I ch saß auf einer der mittleren Treppenstufen und wartete. Seit vierzehn Stunden versuchte das FBI, Christopher Simms aufzutreiben. Daniel Redding hatte uns eine weitere Leiche für heute versprochen, doch ich konnte nur abwarten – ob wir richtiglagen. Ob sie ihn rechtzeitig fassen würden. Ich schaffte es nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu rühren, konnte absolut nichts tun, außer über die Beweise nachzudenken und zu beten, dass, wenn das Telefon klingelte, wir die Nachricht bekamen, dass sie den Verdächtigen verhaftet hatten, und nicht, dass es ein fünftes Opfer gab.
Egal wie oft ich den Fall auch durchging, die Details blieben dieselben. Clark hatte Emerson gewählt, und jemand anderes hatte sie getötet, als er ein bombensicheres Alibi hatte. Und dieser Jemand hatte ein weiteres Opfer gewählt – Trina Simms.
Ich erinnerte mich an Christophers Augen, als er mich am Arm gepackt und vom Sofa hochgezogen hatte. Er hatte es satt, von seiner Mutter unterdrückt zu werden. Wie konnte er sich besser rächen, als sie – über Umwege – von dem Mann umbringen zu lassen, für den sie romantische Gefühle hegte?
Alles lief auf Daniel Redding hinaus. Christopher hatte vielleicht beschlossen, dass Trina sterben sollte, aber Redding hatte beschlossen, Christopher als Lehrling anzunehmen. Möglicherweise hatte Deans Vater Trina benutzt, um an ihren Sohn heranzukommen. Und mit Sicherheit hatte er Clark angewiesen, mit ihrer Ermordung zu warten, bis sie Besuch von Dean bekommen hatte.
Wie lange plant er das schon? Wie viele Dinge hat er ins Rollen gebracht, bevor Emersons Leiche auf dem Rasen gefunden wurde? Ich wandte den Kopf nach links und sah zur Wand. An der Treppe hingen Porträts – unser Heim wurde von Serienkillern geziert, als gehörten sie zur Familie.
Was für eine wundervolle Ironie.
In meiner Hand hielt ich den Red-Rose-Lippenstift. Ich nahm die Kappe ab und drehte ihn hoch, bis die rote Farbe über den Rand der Plastikhülle ragte.
Du wirst nie den Mann finden, der deine Mutter ermordet hat. Reddings Worte kamen mir in den Sinn und verspotteten mich.
»Was dagegen, wenn ich dir beim Warten Gesellschaft leiste?«
Ich sah über die Schulter hinweg zu Dean auf, der oben an der Treppe stand. »Setz dich.«
Anstatt sich auf eine Stufe über mir zu setzen, kam er herunter und setzte sich neben mich. Die Treppe war breit genug, dass zwischen uns noch Platz war, aber viel war es nicht. Er warf einen Blick auf den Lippenstift in meiner Hand.
Er weiß es, dachte ich. Er weiß, dass er von Locke ist und warum ich ihn behalte.
»Ich muss die ganze Zeit an diese Typen denken«, sagte Dean nach einer Weile. »Gary Clarkson. Christopher Simms. Sie waren nie das eigentliche Ziel meines Vaters.«
Ich drehte den Lippenstift herunter und setzte den Deckel auf.
»Das bist du«, stellte ich fest. Ich wusste, dass es stimmte, denn irgendwie wusste ich, dass es hierbei immer um Dean gegangen war.
Dean schloss die Augen. Ich spürte ihn neben mir, spürte ihn tief ein- und ausatmen. »Ich weiß nur nicht, ob mein Vater die ganze Sache bloß angefangen hat, um mich zu zwingen, zu ihm zu kommen, oder ob er darauf setzt, dass einer seiner Lehrlinge sich schließlich als der Bessere beweisen will, indem er mich umbringt.«
Dean machte die Augen wieder auf und ich dachte über seine Worte nach. Emersons Mörder hatte Clark umgebracht. Das war das Werk eines Täters, der Reddings einziger Lehrling sein wollte. Sein einziger Erbe. Sein einziger Sohn.
