College – er war immer so klug. Dann kam er mit ihr zurück. Und schließlich, natürlich, warst du da.«

»Kannten Sie meinen Vater schon als Kind?«, fragte Dean. Er klang höflich und vollkommen entspannt.

Aber er litt wie Hölle.

»Nein«, antwortete Trina, schürzte erneut die Lippen und erklärte: »Er war ein paar Jahre jünger als ich – aber eine Dame spricht nicht über ihr Alter.«

»Was wollt ihr hier?« Die Arme vor der Brust verschränkt, warf Christopher Dean die Frage von der Wohnzimmertür aus an den Kopf. Sein Gesicht lag im Schatten, aber seine Stimme ließ keinen Zweifel daran, was er von der Situation hielt. Er wollte Dean nicht im Haus haben. Und das Foto seines Vaters wollte er auch nicht an der Wand haben.

Was ich ihm absolut nicht verübeln konnte.

»Dean ist hier willkommen«, ermahnte ihn Trina scharf. »Wenn der Antrag angenommen wird, könnte das sein Zuhause werden.«

»Welcher Antrag?«, fragte Dean.

»Der Antrag deines Vaters«, erklärte Trina geduldig. »Wegen der Beweise, die sie gefälscht haben.«

»Und mit sie meinen Sie das FBI?«, erkundigte sich Michael. Trina wedelte mit der Hand, als verscheuche sie eine lästige Fliege.

»Keine der Durchsuchungen war legal«, behauptete Trina. »Keine einzige.«

»Mein Vater hat diese Frauen getötet«, sagte Dean und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Das wissen Sie doch, nicht wahr?«

»Dein Vater ist ein brillanter Mann«, sagte Trina. »Jeder brillante Mann braucht ein Ventil. Man kann nicht von ihm erwarten, dass er so lebt wie andere Menschen. Das weißt du.«

Die Vertraulichkeit, mit der Trina sprach, bereitete mir Übelkeit. Sie glaubte, sie würde Dean kennen. Sie glaubte, er würde sie kennen.

Aber hat sie Emerson Cole getötet? Hat sie den Professor ermordet? Deswegen waren wir hergekommen. Um das herauszufinden.

»Es muss schwer sein für einen Mann wie Daniel«, sagte ich. Deans Hand griff nach meiner und drückte sie warnend, doch ich hatte bereits Trinas Aufmerksamkeit. »So eingesperrt zu sein wie ein Tier, als sei er weniger , wo er doch …«

»Mehr ist«, beendete Trina den Satz für mich.

»Das reicht«, sagte Christopher und kam zu uns. »Ihr solltet gehen.« Er packte mich am Ellbogen und zog mich vom Sofa hoch. Ich stolperte und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, damit ich erkennen konnte, was er dachte, ob er beabsichtigt hatte, mich so hart anzufassen …

Eine Sekunde später war Dean neben mir und presste Christopher gegen die Wand, den Unterarm gegen seine Kehle gedrückt. Deans dunkler Arm hob sich stark von Christophers blasser Haut ab.

»Christopher!«, mahnte Trina. »Die junge Dame ist unser Gast!« Ihre Brust hob sich aufgeregt. Nein, nicht aufgeregt, stellte ich fest. Als sie Deans Gesicht sah und die Art, wie er sich bewegte, war sie erregt.

Michael trat auf Dean zu und zog ihn von seinem Opfer fort. Einen Augenblick lang leistete Dean Widerstand, dann hielt er inne. Michael ließ ihn los und klopfte Christopher auf das Hemd, als staube er Jackettaufschläge ab, obwohl er nur ein zerschlissenes altes T-Shirt trug.

»Wenn du sie auch nur noch einmal anfasst«, drohte Michael Christopher im Plauderton, »dann wird Dean derjenige sein, der mich von dir wegzieht!«

Michael hatte mir einmal erzählt, dass er, wenn er die Beherrschung verlor, völlig außer Kontrolle geriet. Seinem entspannten Tonfall entnahm ich, dass Dean wohl nicht in der Lage sein würde, ihn von Christopher wegzuziehen, wenn der mich noch einmal anfassen würde.

Christopher ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr hättet nicht herkommen sollen. Das ist krank. Ihr seid doch alle krank!« Er behielt die Fäuste neben dem Körper und stampfte gleich darauf aus dem Haus. Wir hörten die Haustür zuknallen.

