Kapitel 43

M itten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Das hätte mich nicht überraschen sollen. Seit fünf Jahren suchten mich Albträume in unregelmäßigen Abständen heim. Natürlich hatten Reddings Psychospielchen sie wieder hervorgelockt.

Aber es ist nicht nur das , gestand ich mir mit brutaler Ehrlichkeit ein. Sie kommen, wenn ich unter Stress stehe. Wenn sich etwas verändert.

Es ging nicht nur um Redding. Es ging um Michael und Dean, aber am meisten ging es um mich. Sloane hatte mich beim Spiel Wahrheit oder Tat? einmal gefragt, wie viele Menschen ich liebte. Nicht auf romantische Art, sondern die ich einfach nur liebte. Damals hatte ich mich gefragt, ob das Leben mit meiner Mutter meine Fähigkeit, andere Menschen zu lieben, im Keim erstickt hatte. Denn durch unser Nomadendasein hatte ich niemanden außer ihr gehabt, hatte keine Beziehung zu anderen Menschen aufgebaut – und sie dann auf diese schreckliche Weise verloren.

Einen Menschen , hatte ich Sloane geantwortet.

Aber jetzt …

Willst du wissen, warum du mich besonders interessierst, Cassie? , fielen mir Agent Mullins’ Worte ein. Du bist diejenige, die wirklich etwas fühlt. Du kannst gar nicht aufhören, etwas zu empfinden. Für dich geht es immer um die Opfer und deren Familien. Es ist immer persönlich.

Ich litt mit den Opfern, für die wir kämpften – mit Mackenzie McBride und dem namenlosen Mädchen im Café. Ich litt mit den Menschen in diesem Haus – nicht nur mit Michael und Dean, sondern auch mit Sloane und Lia. Lia, die sich für Dean ins offene Feuer gestürzt hätte.

Lia, die sich vorhin mit der gleichen Entschlossenheit zwischen Michael und mich geworfen hatte.

Ich versuchte, meinen Geist zum Schweigen zu bringen und wieder einzuschlafen.

Mackenzie McBride. Das Mädchen im Café. Meine Gedanken begannen wieder zu kreisen. Warum? Ich drehte den Kopf auf die Seite. Meine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug.

Das FBI war an den Fall Mackenzie McBride falsch herangegangen. Die Agenten hatten den Täter übersehen, der sich vor aller Augen verborgen hatte. Aber wir hatten nichts übersehen. Christopher Simms war der Täter. Wir hatten ihn auf frischer Tat ertappt. Er hatte alles Zubehör im Wagen gehabt – Fesseln für Hände und Füße des Mädchens, ein Messer und das Brandeisen.

Das Mädchen im Café. Immer wieder musste ich an sie denken. Wer war Christophers Opfer? Redding hatte gewusst, dass heute jemand sterben sollte. Er hatte uns gesagt, dass wir damit rechnen sollten.

Wie wählen Sie aus, wer stirbt?

Das tue ich nicht.

Clark hatte Emerson gewählt.

Christopher hatte seine Mutter gewählt.

Fogle war nur ein Hindernis gewesen, das aus dem Weg geräumt werden musste.

Wer also hatte das Mädchen ausgewählt?

Die Frage ließ mir keine Ruhe. Vielleicht war es nicht wichtig, aber ich schlich mich trotzdem aus dem Bett und aus dem Zimmer. Nur meine leichten Schritte waren zu hören, als ich durch das stille Haus und die Treppe hinunterlief. Die Tür zum Arbeitszimmer – Agent Mullins’ derzeitiger Unterkunft – stand einen Spalt offen, und der schwache Lichtschein von drinnen sagte mir, dass auch sie nicht schlief.

Unschlüssig blieb ich vor der Tür stehen und konnte mich nicht durchringen zu klopfen. Plötzlich flog die Tür auf, und dahinter stand Agent Mullins, das braune Haar offen und verstrubbelt, ihr Gesicht ohne Make-up und mit schussbereiter Pistole. Als sie mich sah, stieß sie den Atem aus und senkte die Waffe.

»Cassie! Was machst du denn hier?«

»Ich wohne hier«, gab ich automatisch zurück.

»Du wohnst vor meiner Zimmertür?«

»Sie sind auch nervös«, stellte ich fest. So viel erkannte ich schon an der Tatsache, dass sie bewaffnet zur Tür getreten war. »Sie können nicht schlafen. Ich auch nicht.«

Verärgert schüttelte sie den Kopf – aber ob sie sich über mich ärgerte oder über sich selber, konnte ich nicht sagen. Dann trat sie einen Schritt zurück und lud mich ein. Ich betrat das Zimmer und sie schloss die Tür hinter mir und schaltete die Deckenlampe ein.