»Dein Vater will nicht, dass du stirbst«, sagte ich zu Dean. Für Redding wäre das nur ein letzter Ausweg. Er würde Dean nur umbringen, wenn er glauben müsste, dass er ihn tatsächlich verloren hatte. Und Daniel Redding konnte gar nicht glauben, dass er jemals verlieren könnte.
»Nein«, stimmte Dean zu. »Er will nicht, dass ich sterbe, aber wenn einer der Täter weiter gegangen wäre, wenn einer von ihnen gekommen wäre, um mich zu töten, dann hätte ich mich gewehrt.«
Vielleicht sollte es Reddings Meinung nach genau so enden – damit, dass Dean jemanden tötete. Redding betrachtete Dean als eine Erweiterung seiner selbst. Natürlich ging er davon aus, dass Dean gewinnen würde – und wenn nicht, nun, dann glaubte er vielleicht, dass er es verdient hatte. Weil er schwach war.
Weil er nicht der Sohn seines Vaters war.
Das Telefon klingelte. Ich erstarrte und blieb wie festgefroren sitzen, unfähig, mich zu rühren, unfähig, zu atmen. Zwei Sekunden später hörte das Klingeln auf. Jemand hatte abgenommen.
Bitte lass sie ihn rechtzeitig gefunden haben! Bitte lass sie ihn rechtzeitig gefunden haben!
»Dean.« Mit trockenem Mund zwang ich mich, seinen Namen auszusprechen. Er saß ebenso reglos neben mir. »Letzten Sommer, nachdem das alles geschehen ist, hat Michael mir gesagt, ich solle herausfinden, was ich empfinde. Für dich.«
Ich wusste nicht, warum ich das jetzt sagte – aber ich musste es tun. Gleich würde jemand mit den Neuigkeiten kommen. Gleich würden sich die Dinge verändern. Ich kam mir vor wie ein Zug, der in einen Tunnel rast.
Bitte nicht noch eine Leiche.
»Townsend. Er bedeutet dir etwas«, stellte Dean fest, ebenso heiser wie ich. »Er bringt dich zum Lächeln.« Und du verdienst es zu lachen , hörte ich ihn fast hinzufügen. Ich spürte, wie er gegen die nächsten Worte ankämpfte und sie dennoch sagen musste. »Und was hast du herausgefunden?«
Er fragte. Und wenn er fragte, bedeutete das, dass er es wissen wollte, dass ihm die Antwort etwas bedeutete. Ich schluckte.
»Dean … ich muss wissen, was du empfindest. Für mich.«
Gleich werden sich die Dinge ändern.
»Ich empfinde … etwas«, brachte Dean hervor. Er sah mich an und sein Bein berührte meines. »Aber ich weiß nicht, ob ich … ich weiß nicht, ob es genug ist.« Er umfasste meine Hand mit dem Lippenstift. »Ich weiß nicht, ob ich das kann …«
Ob du was kannst? Dich öffnen? Loslassen? Riskieren, dass irgendetwas so wertvoll für dich wird, dass dich der Verlust in einen Abgrund stürzen würde?
Unten an der Treppe erschien Michael und Dean ließ meine Hand los.
Michael blieb stehen und sah zu uns hoch. »Sie haben ihn gefunden. Briggs’ Team hat Christopher Simms gefunden.«
•••
Sie hatten Christopher Simms vor einem Café verhaftet, wo er auf ein Mädchen wartete. In seinem Truck fanden sie Plastikhandschellen, ein Jagdmesser, ein Brenneisen und schwarzes Seil aus Nylon.
Eine Leiche nach der anderen, weil Briggs und Mullins nicht gut genug sind. Das hatte Redding versprochen. Weil ihr nicht klug genug seid. Weil ihr schwach seid.
