Kapitel 44

D as Bewusstsein bekam ich nur langsam wieder, während der Schmerz augenblicklich einsetzte. Die ganze rechte Seite meines Gesichts war wund: Sie pulsierte und tat so weh, als würden Nadelstiche bis auf den Knochen gehen. Mein linkes Augenlid flatterte, mein rechtes war zugeschwollen. Allmählich nahm ich meine Umgebung wahr – verrottete Bodendielen, das Seil, der Pfosten, an den ich gefesselt war.

»Du bist wach.«

Mein offenes Auge suchte nach der Quelle der Stimme und fand Agent Mullins. An ihrer Schläfe klebte Blut.

»Wo sind wir?«, fragte ich. Meine Arme waren hinter dem Rücken gefesselt und auch meine Füße waren zusammengebunden. Die Plastikriemen schnitten mir ins Fleisch und sahen unangenehm fest aus, doch außer dem unerträglichen Schmerz in meinem Gesicht konnte ich kaum etwas spüren.

»Er hat dich mit der Pistole niedergeschlagen. Wie geht es deinem Kopf?«

Ich merkte, dass sie meiner Frage auswich. Ich stöhnte, versuchte aber so gut wie möglich, es zu verbergen. »Wie geht es Ihrem?«

Sie brachte ein zerrissenes Lächeln zustande. »Ich bin im Kofferraum seines Wagens aufgewacht«, erzählte sie. »Er hat bei mir nicht so fest zugeschlagen. Ich habe so getan, als sei ich bewusstlos, als er uns hier hereingebracht hat. Soweit ich sagen kann, sind wir in einer verlassenen Hütte. Um uns herum ist nur Wald.«

Ich befeuchtete meine Lippen. »Wie lange ist er schon weg?«

»Noch nicht lange.« Mullins hing das Haar ins Gesicht. Sie war ebenso gefesselt wie ich: Plastikfesseln um Hände und Füße und an einen Holzpfosten gebunden, der vom Boden bis zur Decke reichte. »Aber lange genug, um zu wissen, dass ich mich nicht befreien kann. Lange genug, um zu wissen, dass du es auch nicht schaffen wirst. Warum, Cassie?« Ihre Stimme zitterte, doch sie sprach weiter: »Warum hast du nicht getan, was ich gesagt habe? Warum hast du ihn dazu gebracht, dich auch mitzunehmen?«

Von einem Satz zum nächsten wich der Zorn aus ihrer Stimme, bis nur noch tiefe, verzweifelte Hoffnungslosigkeit übrig war.

»Weil«, begann ich, konnte aber meine Füße nicht genug bewegen, um mein rechtes Hosenbein hochzuziehen, »ich einen GPS-Tracker trage.«

Mullins hielt den Kopf gesenkt und hob nur den Blick zu mir.

»Sobald ich das Grundstück verlassen habe, hat Briggs eine SMS bekommen«, sagte ich. »Es wird nicht lange dauern, bis er merkt, dass auch Sie weg sind. Er bekommt die Daten von meinem Tracker. Er wird uns finden. Wenn ich Sie allein hätte gehen lassen …« Ich brach ab. »Briggs wird uns finden.«

Mullins hob den Kopf zur Decke. Zuerst dachte ich, sie würde lächeln, doch dann merkte ich, dass sie weinte, die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie keinen Laut von sich gab.

Verdammt, das sieht nicht nach Tränen der Erleichterung aus.

Schließlich stieß Mullins ein komisches, kehliges Lachen aus. »Oh Gott, Cassie!«

Wie lange sind wir schon hier? Warum ist Briggs nicht schon durch die Tür gestürmt?

»Ich habe den Tracker nie aktiviert. Ich dachte, ihn zu tragen, sei Abschreckung genug.«

Der Tracker sollte ein Signal senden. Er sollte Briggs direkt zu uns führen.

Mir war nie in den Sinn gekommen, dass sie mich angelogen hatte. Ich hatte gewusst, dass ich ein Risiko eingehe, aber ich hatte geglaubt, ich würde mein Leben riskieren, um ihres zu retten.

Der Tracker sollte ein Signal senden. Er sollte Briggs direkt zu uns führen.

»Sie hatten recht mit Emersons Mörder.« Es waren die einzigen Worte, die ich finden konnte, alles, was es noch zu sagen gab. Der Killer würde zurückkommen. Niemand würde uns retten.

»Wie meinst du das?«

Ich sah ihr an, dass sie das Gespräch nur meinetwegen führte. Im Geiste schalt sie sich wahrscheinlich selbst – dafür, dass sie den Killer nicht gefunden hatte, dass sie eingewilligt hatte, bei uns zu wohnen und uns an diesem Fall zu beteiligen, dass sie mich hereingelassen hatte, als ich an ihre Tür klopfte.

Dass sie den Tracker nicht aktiviert hatte. Und mich glauben ließ, sie hätte es getan.

»Sie sagten, dass Emersons Mörder zwischen dreiundzwanzig und achtundzwanzig sei, überdurchschnittlich intelligent, aber nicht unbedingt gebildet.« Ich hielt inne. »Aber wenn er uns in einen Kofferraum gesperrt hat, fährt er wohl keinen Truck oder Geländewagen.«

Mullins brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Ich wette zehn Mäuse, dass es nicht sein Wagen ist.«

Ich zog einen Mundwinkel nach oben und zuckte vor Schmerz zusammen.