Ich hatte ganz vergessen, dass Briggs’ Arbeitszimmer voller ausgestopfter Tiere war – Raubtiere kurz vor dem Angriff.

»Kein Wunder, dass Sie nicht schlafen können«, bemerkte ich.

Sie unterdrückte ein Lächeln.

»Er hatte schon immer einen Hang zum Dramatischen.« Sie setzte sich auf die Klappcouch. Mit offenem Haar sah sie jünger aus. »Warum kannst du nicht schlafen? Macht dir die Fußfessel zu schaffen?«

Ich sah verwundert auf meine Füße, als wären sie gerade erst an meinem Körper aufgetaucht. Das ständige Gewicht an meinem rechten Knöchel hätte mich eigentlich mehr plagen sollen, aber in den letzten Tagen war so viel geschehen, dass ich es kaum bemerkt hatte.

»Nein«, antwortete ich. »Ich meine, ja, es wäre schön, wenn Sie sie abmachen könnten, aber deswegen bin ich nicht hier. Es ist wegen dem Mädchen, das Christopher Simms in dem Café treffen wollte. Die er entführen wollte.«

Ich sprach nicht aus, was er sonst noch mit ihr vorgehabt hatte, aber ich kannte Agent Mullins mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ihre Gedanken in die gleiche Richtung gingen wie meine.

»Was ist mit ihr?«, fragte Mullins leicht heiser. Ich fragte mich, wie viele Nächte sie wohl so schlaflos verbrachte.

»Wer ist sie?«, erkundigte ich mich. »Warum wollte sie sich mit Christopher treffen?«

»Sie arbeitet in dem Café«, erwiderte Mullins. »Sie hatte mit jemandem auf einer Online-Dating-Seite gechattet. Er benutzte einen falschen Namen und nur Computer an öffentlichen Orten, aber es ist zu vermuten, dass es Christopher war, der mit der Opferwahl einen Schritt weiter ging. Seine Mutter war tot. Er hatte Emerson getötet – vielleicht hatte er da Geschmack an Mädchen im College-Alter gefunden.«

Der Fremde im Zug, dachte ich. »Christopher hatte ein Alibi für den Mord an seiner Mutter. Clark hatte eines für den an Emerson.« Ich schluckte. Mein Mund war so trocken, dass ich kaum sprechen konnte. »Vielleicht war es das. Vielleicht war Christopher nach Clarks Tod allein – aber Redding wusste, dass bald noch jemand sterben würde, außer Clark. Es war geplant. Und wenn es zum Plan gehörte …«

Ich setzte mich neben Agent Mullins und hoffte, dass sie verstand, was ich sagen wollte, auch wenn ich nicht sicher war, ob das, was ich sagte, einen Sinn ergab.

»Was, wenn es nicht Christopher war, der online mit diesem Mädchen kommunizierte? Was, wenn nicht er sie ausgesucht hat?«

Clark wählte Emerson.

Christopher wählte seine Mutter.

Beide hatten felsenfeste Alibis für den Mord an den Frauen, die sie ausgesucht hatten. Was, wenn sie nicht die Einzigen waren?

»Du glaubst, dass es noch einen Dritten gibt«, sprach Mullins meine Überlegungen aus. Damit wurde es real. Ich stützte mich mit den Handballen auf die Bettkante, um mein Gleichgewicht zu halten.

»Hat Christopher den Mord an Emerson gestanden?«, fragte ich. »Gibt es tatsächliche Beweise, die ihn mit dem Tatort in Verbindung bringen? Irgendwelche Indizienbeweise? Irgendetwas, abgesehen von der Tatsache, dass er geplant hat, ein weiteres Mädchen zu töten?«

Agent Mullins’ Telefon klingelte. Es war ein greller Ton, der im Gegensatz zu meinen ruhigen Fragen stand. Anrufe um zwei Uhr nachts bedeuteten nie etwas Gutes.

»Mullins.« Ihre Haltung veränderte sich, als sie ans Telefon ging. Das war nicht mehr die Frau mit den wirren Haaren, die auf dem Bettrand saß. Dies war die Agentin. »Was soll das heißen, er ist tot?«, fragte sie, und dann: »Ich weiß, was das Wort tot bedeutet, Dad. Was ist passiert? Wann hast du den Anruf bekommen?«

Jemand war tot. Dieses Wissen drückte mich nieder und ließ mein Herz heftig gegen die Rippen schlagen. So wie sie spricht, ist es jemand, den wir kennen. Sobald mir das klar wurde, stieg ein Stoßgebet in mir auf, das meine Gedanken beherrschte und alles andere übertönte.