Aber wir waren nicht schwach und dieses Mal hatten wir gewonnen. Das Jagdmesser würde kein Mädchen mehr aufschlitzen. Ihre Hände würden nicht auf den Rücken gefesselt werden. Sie würde nicht spüren, wie ihr das glühende Eisen ins Fleisch drang.
Wir hatten das Mädchen im Café gerettet, so wie wir Mackenzie McBride gerettet hatten. Hätte ich mich nicht Daniel Redding gegenübergesetzt, wäre jetzt ein weiteres Opfer tot. Wenn Mullins ihn nicht so gereizt hätte, dass er uns mit der Wahrheit zu quälen versucht hatte. Wenn Lia nicht hinter dem Spiegel gesessen hätte, um Reddings Täuschung zu durchschauen, und keine gefunden hatte. Wenn Sloane nicht erkannt hätte, dass Lias Fähigkeit nicht versagt hatte. Wenn Michael und ich Clark nie getroffen hätten. Wenn Dean nicht zu Trina gegangen wäre – wie wäre das alles dann ausgegangen?
Dean verarbeitete die Nachricht auf seine Weise, und Michael war gegangen, um an seinem Auto zu arbeiten. Ich stand im Hof und betrachtete mit dem Lippenstift in meiner Hand die Mülltonne.
Ich war der Akademie beigetreten, weil ich gehofft hatte, ein anderes kleines Mädchen davor retten zu können, in ein blutverschmiertes Zimmer zu kommen. Genau das taten wir. Trotzdem konnte ich den Lippenstift nicht wegwerfen. Ich konnte die Tür zu meiner Vergangenheit nicht schließen.
Du wirst nie den Mann finden, der deine Mutter ermordet hat.
Woher wollte Redding das wissen? Das war unmöglich. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass eine kleine Stimme in meinem Kopf sagte: Gefängnistratsch. Woher wusste Deans Vater überhaupt, dass meine Mutter tot ist?
»Nicht.« Michael trat hinter mich. Ich schloss die Finger um den Lippenstift und steckte ihn in die Hosentasche.
»Nicht was?«, fragte ich.
»Denk nicht an etwas, das dazu führt, dass du dich klein und furchtsam fühlst, das dich glauben lässt, kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.«
»Du stehst hinter mir«, stellte ich fest, ohne mich umzudrehen. »Wie willst du von da aus meine Emotionen lesen können?«
Michael trat vor mich. »Wenn ich dir das sagen würde, müsste ich dich umbringen«, scherzte er und fügte hinzu: »Ist es noch zu früh?«
»Witze darüber zu machen, mich umzubringen? Niemals«, antwortete ich trocken.
Michael strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich erstarrte.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß, dass du ihn magst. Ich weiß, dass du dich zu ihm hingezogen fühlst. Dass du mitleidest, wenn er leidet. Dass er dich nie so ansieht wie Lia, dass du für ihn keine Schwester bist. Ich weiß, dass er dich will. Er ist total vernarrt in dich. Aber ich weiß auch, dass er sich die meiste Zeit dafür hasst.«
Ich dachte an Deans Worte vorhin auf der Treppe. Dass er etwas empfinde, aber nicht sicher sei, ob es reichen würde.
»Das ist der Unterschied zwischen uns beiden«, erklärte Michael. »Ich will dich nicht nur.« Jetzt legte er beide Hände an mein Gesicht. »Ich will dich auch wollen.«
Michael war jemand, der eigentlich nicht zuließ, etwas zu wollen. Und wenn, dann würde er es niemals zugeben, das war für ihn ein absolutes No-Go. Er ließ nichts an sich herankommen, denn er wartete nur darauf, enttäuscht zu werden.
»Ich bin hier, Cassie. Ich weiß, was ich fühle, und ich weiß, dass du es auch fühlst, wenn du deinen Widerstand aufgibst und es zulässt.« Er strich mir leicht mit den Fingern über den Nacken. »Ich weiß, dass du Angst hast.«
Mein Herz klopfte so heftig, dass ich es bis in meinen Bauch spürte. Ein Strudel von Erinnerungen schoss durch meinen Kopf wie Wasser aus einem kaputten Wasserhahn.
