Kapitel 35

J ede Spur, die wir in diesem Fall aufgedeckt hatten, hatte in eine Sackgasse geführt. Wir hatten herausgefunden, dass Emerson eine Affäre mit ihrem Professor hatte, und der war genauso tot wie sie. Wir waren die Internetprofile der Studierenden durchgegangen, nur um herauszufinden, dass jeder einzelne von ihnen ein Alibi hatte. Michael, Dean und ich hatten mit Trina Simms geredet. Wir hatten sie als mögliche Verdächtige eliminiert, hatten aber nicht bemerkt, dass der Killer sie möglicherweise im Visier hatte.

Wenn meine Instinkte tatsächlich so gut sind, fragte ich mich, warum habe ich das dann nicht kommen sehen? Warum habe ich mich so auf Christopher Simms konzentriert?

Angeblich war ich ein Naturtalent, ich sollte gut sein bei so etwas. Ja, klar doch. Ich war sogar so gut, dass ich nicht gemerkt hatte, dass Locke ein Killer war. So gut, dass, während ich ein Profil von Christopher erstellte und mir Verdachtsmomente einredete, der Täter vielleicht in der Nähe gelauert und darauf gewartet hatte, dass wir gingen. Wirklich hervorragende Arbeit, Cassie, herzlichen Glückwunsch.

Nichts, was wir in diesem Fall getan hatten, war so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Und jetzt lag ich an einer elektronischen Leine. Wie eine Kriminelle.

»Also als Accessoire lässt es einiges zu wünschen übrig.« Lias Kommentar zu dem Tracker um meinen Knöchel war erwartungsgemäß überheblich. »Obwohl ja das schwarze Plastik ganz besonders gut die Farbe deiner Augen betont.«

»Halt die Klappe.«

»Echt schräg«, fand Lia und wedelte mit dem Finger vor meiner Nase. »Du musst schon zugeben, dass es von delikater Ironie zeugt.« Sie brachte ihren wedelnden Finger in Sicherheit.

Ich musste gar nichts zugeben.

»Von uns allen bist du diejenige, bei der es am unwahrscheinlichsten ist, dass sie verhaftet wird. Tatsächlich bist du bestimmt die Einzige von uns, die noch nie verhaftet worden ist. Und trotzdem …« Sie deutete auf meinen Knöchel.

»Sei endlich still«, verlangte ich. »Du bist vielleicht die Nächste. Agent Mullins bestellt die Dinger wahrscheinlich im Großhandel.«

»Da wird doch mit zweierlei Maß gemessen, oder? Die Jungs schleichen sich raus und werden zu gegenseitiger Gesellschaft verdonnert. Wenn du dich rausschleichst …«

»Es reicht!«, warnte ich Lia. »Dazusitzen und darüber zu reden wird die Sache auch nicht ändern. Außerdem ist das nicht unser größtes Problem.«

Irgendjemand musste Dean erzählen, was mit Trina Simms geschehen war.

•••

»Wir haben sie besucht und jetzt ist sie tot«, fasste Dean unsere Situation in einem Satz zusammen.

»Zeitliche Nähe bedeutet noch nicht Ursache«, bemerkte Sloane und klopfte ihm auf die Schulter – ihre Version von Trösten.

»Das ist hier die Frage, nicht wahr?«, warf Michael ein. Wir saßen zu fünft in dem Zimmer, das sich die Jungs – offensichtlich – ab jetzt teilen mussten. Michael lehnte am Türpfosten und hatte die Füße überkreuzt. »Hatte der Killer Trina bereits im Visier oder hat unser Besuch irgendetwas ausgelöst?«

Dean überlegte einen Moment. »Emersons Mord war ziemlich gut geplant«, sagte er dann. In Profiler-Modus zu schalten verhinderte, dass Dean an jenen dunklen Ort zurückkehrte, doch selbst wenn er versuchte, sich von dem Geschehen zu distanzieren, nannte er Emerson beim Namen. »Die Zurschaustellung der Leiche war präzise. Ausgehend von den Gesprächen mit Mullins und Briggs in den letzten Tagen vermute ich, dass sie nicht viele physische Beweise haben. Wir haben es mit jemandem zu tun, der sehr auf Details achtet – was vermuten lässt, dass der Täter seine Opfer sehr methodisch aussucht.«

Ich schloss die Augen und zwang mich, die wirren Gedanken in meinem Kopf zu sortieren. »Wenn der Täter das tut, weil er sich mit Daniel Redding identifiziert«, sagte ich, »dann ist es nur logisch, dass er sich als Opfer Nummer zwei jemanden ausgesucht hat, der Redding tatsächlich gekannt hat.«

»Opfer Nummer drei«, erinnerte mich Sloane. »Du vergisst den Professor.«

Sie hatte recht. Ich hatte den Professor weggelassen, denn auch wenn Briggs und Mullins kein Wort darüber verloren hatten, wie er gestorben war, glaubte ich nicht, dass der Täter ihn genauso gefoltert hatte wie die Frauen. Daniel Reddings ursprüngliche Opfer waren alle weiblich gewesen. Die Frauen zu fesseln und sie zu brandmarken – dabei ging es um Besitzergreifung.