Bitte lass es nicht Briggs sein!

»Nein, das ist kein Segen«, sagte Agent Mullins scharf. »Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.«

Es ist nicht Briggs, dachte ich. Direktor Mullins hätte den Tod seines früheren Schwiegersohnes bestimmt nicht als einen Segen bezeichnet.

»Hörst du mir zu, Dad? Direktor, ich glaube, es könnte …« Sie brach ab. »Wer ist wir ? Ob es eine Rolle spielt, wer wir sind? Ich sage dir …«

Sie sagte ihm gar nichts, weil er gar nicht zuhörte.

»Ich weiß, dass es politisch gesehen für dich vorteilhaft wäre, wenn dieser Fall abgeschlossen wäre und wenn es nie zur Gerichtsverhandlung käme, weil der erste Mörder den zweiten umgebracht und sich dann in seiner Zelle mit den Bettlaken erhängt hat. Das ist sauber und ordentlich. Es ist zweckmäßig. Direktor?« Sie hielt inne. »Direktor? Dad?« Heftig drückte sie auf den Bildschirm und warf das Telefon weg.

»Er hat einfach aufgelegt«, sagte sie. »Er hat mir erzählt, dass er einen Anruf vom Gefängnis bekommen hat, in dem man ihm mitteilte, dass man Christopher Simms tot in seiner Zelle gefunden hat. Er hat sich erhängt – zumindest lautet so die derzeitige Theorie.«

Agent Mullins glaubte also, dass zumindest die Möglichkeit bestand – und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit –, dass jemand anders Christopher Simms das angetan hatte. Hatte Redding es irgendwie geschafft, dass er umgebracht wurde?

Oder hatte derjenige, der Emerson Cole getötet hatte – und vielleicht auch Clark –, sein Werk vollendet?

Es waren drei Täter. Zwei davon waren tot.

Wenn es einen dritten überhaupt gab, wenn da noch jemand war …

Agent Mullins riss ihren Kofferdeckel hoch.

»Was haben Sie vor?«

»Ich ziehe mich an«, verkündete sie knapp. »Wenn auch nur der Hauch einer Gefahr besteht, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen ist, arbeite ich daran.«

»Ich komme mit Ihnen.«

Sie sah nicht einmal auf. »Danke, aber nein danke. Ein paar Skrupel habe ich doch noch. Wenn da draußen ein Killer frei herumläuft, werde ich nicht dein Leben aufs Spiel setzen.«

Aber das eigene zu riskieren ist in Ordnung? , wollte ich fragen, ließ es allerdings sein. Stattdessen ging ich nach oben und zog mich ebenfalls an. Ich sah sie die Auffahrt zu ihrem Wagen entlanggehen.

»Treffen Sie sich dort wenigstens mit Briggs?«, rief ich ihr nach. »Wo auch immer dort ist.«

Sie drückte auf den Knopf am Schlüssel, um ihren Wagen zu entriegeln. Die Lichter blitzten einmal auf, dann wurde es wieder dunkel.

»Es ist zwei Uhr morgens«, sagte Agent Mullins kurz angebunden. »Geh einfach wieder ins Bett.«

Eine Woche zuvor hätte ich noch mit ihr gestritten und mich geärgert, dass sie mich so beiseiteschob. Aber irgendwie konnte ich sie zumindest teilweise verstehen – selbst nach allem, worum sie uns gebeten hatte, war ihr erster Wunsch immer noch, uns zu beschützen. Sie würde ihr eigenes Leben riskieren, aber nicht meines.

Und wer beschützt dich? , fragte ich mich.

»Rufen Sie Briggs an, dann gehe ich ins Bett«, versprach ich.

Obwohl es dunkel war, konnte ich sehen, dass sie zornig war.

»Na gut«, sagte sie schließlich, nahm ihr Telefon und winkte mir damit zu. »Ich rufe ihn an.«

»Nein«, sagte eine Stimme direkt hinter mir. »Tust du nicht!«

Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen, zu denken oder die Worte zu verarbeiten, weil sich ein Arm um meinen Hals schlang, mir die Luft nahm und mich auf die Zehenspitzen hochzog. Mein Körper wurde flach gegen den meines Angreifers gepresst. Ich schlug die Krallen in den Arm um meinen Hals, woraufhin er sich fester zuzog.

Ich bekam keine Luft mehr.

Etwas Kaltes, Metallisches berührte meine Wange und verharrte an meiner Schläfe.