»Ich fürchte, Christopher versteht meine Beziehung zu deinem Vater nicht ganz«, vertraute Trina Dean an. »Er war erst neun, als sein Vater uns verlassen hat, und na ja …«, seufzte sie, »eine alleinerziehende Mutter tut, was sie kann.«

Dean setzte sich wieder neben mich. Michael blieb stehen, und ich bemerkte, dass er Trina aus einem Blickwinkel beobachtete, der die Chancen verringerte, dass sie es bemerkte.

»Wie lange sind Sie schon mit Daniel zusammen?«, fragte ich. Ihr seid nicht zusammen, dachte ich. Er benutzt dich. Wozu allerdings, wusste ich nicht genau.

»Wir treffen uns seit etwa drei Jahren«, erwiderte Trina. Sie schien erfreut, dass ich diese Frage stellte – und das war genau meine Absicht gewesen. Wenn sie glaubte, dass wir mit dieser Beziehung einverstanden waren, passte das zu dem, was sie sich in ihrem Kopf zusammengesponnen hatte. Dass Dean sie besuchen kam. Dass das hier keine Befragung war. Sondern nur eine Unterhaltung.

»Glauben Sie, dass dieser neue Fall seine Chancen auf Berufung erhöht?«, fragte ich.

Trina runzelte die Stirn. »Welcher neue Fall?« Ich antwortete nicht. Trina sah von mir zu Dean. »Wovon redet sie, Dean?«, erkundigte sie sich. »Du weißt doch, wie wichtig der jetzige Zeitpunkt für die rechtliche Situation deines Vaters ist.«

Seine rechtliche Situation ist, dass er ein verurteilter Serienmörder ist, dachte ich. Nach dem, was ich von Briggs und Mullins erfahren hatte – und von Dean selbst –, so war ich mir fast sicher, dass diese Berufung ebenso erfunden war wie Trinas Irrglaube, dass bei einer möglichen Entlassung Daniel und Dean bei ihr einziehen würden.

»Deshalb bin ich ja hier«, griff Dean meine Idee auf und warf mir einen Seitenblick zu. »Es geht um das Mädchen, das an der Colonial University ermordet wurde. Und um den Professor, der das Buch schrieb.«

»Darüber hat das FBI mit mir geredet«, meinte Trina abfällig. »Sie wissen, dass ich deinen Vater unterstütze. Sie glauben, sie können ihn gegen mich aufbringen.«

»Aber das können sie nicht«, beruhigte ich sie. »Denn das, was Sie haben, ist echt.« Ich schluckte die Schuldgefühle hinunter, dass ich mit den Wahnvorstellungen der Frau spielte. Ich zwang mich, daran zu denken, dass sie genau wusste, was Daniel Redding war. Ein Killer. Aber es war ihr egal.

»Dieser Fall hat nichts mit Daniel zu tun. Gar nichts. Das FBI würde ihm nur zu gerne noch etwas anhängen. Auf einer öffentlichen Grünfläche abgelegt?« Trina schnaufte verächtlich. »So etwas Unüberlegtes, Schlampiges würde Daniel nie tun. Und zu glauben, dass da jemand anderes ist …« Sie schüttelte den Kopf. »Seinen Ruhm einzuheimsen, seinen Ruf auszunutzen. Das ist ein Verbrechen, ja genau das ist es!«

Mord ist ein Verbrechen, dachte ich, doch ich sprach es nicht laut aus. Wir hatten, was wir brauchten. Trina Simms hatte nicht vor, Daniel Reddings Werk fortzuführen – für sie war der Nachahmer ein Betrüger, ein Fälscher. Sie war weiblich, ordnungsfanatisch und herrschsüchtig. Unser Täter war nichts davon.

Unser Täter war männlich, ungefähr Mitte zwanzig und wurde von anderen unterdrückt.

»Wir sollten gehen«, sagte Dean.

Trina schnalzte mit der Zunge und protestierte, doch wir gingen zur Tür.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne wissen, was für ein Auto Christopher fährt«, sagte ich.

»Er fährt einen Truck.« Wenn Trina die Frage merkwürdig vorkam, so zeigte sie es jedenfalls nicht.

»Welche Farbe hat er?«, fragte ich.

»Das ist schwer zu sagen«, meinte Trina in dem Ton, den sie Christopher gegenüber öfter angewandt hatte. »Er wäscht ihn nie. Aber wenn ich mich recht erinnere, ist er schwarz.«

Ich schauderte, als ich an das Profil dachte, das Agent Mullins uns gegeben hatte, und konnte noch immer Christophers Griff um meinen Arm spüren.

»Vielen Dank für die Einladung«, brachte ich hervor.

Trina streckte die Hand aus und berührte mein Gesicht. »So ein hübsches Mädchen«, sagte sie zu Dean. »Dein Vater wäre begeistert.«