W oher weiß Redding, dass es ein Mädchen gibt?« Direktor Mullins ging in der Küche auf und ab, vorbei an Briggs, an seiner Tochter und uns allen, bis er vor Dean stehen blieb.
»Er hat mich gefragt, und ich habe ihm gesagt, da sei niemand«, erklärte Dean tonlos.
Judd beobachtete vom Küchentisch aus, wie Direktor Mullins Dean mit seinen Blicken durchbohrte.
»Also hat Redding dir entweder nicht geglaubt, oder er weiß etwas, oder er rät einfach.« Der Direktor überlegte kurz. »Mir gefällt die Vorstellung nicht, einen der anderen zu einer Befragung mitzunehmen. Wenn die falschen Leute davon Wind bekommen …«
Dean haben Sie bereits mitgenommen, dachte ich, aber wenn jemand herausfindet, dass Sie Dean benutzen, um Informationen von seinem Vater zu bekommen – das könnten Sie erklären.
»Ich kann nicht behaupten, dass mir die Vorstellung, einen von euch mit einem Serienmörder in einen Raum zu stecken, gefällt«, bemerkte Judd über seine Kaffeetasse hinweg. »Aber mich fragt ja keiner.«
»Wie auch immer«, fuhr der Direktor fort und ignorierte Judd. »Ich könnte noch einmal beim Gefängnisdirektor anrufen. Wenn man uns erlaubt, unsere eigenen Leute als Wachpersonal mitzubringen, und wenn die anderen Gefangenen und die Wächter den Zellenblock für diese Zeit verlassen, dann wäre ich bereit, eines der Mädchen mitzunehmen.«
»Mich«, sagte ich. Es war das Erste, was ich sagte, seit Briggs uns von Reddings Forderung erzählt hatte. »Mich müssen Sie mitnehmen.«
Ich war mit Dean nach Broken Springs gefahren. Wenn der Täter mit Redding kommunizieren konnte, dann war ich diejenige, die er sehen wollte.
»Ich könnte das machen«, sagte Lia ohne jede Einleitung. »Redding sagte, er würde reden, wenn Sie das Mädchen mitbringen. Er hat nicht gesagt, welches.«
»Lia«, sagte Dean leise. Sie drehte sich zu ihm um. »Ich will nicht, dass sich Cassie mit ihm in einem Raum aufhält. Was bringt dich auf die Idee, dass ich eher damit einverstanden wäre, dich ans Messer zu liefern?«
»Ich kann schon auf mich aufpassen.« Lia klang fast so wie Dean – leise und ohne ihre übliche Theatralik.
»Und ich nicht?«, fragte ich beleidigt.
»Vielleicht sollte ich gehen«, meinte Sloane nachdenklich.
»Nein«, sagten alle anderen einstimmig – einschließlich des Direktors.
»Ich kann Jiu Jitsu«, erklärte Sloane. »Und außerdem, wie ich gehört habe, liebt dieser besondere Zeuge es, mit Psychospielchen und subtiler Suggestion zu arbeiten, und das funktioniert bei mir nicht. Ich verstehe Zahlen und Fakten und die buchstäbliche Bedeutung von Worten, aber subtile Anspielungen sind bei mir reinste Zeitverschwendung.«
Dieser Logik konnte niemand widersprechen.
»Wahrscheinlich kann ich ihn beleidigen, ohne es groß zu versuchen.« Sloane wurde immer begeisterter. »Und wenn es mir zu viel wird, kann ich ihm immer noch ein paar Statistiken über domestizierte Frettchen an den Kopf werfen.«
»Das ist … äh … ein sehr großzügiges Angebot, Sloane, doch ich würde es vorziehen, wenn du hinter den Kulissen bleibst.« Die Stimme des Direktors klang ein wenig erstickt. »Es gibt eine Spiegelwand. Wenn wir das Gelände gesichert haben, spricht nichts dagegen, dass ihr von der anderen Seite aus zuseht.«
»Mir würde da schon etwas einfallen«, meinte Judd und setzte die Kaffeetasse ab.