Ein Täter, der sich mit der Methode und Brutalität dieses besonderen M. O. identifizierte, würde den Tod an einem anderen Mann nicht genauso genießen. Die Frauen waren sein Hauptinteresse. Fogle war ihm nur im Weg gewesen.

Manche Dinge tust du, weil du sie tun willst, dachte ich, und manche, weil du sie tun musst.

Dean sagte nichts dazu, dass ich den Professor von der Opferliste gestrichen hatte. Er hatte seinen eigenen Tunnelblick.

»Emerson war zwanzig, blond, freundlich und bei ihren Kommilitonen beliebt. Trina war Ende vierzig, brünett und neurotisch. Ausgehend von ihrer Reaktion Besuchern gegenüber war sie sozial isoliert, abgesehen von zwei Menschen, meinem Vater und ihrem Sohn.«

Die meisten Killer hatten einen Opfertyp. Was hatten Trina Simms und Emerson Cole gemeinsam?

»Emerson ist jung. Sie ist hübsch.« Dean verfiel in eine Art Singsang. »Sie schläft mit einem Mann, der sich für einen Daniel-Redding-Experten hält. Vielleicht habe ich sie deshalb gewählt.«

Wenn ich ein UNSUB analysierte, verwendete ich das Wort du . Wenn Dean es tat, sprach er in der Ich-Form.

»Aber vielleicht«, sagte Dean mit halb geschlossenen Augen, »habe ich mir ein Mädchen gesucht, das nicht mit mir schlafen wollte, und danach eine Frau, die mit dem Mann geschlafen hat, den ich nachahme.« Deans Stimme war seltsam nachdenklich. Ich spürte, wie er sich immer tiefer auf die Möglichkeiten einließ. »Wenn Redding nicht im Gefängnis sitzen würde, hätte er Trina Simms selbst umgebracht. Er hätte sie aufgeschlitzt und aufgehängt und jedes Mal gelacht, wenn sie schrie.«

Dean machte die Augen auf. Ein paar Sekunden lang war ich mir nicht sicher, ob er uns sah – auch nur einen von uns. Ich hatte keine Ahnung, was er dachte, aber ich wusste irgendwie, dass sich etwas verändert hatte – die Atmosphäre im Raum, sein Gesicht.

»Dean?«, sagte ich.

Er griff zum Telefon.

»Wen rufst du an?«, fragte Lia.

»Briggs«, antwortete Dean, ohne aufzusehen.

Als Briggs abnahm, lief Dean auf und ab. »Ich bin es«, sagte er. Briggs wollte etwas sagen, doch Dean schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, dass Sie an einem Tatort sind. Deshalb rufe ich ja an. Sie müssen nach etwas suchen. Ich weiß nicht was, jedenfalls nicht genau.« Dean setzte sich, um nicht weiter hin und her zu laufen. »Sie können mich später anschreien, Briggs. Jetzt muss ich wissen, ob auf den Beistelltischen oder auf dem Couchtisch im Simms-Haus noch etwas anderes ist als Zierdeckchen und Porzellanfiguren.« Dean legte den Unterarm auf die Knie und presste seinen Kopf darauf. »Sehen Sie einfach nach und sagen Sie mir, was Sie finden.«

Etwa eine Minute oder länger breitete sich Schweigen im Raum aus. Lia sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ebenso wenig Ahnung, was vor sich ging, wie sie. Gerade hatte Dean noch unseren Täter analysiert und jetzt rief er Befehle ins Telefon.

»Nichts?«, fragte Dean. Er atmete aus und setzte sich auf. »Keine Bücher, keine Spiele.« Dean nickte als Antwort auf eine Frage, die wir nicht hören konnten, und erkannte dann, dass Briggs ihn auch nicht sehen konnte. »Nein, schon gut. War nur so ein Gedanke. Es ist nichts. Es ist bestimmt nichts.« Ich konnte sehen, dass Dean aufhören wollte, dass er eigentlich nichts weiter sagen wollte. Doch er schaffte es nicht. »Können Sie in ihren Taschen nachsehen?«

Erneut schwieg Dean für eine Weile. Doch dieses Mal konnte ich genau sehen, wann Briggs wieder etwas sagte. Denn Dean erstarrte. Die nervöse Energie fiel von ihm ab. Er stellte keine weiteren Fragen.

»Das ist nicht gut«, murmelte Michael neben mir.

»Wir haben ein Problem«, stellte Dean fest. Seine Stimme klang gepresst. »Ich glaube nicht, dass unser UNSUB ein Nachahmer ist.« Er hielt inne und zwang sich dann zu einer Erklärung. »Ich glaube, mein Vater hat einen Partner.«