EINE GEWISSE TENDENZ

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, sitze ich Elliði Tómasson unversehrt gegenüber, in einem Büro, das im Lauf der Jahre mehrmals von einem Gebäude ins andere verlegt wurde. Sein vertrautes Gesicht wird von einem großen Poster vom menschlichen Gehirn mit lateinischen Bezeichnungen eingerahmt, das hinter ihm an der Wand hängt. Es begleitet mich, seit bei mir als Kind Absence-Anfälle diagnostiziert wurden. Blass, mit entschlossenen Gesichtszügen. Die kristallklaren Augen so eindringlich, dass ich ihn für einen Film sofort als Wahrsager gecastet hätte. Es ist, als könnten seine Augen durch meine Kopfhaut und meinen Schädel blicken, bis in den geheimnisvollen Mechanismus des Gehirns. Mir fällt wieder ein, dass ich ihn einmal im Kaffivagninn am Yachthafen gesehen habe, wo er mit einer Frau, die ehefraumäßig aussah, Kaffee trank und gerollte Pfannkuchen aß. In dem Moment wurde mir bewusst, wie viele tragische Geschichten er in seinem Beruf schon miterlebt haben musste, im ewigen Kampf gegen die Grausamkeit der Natur; ein routiniertes, kampferprobtes Tier im andauernden Gegenwind auf einer endlosen Ebene.

Der Mann, der mir gegenübersitzt, hat vielen Menschen geholfen, auch denen, für die es am Ende dann doch nicht gereicht hat. Er wirkt unfassbar ruhig. Ich weiß noch, wie ich ihn mal mit siebzehn für einen Termin bezahlen wollte und er meinte, ich solle das Geld lieber behalten und etwas Nettes damit machen.

Jetzt sitze ich hier, wieder einmal, obwohl ich mir eingeredet hatte, ich würde nie wieder hier sitzen.

»Ich wollte schon längst hier gewesen sein, schon als mein Sohn ein Jahr alt wurde, aber irgendwie …«, setze ich entschuldigend an.

»Du hattest einen schweren Schock, als er verschwunden war«, erklärt er, ohne mich für meine Nachlässigkeit zu rügen.

»Ja«, sage ich und spüre, wie mir schon allein bei dem Gedanken das Blut in den Adern gefriert.

»Wir werden alles tun, damit so etwas nicht noch einmal passiert«, sagt er und schaut kurz zu seinem Computerbildschirm. »Þormar hat deine Dosis erhöht, wie ich sehe. Aber dein EEG weist, ehrlich gesagt, nicht viele Anzeichen für eine ungewöhnliche Hirntätigkeit auf. Es zeigt eine gewisse Tendenz, wie sonst auch. Wie steht es mit deinem Gedächtnis? Bessert es sich?«

»Ich denke schon«, antworte ich. »Meine Schwester hat mir dabei geholfen, mich an ein paar Dinge zu erinnern.«

»So kurz nach einem epileptischen Anfall sind Gedächtnislücken im Grunde nicht überraschend«, erläutert er. »Ich habe mich eher über die nächste Notiz meines Kollegen gewundert. Stimmt es, dass du dich nicht an Dinge erinnerst, die dir unangenehm sind?« Der Fachmann hat seine Mimik perfekt unter Kontrolle, er überspielt seine gewiss vorhandene Skepsis und bemüht sich um Unvoreingenommenheit gegenüber den Merkwürdigkeiten des menschlichen Körpers, die jede Fiktion übertreffen.

Ich versuche, ganz natürlich zu klingen, und beteuere, mein Gedächtnis funktioniere schon wieder viel besser.

»Und das andere, die unangenehmen Dinge, die kommen auch langsam wieder. Es ist wirklich seltsam, wie mir plötzlich Gedanken über meine Familie kommen, über Ereignisse in der Kindheit, schlimme Erinnerungen, die ich verdrängt hatte, sehr schlimme sogar«, sage ich, den Mund voller Erde, und füge hinzu, ich würde mich plötzlich an Dinge erinnern, von denen ich mir eigentlich sicher gewesen sei, das sie nie geschehen seien, falls ich überhaupt je an sie gedacht hätte.