»Bei allem Respekt, Judd«, erwiderte der Direktor schmallippig, »das hier ist eine Angelegenheit des FBI.«
Und Judd gehörte nicht zum FBI. Nach einem gespannten Augenblick des Schweigens stand unser Betreuer auf und ging hinaus.
»Cassie, Dean und Briggs gehen hinein«, erklärte der Direktor in der darauf folgenden Stille.
»Warum?« Dean machte einen Schritt auf den Direktor zu. »Warum wollen Sie überhaupt jemanden hinschicken? Wir haben nichts aus ihm herausbekommen und das werden wir auch nicht. Er wird nur mit uns spielen und es wird noch jemand sterben. Wir verschwenden unsere Zeit. Wir tun genau, was er will.«
»Er ist nervös«, kam Agent Mullins dem Direktor zuvor. »Er ist ein Narzisst. Wenn wir ihm genügend Seil geben, wird er sich selbst hängen, Dean.«
»Ich nehme an, deshalb war er beim ersten Mal so leicht zu schnappen«, erwiderte Dean.
»Ich bin bei ihm gewesen. Ich habe ihn gereizt und das wird sich zu unserem Vorteil auswirken.« Agent Mullins trat einen Schritt auf Dean zu. »Er will dieses Spiel nicht nur einfach gewinnen. Er will es auf eine Weise gewinnen, die uns verfolgen wird – und das bedeutet, wenn er glaubt, dass er die Oberhand hat, wird er uns etwas erzählen. Es wird Hinweise geben, weil er will, dass ich in fünf Jahren noch nachts wach liege und mich frage, warum ich sie nicht gesehen habe.«
»Das müssen Sie gar nicht«, erklärte Michael mit einem Blick auf Lia. »Wenn wir auf der anderen Seite der Glasscheibe sitzen, werden wir es sehen.«
»Was ist eigentlich aus dem Vorsatz geworden, uns aus dem Fall herauszuhalten?«, erkundigte sich Dean ärgerlich bei Agent Mullins. »War es nicht das, was Sie wollen? Dass wir normal und behütet sind?«
Das saß.
»Wenn ich dir Normalität bieten könnte, würde ich es tun«, antwortete Agent Mullins scharf. »Aber das kann ich nicht, Dean. Ich kann die Dinge, die dir geschehen sind, nicht ungeschehen machen. Ich kann weder dich noch die anderen dazu bringen, normal sein zu wollen. Ich habe versucht, euch herauszuhalten. Ich habe versucht, euch alle wie Kinder zu behandeln, das hat allerdings nicht funktioniert. Also ja, ich bin eine gemeine Heuchlerin, aber wenn ihr fünf uns dabei helfen könnt, diesen Mann daran zu hindern, noch jemanden zu ermorden, dann werde ich mich euch nicht widersetzen.« Sie sah ihren Vater an und fügte hinzu: »Ich bin fertig mit dem Widerstand.«
•••
Der Befragungsraum war kleiner, als er im Video ausgesehen hatte, und klaustrophobischer als von der anderen Seite des Spiegels aus. Dean, Briggs und ich kamen zuerst. Ein Agent aus Briggs’ Team, ein Mann, den ich als Agent Vance kannte, ging Deans Vater vom Gefängnispersonal abholen. Nachdem der Direktor darauf hingewiesen hatte, dass Reddings Beteiligung an diesem Fall unter der Nase des Gefängnisleiters stattgefunden hatte, war dieser wesentlich entgegenkommender als zuvor – ein schöner Kontrast zu der Behandlung, die Agent Mullins und ich bei unserem letzten Besuch erfahren hatten.
Ich setzte mich an den Tisch und wartete, bis Dean und Briggs sich neben mir niederließen.