»Leg die Waffe auf den Boden. Sofort!«

Erst nach einer Schrecksekunde merkte ich, dass er mit Agent Mullins sprach. Und gleich darauf, dass er mir eine Waffe an den Kopf hielt und Mullins genau tat, was er sagte.

Sie würde ihr Leben riskieren, aber nicht meines.

»Hör auf, dich zu wehren«, sagte eine seidenweiche Stimme an meinem Ohr. Er drückte mir die Waffe fester an die Schläfe.

Mir tat alles weh. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte nicht aufhören, mich zu wehren.

»Ich tue, was Sie sagen. Lassen Sie das Mädchen los!« Mullins klang ganz ruhig. Ganz weit weg.

Es war dunkel hier draußen, und es wurde noch dunkler, als sich mein Blick verschleierte und mich eine tiefe Schwärze umfing.

»Nehmen Sie mich. Deshalb sind Sie doch hier. Ich bin diejenige, die Redding entkommen ist. Um zu beweisen, dass Sie besser sind als seine anderen Lehrlinge, reicht es nicht zu töten. Sie müssen zeigen, dass Sie besser sind als er. Ihm müssen Sie es zeigen.«

Der Griff um meinen Hals lockerte sich, doch die Waffe blieb, wo sie war. Ich holte keuchend Luft, erst einen, dann zwei Atemzüge.

»Sieh mich an, Cassie!« Mullins wandte ihre Aufmerksamkeit gerade lange genug von dem UNSUB zu mir, um mir diesen Befehl zu geben. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, warum.

Sie will nicht, dass ich ihn sehe.

»Schlagen Sie sie bewusstlos. Lassen Sie sie hier. Sie gehört nicht zum Plan. Zu Ihrem Plan.«

Mullins’ Stimme war ruhig, doch ihre Hände zitterten. Sie spielte ein gefährliches Spiel. Ein falsches Wort und der Mann würde mich ebenso leicht töten wie bewusstlos schlagen.

»Sie kann Sie nicht identifizieren. Wenn sie aufwacht, sind Sie längst weg, und ich gehöre Ihnen. Sie werden mich nicht verlieren wie Redding. Sie werden sich Zeit lassen. Sie machen es auf Ihre Weise, aber Sie wird man nicht finden. Und wenn Sie sich an den Plan halten, wird man auch mich nicht finden.«

Mullins richtete ihre Worte direkt an das UNSUB, spielte mit seinen Ängsten und seinen Wünschen, aber ich hörte ebenfalls, was sie sagte, und das Schlimmste war, dass ich ihr glaubte. Wenn ich den Täter nicht identifizieren konnte, wenn er sie mitnahm, wenn sie mich bewusstlos auf dem Weg liegen ließen, dann wäre es zu spät, wenn ich wieder aufwachte.

Er hätte zu viel Vorsprung.

Aber es gab eine Möglichkeit, Briggs sofort wissen zu lassen, dass etwas nicht stimmte. Eine Möglichkeit, wie er sie finden konnte.

Der Mann ließ meinen Hals los.

»Sieh hierher, Cassie. Sieh nur hierher.«

Ich hörte die Verzweiflung in Agent Mullins’ Stimme. Sie wollte unbedingt, dass ich nur sie ansah.

Ich drehte mich um. Selbst im Dunkeln konnte ich seine Züge erkennen, so nahe war ich ihm. Er war jung, Anfang zwanzig. Hochgewachsen und gebaut wie ein Läufer. Ich erkannte ihn.

Der Wachmann aus dem Gefängnis. Webber. Der, der schon allein von Deans Existenz angewidert gewesen zu sein schien und der ein Problem mit weiblichen FBI-Agenten hatte. Der, der uns nicht erlaubt hatte, im Auto zu warten.

In einem einzigen schrecklichen Augenblick fügte sich alles zusammen: Warum er uns nicht im Auto hatte bleiben lassen wollen, woher Redding von meiner Existenz wusste, wie unser UNSUB Christopher Simms im Gefängnis hatte töten können.

»Redding würde mich auch mitnehmen. Er würde auch mich töten.« Meine Stimme war rau und kaum hörbar. »Sie arbeiten im Gefängnis. Sie wissen, dass er nach mir gefragt hat. Wahrscheinlich waren Sie es, der die Botschaft überbrachte.«

Er konnte mich erschießen. In diesem Moment konnte er mich erschießen.

Oder mein waghalsiges Spiel ging auf.

Ich sah nur eine schnelle Bewegung und das Aufblitzen von Metall. Und dann wurde alles schwarz.