Nach und nach rede ich immer schneller. Ich gestehe ihm, dass all diese plötzlichen Erinnerungen mich fast explodieren lassen, dass da eigentlich kein Platz für sie ist, weder in meinem Leben noch in meinem schmerzenden Kopf. Wirre Worte sprudeln aus mir heraus, mit denen ich erklären möchte, wie die negativen Erinnerungen mir in den letzten Tagen Herzrasen und Kopfschmerzen verursacht haben; an manche könne ich mich noch viel schwerer erinnern als an andere.

Er lächelt besonnen und sagt schließlich: »Der Mensch ist ein biologisches Wesen, das Emotionen und eine Identität entwickelt. Beides kann durch einen Schock durcheinandergeraten. Verwirrende Erinnerungen sind aber nicht das Schlimmste, das kann ich dir versichern. Es besteht nämlich auch die Gefahr, dass Informationen endgültig aus dem Gedächtnis gelöscht werden, wenn man innerhalb kürzester Zeit mehr als einen Grand-mal-Anfall hat. Dir ist sicher klar, was das bedeutet.«

Schweigend starre ich auf den Schreibtisch und sage dann, ich wisse überhaupt nichts mehr. Selbst andere Leute wüssten besser als ich, was mit mir passiert sei, weil ich mich wie üblich nicht an den Anfall erinnern könne, nur an den Moment kurz davor und an diese merkwürdige Wirklichkeit nach dem Beben, wenn die Momente sich wieder zusammenfügen und zu mir selbst werden.

»Angesichts deiner momentanen Situation ist Þormars Hypothese nicht uninteressant«, sagt Elliði. »Er ist ziemlich clever, dieser junge Kollege, schreckt nicht vor neumodischen Diagnosen zurück. Dass es sich hierbei um funktionelle Symptome handelt, scheint mir gar nicht so weit hergeholt, auch wenn diese Theorien möglicherweise, könnte man sagen, des Kaisers neue Kleider sind. Aber vergessen wir nicht, dass der Kaiser glaubte, die Kleider wahrzunehmen, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, da er nun mal splitternackt auf die Straße lief.«

»Soll das heißen, dass ich mir den Gedächtnisverlust nur einbilde?«

»Du sagst, du hättest dich gerade von deinem Mann getrennt, und du hast ein kleines Kind«, fährt er fort, anstatt mir zu antworten. »Wahrscheinlich stehst du unter größerem Druck als sonst.«

Ich nicke und erzähle ihm von Ívars Krankheit und dem Schlafmangel.

Elliði mustert mich wie ein Lehrer, der seinen Schülern immer wieder denselben Stoff eintrichtert, und sagt: »Angst verursacht Stress, und ein hoher Stresslevel behindert die Körperfunktionen. Sie könnte einen ähnlichen Einfluss auf das Herz haben wie auf die Hirntätigkeit. Und dazu noch Schlafmangel, der hat vielfältige Auswirkungen, auch auf das Gedächtnis.«

»Ich weiß.«

»Und du weißt natürlich auch, welchen Einfluss Alkohol haben kann«, ergänzt er und mustert mich desinteressiert.

»Ja, ja, doch.«

»Saga«, setzt er noch einmal an und erlaubt sich kurzzeitig einen mitfühlenden Tonfall. »Warten wir mal ab, ob dein Gedächtnis sich wieder regeneriert. Aber du weißt, dass niemand garantieren kann, dass dir das nicht wieder passiert. Wir setzen die Untersuchungen erst einmal fort, der nächste Schritt wäre ein MRT des Gehirns. Anstatt deine Medikamentendosis noch weiter zu erhöhen, möchte ich, so wie die Dinge liegen, gern ein einfaches Experiment machen.« Elliði verstummt, spielt mit seinen Daumen, während er über etwas nachdenkt, und rückt dann mit der Sprache heraus: »Bitte versuch, deinen Stress zu reduzieren.«

Jetzt bin ich es, die ihn anstarrt.