Doch sie blieben stehen und sahen mir über die Schulter wie zwei Geheimagenten, die den Präsidenten flankierten. Quietschend ging die Tür auf, und ich musste mich zurückhalten, um mich nicht umzudrehen und Daniel Redding zuzusehen, wie er von der Tür zum Tisch ging. Agent Vance machte die Kette fest, prüfte sie und trat dann zurück.
Redding hatte nur Augen für mich. »Du bist also das Mädchen.«
Seine Stimme war musikalisch, was in den Aufzeichnungen nicht deutlich geworden war.
»Du bist ruhig«, bemerkte Redding. »Und hübsch.« Er lächelte mich leise an.
»Nicht so sehr hübsch«, entgegnete ich.
Er legte den Kopf schief. »Weißt du, ich denke, das glaubst du tatsächlich.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Bescheidenheit ist eine angenehme Eigenschaft bei jemandem aus deiner Generation. Meiner Erfahrung nach überschätzen die meisten jungen Leute ihre Fähigkeiten und Eigenschaften. Sie werden zu schnell zu selbstsicher.«
Die DNA unter Trina Simms’ Fingernägeln, dachte ich. Davon konnte Redding nichts wissen – dennoch war ich mir bewusst, dass sein Gespräch auf zwei Ebenen verlief, der offensichtlichen und einer darunterliegenden.
Agent Briggs legte mir die Hand auf die Schulter, und ich wandte meine Aufmerksamkeit der Liste mit Fragen zu, die ich vor mir liegen hatte – Agent Mullins’ Liste.
»Ich hätte ein paar Fragen«, begann ich. »Würden Sie sie mir beantworten, wenn ich sie Ihnen stelle?«
»Ich werde sogar noch mehr tun«, gab Redding zurück. »Ich werde die Wahrheit sagen.«
Das werden wir ja sehen. Oder besser gesagt, Lia würde das von ihrem Platz hinter dem Spiegel aus sehen.
»Lassen Sie uns von Ihrem Partner sprechen«, fing ich an.
»Den Begriff Partner würde ich eigentlich nicht verwenden.«
Das wusste ich – und hatte ihn absichtlich benutzt. Agent Mullins hatte vermutet, dass es für uns ein Vorteil war, wenn Redding das Gefühl hatte, die Kontrolle zu haben. Er sollte mich für ein normales Mädchen halten und nicht für eine Gegnerin.
»Welchen Begriff würden Sie dann wählen?«
»Sagen wir doch Lehrling .«
»Ist Ihr Lehrling ein Student?«, fragte ich.
Redding antwortete, ohne zu zögern: »Ja.«
»Hat Ihr Lehrling nie eine Universität besucht?«
Falls Redding es für merkwürdig hielt, dass ich die Frage in zwei Versionen stellte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Ja.«
»Ist Ihr Lehrling jünger als einundzwanzig?«
»Ja.«
»Ist Ihr Lehrling älter als einundzwanzig?«
Er lächelte. »Ja.«
»Haben Sie Ihren Lehrling durch Briefkontakt kennengelernt?«
»Ja.«
»Haben Sie Ihren Lehrling persönlich getroffen?«
»Ja.«
Es gab noch weitere Fragen, die ich ihm stellte und die er alle auf ähnliche Weise beantwortete. Als ich zum Ende kam, hoffte ich kurz, dass Lia uns sagen konnte, welche Antwort in jedem Fragenpaar richtig und welche mit einer Lüge beantwortet worden war.
»Noch irgendwelche Fragen?«, fragte Redding.
Ich schluckte. Eigentlich sollte ich Nein sagen. Ich sollte aufstehen und gehen, doch ich konnte nicht.
»Versuchen Sie, Dean zu ersetzen?«, fragte ich. Es war schwer, ihn anzusehen und nicht Locke vor mir zu sehen und wie sie mich angestarrt hatte.