»Versuch, dich nicht zu bewegen«, riet mir Mullins. »Du musst deine Kräfte schonen, denn wenn er wiederkommt, werde ich ihn ablenken, damit du fliehen kannst.«

»Ich bin an Händen und Füßen gefesselt. Ich fliehe nirgendwohin.«

»Ich bringe ihn dazu, dich loszumachen und mich loszumachen. Dann lenke ich ihn ab.« Ihre Stimme zeigte ruhige Entschlossenheit, aber auch Verzweiflung – den verzweifelten Wunsch zu glauben, dass das, was sie sagte, machbar war. »Wenn du die Fesseln los bist, rennst du«, sagte sie eindringlich.

Ich nickte, obwohl ich wusste, dass ich nicht würde laufen können. Ich log sie an, und sie akzeptierte die Lüge, auch wenn sie ebenso gut wusste wie ich, dass eine Ablenkung nicht ausreichen würde.

Nichts würde ausreichen.

Es gab nur ihn und uns und die Gewissheit, dass wir in dieser feuchten, modrigen Hütte sterben würden und niemand außer uns selbst unsere Schreie hören würde.

Oh Gott.

»Er ist von Reddings Muster abgewichen.« Jetzt versuchte Mullins, mich abzulenken. »Er hat sich völlig von ihm entfernt.« Dann würden wir vielleicht nicht so sterben wie Emerson Cole oder wie die vielen Frauen, die Daniel Redding ermordet hatte, bevor man ihn fasste.

Das hier ist nicht mehr Reddings Fantasie. Es ist deine. Du genießt es, das Leben aus mir herauszupressen. Hat es dir Spaß gemacht, mich mit der Pistole zu schlagen? Wirst du uns zu Tode prügeln? Ich zwang mich weiterzuatmen – in kleinen, flachen Zügen. Wirst du unsere zerschlagenen Körper der Öffentlichkeit präsentieren, so wie du Emerson über die Motorhaube ihres Autos drapiert hast? Werden wir zu Trophäen, zu Zeugnissen deiner Kontrolle, deiner Macht?

»Cassie!«

Mullins’ Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Ist es krank, wenn ich mir wünsche, normal zu sein?«, fragte ich. »Nicht, weil ich dann nicht hier wäre – ich würde mein Leben für die geben, die wir nicht retten konnten –, aber wenn ich normal wäre, würde ich nicht hier sitzen und mich in ihn hineinversetzen, würde uns nicht mit seinen Augen sehen und auch nicht wissen, wie es enden wird.«

»Es endet damit, dass du fliehst«, erinnerte mich Mullins. »Du entkommst. Du fliehst, weil du eine Überlebende bist. Weil jemand anderes glaubt, dass du es wert bist, gerettet zu werden.«

Ich schloss die Augen. Jetzt erzählte sie mir eine Geschichte – ein Märchen, das mit … dann leben sie noch heute enden sollte.

»Ich kannte mal ein Mädchen, das seine Flucht aus allen möglichen schrecklichen Situationen plante. Sie war ein lebendiger Überlebensführer für die unmöglichsten Szenarien, die man sich denken konnte.«

Ich überließ mich Mullins’ Stimme. Ich ließ ihre Worte alles verdrängen, woran ich nicht denken wollte.

»Du bist mit einer schlafenden Kobra auf der Brust in einem Glassarg begraben. Der Sauerstoff wird knapp. Wenn du versuchst, den Sarg aufzubrechen, weckst du die Kobra. Was tust du?«

Ich machte das intakte Auge auf. »Was sollte man da tun?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Aber sie hatte eine Antwort. Sie hatte immer einen Ausweg und dabei war sie so verdammt fröhlich.« Mullins schüttelte den Kopf. »Sloane erinnert mich manchmal an sie. Als wir jung waren, arbeitete sie im FBI-Labor. Sie konnte immer besser mit Fakten umgehen als mit Menschen. Die meisten Zweitklässler mögen keine Schulkameraden, die sie ständig in theoretische Lebensgefahren bringen.«

»Aber Sie schon«, sagte ich, und als Mullins nickte, fuhr ich fort: »Ihr Name war Scarlett, nicht wahr? Sie war Judds Tochter. Ihre beste Freundin. Was sie Briggs bedeutete, weiß ich nicht genau.«

Mullins starrte mich einen Augenblick lang an. »Du bist gruselig, weißt du das?«

Ich zuckte mit den Schultern, so gut es unter den gegebenen Umständen ging.

»Sie war auch Briggs’ beste Freundin. Sie haben sich im College kennengelernt. Ich kannte sie seit dem Kindergarten. Sie hat uns einander vorgestellt. Wir sind alle zusammen zum FBI gegangen.«

»Sie ist gestorben«, sagte ich, damit Mullins es nicht tun musste, aber sie wiederholte die Worte trotzdem.

»Sie ist gestorben.«

Das Geräusch einer sich öffnenden Tür beendete unser Gespräch. Alte Angeln quietschten protestierend. Ich bekämpfte den Drang, zur Tür zu sehen. Es war die Schmerzen nicht wert, die die Bewegung mir durch Gesicht und Hals schießen lassen würde.

Du stehst da. Du siehst uns an.

Schwere Schritte sagten mir, dass er näher kam. Gleich würde der Mann, der Emerson, Clark und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Christopher umgebracht hatte, zwischen Mullins und mir stehen.

Er hatte ein Jagdgewehr dabei.