»Du musst deine momentane Situation berücksichtigen«, erklärt er. »Weniger arbeiten, dir vielleicht sogar einen Job suchen, der dir besser passt. Mindestens acht Stunden täglich schlafen. Täglich Sport machen. Gut und regelmäßig essen. Auf deine Atmung achten, Angst vermeiden, dich ausruhen. Um Hilfe bitten, wenn du welche brauchst. Aber such dir jemanden, der während des Experiments bei der wohnt.«

»Und wie lange soll das laufen?«

»So lange, bis du keine Anfälle mehr bekommst.«

Bei Elliðis Worten musste ich an Þormar denken. Auf gewisse Weise haben mir beide Ärzte dasselbe geraten, jeder auf seine Art. Ich knöpfe meine Jacke bis zum Hals zu und halte auf dem Parkplatz Ausschau nach der Schrottkarre.

Die beiden warten treu ergeben auf mich.

Jetzt heißt es, auf den Rat des Arztes zu hören und nicht ins Lenkrad zu greifen. Ich muss dem Fahrer vertrauen, sage ich mir und marschiere erhobenen Hauptes auf das Auto zu. Lilja Dögg scheint, an die kalte Fensterscheibe gelehnt, zu schlafen, während Óðinn sich über etwas beugt, das sich bei genauerem Hinsehen als ein Taschenbuch entpuppt, das Bergur im Handschuhfach vergessen hat: How to be alone, eine Sammlung von Essays über den Menschen in der modernen Gesellschaft von Jonathan Franzen. Das Buch erinnert mich daran, dass ich dringend die Schrottkarre putzen muss, sonst wird sie noch organisch.

»Hat der Arzt Ihnen bestätigt, dass Sie definitiv Sie sind?«, sagt Óðinn so trocken, als ich mich auf den Beifahrersitz setze, dass ich mich frage, ob er ein verkappter Philosoph ist oder derart schwarzen Humor hat.

Ich tue so, als würde ich lachen, aber meine Skepsis beunruhigt mich. Óðinns Interesse an der Wissenschaft ist merkwürdig, diese unerschöpfliche Faszination für das Gehirn … ach was! Das ist bestimmt nur so eine Jungssache. Eines Tages vertieft sich Ívar vielleicht auch in wissenschaftliche Online-Artikel, wenn er nicht gerade Mädchen in fremde Häuser verfolgt.

Wobei das Mädchen sich genauso für die Sache interessiert wie er. Sie hat die Augen aufgeschlagen und gähnt träge, während sie sich bibbernd zusammenkauert. »Ist es gut gelaufen, Saga?«, fragt sie auf ihre ernste, aber sanfte Art.

»Ja«, antworte ich und fummele an der kaputten Heizung herum, damit sie nicht weiter frieren muss, dankbar, dass sie hier bei mir ist, dieser mysteriöse Schutzengel.

»Spielt es denn eine Rolle, woran Sie sich erinnern, solange Sie alle Menschen erkennen, die Ihnen wichtig sind?«, fragt Óðinn, so grüblerisch, dass ich überzeugt bin, dass er sich nicht über die Situation lustig macht.

»Wie meinst du das?«, fragt Lilja Dögg, bevor ich dasselbe fragen kann.

»Ach, na ja«, setzt er an und verzieht unfreiwillig das Gesicht. »Die Leute spielen doch ständig alles runter, was wirklich wichtig ist. Dadurch vermischt sich alles und wird zu nichts, einem schwarzen Loch, das jegliche Bedeutung wegsaugt. Wir werden alle das Gedächtnis verlieren, weil es nichts zu erinnern gibt.«

Ich betrachte ihn verwirrt – ob er unter Drogen steht? Nachdenklich spielt er mit dem Taschenbuch herum und beugt sich dann zu mir herüber, vorsichtig, damit wir uns nicht berühren, als er es ins Handschuhfach steckt, aber ich kann riechen, dass er sich die Haare waschen muss.