»Nein. Ein Mann kann nicht einfach sein bestes Werk ersetzen«, lächelte Redding. »Jetzt bin ich dran mit der Fragestunde: Magst du meinen Sohn?«
»Ja«, antwortete ich knapp. »Warum wollten Sie, dass ich herkomme?«
»Weil du ein Teil von Deans Leben bist und somit Teil von meinem Leben.« Etwas in Reddings Augen ließ mich erschaudern. »Weißt du, was er getan hat? Was er ist?«
Ich spürte, wie Dean hinter mir erstarrte, doch ich widerstand dem Drang, mich umzudrehen. »Ich weiß von Veronica Mullins. Ich weiß von Gloria und den anderen.«
Das war nicht ganz wahr – aber ich ließ Redding in dem Glauben, dass Dean mir alles erzählt hatte.
»Und es ist dir egal?«, fragte Redding forschend. »Du findest die dunkle Seite anziehend.«
»Nein«, widersprach ich. »Ich finde Dean anziehend. Und es ist mir nicht egal, weil ich ihn mag. Ich bin dran. Sie schulden mir noch zwei Fragen.«
»Frag nur.«
Mein Instinkt sagte mir, dass Briggs mich nicht mehr lange weitermachen lassen würde, daher wählte ich meine Fragen sorgfältig.
»Wie wählen Sie aus, wer stirbt?«, wollte ich wissen.
Redding legte die Handflächen auf den Tisch und erwiderte: »Das tue ich nicht.«
Er log. Er musste lügen. Die einzige Verbindung zwischen Trina Simms und Emerson Cole war eine Verbindung zu Redding gewesen.
»Ich glaube, ich schulde dir noch eine Antwort.«
»Schön«, sagte ich. »Erzählen Sie mir etwas, das ich nicht weiß.«
Redding kicherte. »Ich mag dich«, stellte er fest. »Wirklich.«
Ich wartete ab. Wenn man ihm genügend Seil gibt, wird er sich selbst hängen, dachte ich.
»Etwas, das du nicht weißt«, überlegte Redding. »Na gut. Versuchen wir es damit: Du wirst nie den Mann finden, der deine Mutter ermordet hat.«
Ich konnte nicht antworten. Ich konnte kaum atmen. Mein Mund war auf einmal staubtrocken. Meine Mutter? Was wusste er über meine Mutter?
»Das reicht«, sagte Dean scharf.
»Oh, aber wir unterhalten uns doch gerade so nett«, gab Redding zurück. »Wir Häftlinge tun das viel, weißt du, uns unterhalten.«
Er wollte mich glauben machen, dass er im Gefängnis etwas darüber gehört hatte, was mit meiner Mutter passiert war. Das bedeutete aber auch, dass er wusste, wer ich war – zumindest wusste er genug über mich, um zu wissen, dass meine Mutter verschwunden, vermutlich tot war.
Obwohl mir das Herz in der Brust hämmerte, überkam mich auf einmal eine unnatürliche Ruhe. »Erzählen Sie mir etwas über diesen Fall, das ich nicht weiß«, forderte ich ihn auf.
»Dann erlaube mir, dir meinen Masterplan vorzustellen«, verkündete Redding trocken. Sein Tonfall war scherzhaft, aber sein Blick war starr, wie tot. »Ich werde in meiner Zelle sitzen und warten, und während ich warte, werden noch weitere Menschen sterben. Agent Briggs wird gleich einen Anruf deswegen bekommen und der Nächste stirbt irgendwann morgen. Und dann werden sich die Opfer häufen. Eine Leiche nach der anderen, weil Briggs und Mullins nicht gut genug sind.« Redding verlagerte seinen Blick von mir zu Briggs. »Weil ihr nicht klug genug seid.« Dann sah er zu Dean. »Weil ihr schwach seid.«
Ich stieß meinen Stuhl vom Tisch zurück und prallte dabei gegen Dean. Er behielt das Gleichgewicht und ich stand auf.
Wir sind hier fertig, dachte ich, sagte aber nichts. Hintereinander verließen Briggs, Dean und ich den Raum und ließen Deans Vater an den Tisch gekettet allein zurück.