Michael, wie er ins Diner in Colorado kommt, in dem ich arbeite. Michael im Swimmingpool, der mich bei einem mitternächtlichen Bad küsst. Michael, der sich neben mich aufs Sofa setzt. Michael, der mit mir auf dem Rasen tanzt. Michael, der an dieser Todesfalle von einem Auto arbeitet.
Michael, der beiseitetritt und versucht, ein anständiger Kerl zu sein. Für mich.
Aber in meinem Kopf gab es nicht nur Michael, sondern auch Dean.
Dean, der neben mir auf der Treppe sitzt, sein Knie an meines gelehnt. Dean, dessen blutigen Knöchel ich versorge. Dean und ich, wie wir Geheimnisse austauschen. Dean, der auf der Erde vor dem verrotteten Zaun um sein altes Haus kniet.
Michael hatte recht. Ich hatte Angst. Angst vor meinen eigenen Gefühlen, Angst davor, mich nach jemandem zu sehnen und ihn zu lieben. Angst davor, einen von ihnen zu verletzen.
Angst, jemanden zu verlieren, den ich liebte, wo ich doch schon so viel verloren hatte.
Aber Michael war hier und sagte mir, was er empfand. Er ebnete das Spielfeld und bat mich zu wählen.
Er sagte: Wähle mich .
Michael zog mich nicht an sich. Er neigte sich nicht vor. Es war meine Entscheidung. Aber er war mir so nah, dass meine Hände langsam ihren Weg zu seinen Schultern fanden.
Zu seinem Gesicht.
Trotzdem wartete er – darauf, dass ich es sagte, dass ich die Lücke zwischen seinem Mund und meinem schloss. Ich schloss die Augen.
Das nächste Mal, wenn sich unsere Lippen berühren, das nächste Mal, wenn du deine Hände in mein Haar wühlst, dann bin ich der Einzige, an den du denken wirst. Das waren seine Worte gewesen.
Ich wollte nicht länger darüber nachdenken. Ich machte die Augen auf und …
Plötzlich tönte um uns herum Mariachi-Musik. Vor Schreck sprang ich fast einen halben Meter in die Luft und Michael hätte auf seinem verletzten Bein beinahe das Gleichgewicht verloren. Gemeinsam drehten wir uns um und sahen Lia an ein paar Lautsprechern herumspielen.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, rief sie über die Musik hinweg.
»Feliz Navidad ?«, fragte Michael. »Echt jetzt? Dein Ernst?«
»Du hast recht«, gab Lia zu, so ernst und demütig, wie man sein konnte, wenn man den Lärm eines zeitlich überaus fehlplatzierten Weihnachtsliedes übertönen wollte. »Es ist ja gerade erst Oktober. Ich suche ein anderes Lied.«
Sloane steckte den Kopf zur Hintertür hinaus und fragte fröhlicher, als wir sie in den letzten Tagen erlebt hatten: »Wusstet ihr, dass eine Motorsäge Lärm von hundertzehn Dezibel erzeugt?«
Michael sah geradezu mordlüstern aus, doch selbst er brachte es nicht fertig, Sloane mit diesem finsteren Blick anzusehen. »Nein«, seufzte er, »wusste ich nicht.«
»Ein Motorrad liegt eher bei hundert«, verkündete Sloane gut gelaunt weiter. »Ich wette, diese Musik liegt bei hundertdrei. Und ein halb. Hundertdrei und ein halb.«
Endlich hatte Lia ein Tanzlied gefunden. »Kommt!«, verlangte sie und kam auf uns zu, um mich an der einen und Sloane an der anderen Hand zu nehmen. »Wir haben den bösen Buben erwischt.« Sie zog uns auf den Rasen und wiegte die Hüften im Takt zur Musik. Ihr Blick warnte mich, ihr zu widersprechen. »Ich finde, das muss gefeiert werden. Ihr etwa nicht?«