»Das kapiere ich nicht ganz, Óðinn!«, ruft seine Freundin vom Rücksitz, steckt den Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch und verlangt nach einer genaueren Erklärung. »Was meinst du mit Bedeutung

Er kann seine Genugtuung über ihre Frage nicht verbergen. »Na, das, was du selbst gesagt hast«, antwortet er neckend.

»Was hab ich denn gesagt?«

»Dass eine Welt, in der Erwachsene Kinder töten, nie richtig sein kann. Und deshalb ist nichts richtig oder falsch. Nur total grotesk.«

Sie schaut ihn versonnen an. »Hab ich das gesagt?«

»Ja, weißt du das nicht mehr?«, antwortet er enttäuscht.

»Da würde ich dir aber zustimmen«, werfe ich ein, ganz angetan über die seelische Kleinausgabe von mir selbst auf dem Rücksitz, und drehe mich zu Lilja Dögg, die sich wieder zurücklehnt und selbstzufrieden nickt. »Ich stimme mir auch zu!«, kontert sie. »Aber wissen Sie was, Saga, ich hab mal gehört, ein Gehirn mit Alzheimer wäre wie eine Festplatte mit einem kaputten Tastaturkabel. Die Informationen sind da, man kommt nur nicht an sie heran.«

»Interessante Theorie«, sage ich gedankenverloren.

»Sie denkt ständig darüber nach, wegen ihrer Oma, die immer vergesslicher wird«, sagt Óðinn und blickt seine Freundin liebevoll an, der es peinlich zu sein scheint, dass er private Dinge vor Fremden ausspricht, obwohl sie sich dieser Fremden selbst als Unterstützung angedient hat.

Trotzdem erklärt er weiter: »Wir haben massenweise Artikel über das Gedächtnis gelesen, aber ich sehe die Menschen lieber als Blumen, nicht als Computer. Sonst werde ich depressiv.«

»Blumen«, sage ich und muss ihn einfach anlächeln. Ich hatte ganz vergessen, wie ehrlich depressive Jugendliche sein können.

»Ja, Blumen, die man gießen muss«, sagt er mit leiser Stimme und wird rot, wobei er mich ganz kurz an meinen Sohn erinnert, wenn der über Dinge spricht, die er schön findet. Die steingrauen Augen in seinem schmalen Gesicht funkeln, und er erzählt mir begeistert von einem Buch, über das sie etwas auf einer Wissenschaftsseite gelesen haben. Es sei von einem deutschen Autor, aber noch nicht übersetzt, deshalb könnten sie es beide nicht lesen, aber der Mann sei der Meinung, Alzheimer könne sowohl von körperlicher als auch von geistiger Unterversorgung ausgelöst werden. Wenn einem Menschen Sicherheit, Wärme und Liebe fehlten, könne das Gehirn Mangelerscheinungen bekommen, denn es müsse durch das Herz genährt werden. Ich bräuchte aber nicht zu verzweifeln, denn Wissenschaftler würden schon bald einen winzigen Chip präsentieren, der die Bewegungen der Hirnzellen speichern und somit die Erinnerungen eines Menschen bewahren könne.

»Wieso ich?«, rufe ich, denn ich dachte, wir würden über Liljas Großmutter sprechen. »Ich habe kein Alzheimer!«

»Sorry«, sagt er und sackt beschämt in sich zusammen, als ihn Liljas tadelnder Blick trifft.

Ich sacke auch zusammen. Wenn es so wäre, wenn ich Alzheimer hätte, würde ich das dann überhaupt wissen?

»Saga!«, sagt Lilja Dögg schnell, um die angespannte Atmosphäre zu lockern. »Ich hätte fast was vergessen, wir haben da vorhin was auf Óðinns Handy entdeckt.«

»Was denn?«, frage ich ungeduldig. »Noch mehr über Alzheimer?«

»Nein, nein, gucken Sie mal!« Sie quetscht sich zwischen die Vordersitze, pustet sich die Haare aus dem Gesicht und beugt sich über Óðinns Schulter, während er das Handy aus seiner Tasche fischt. »Schnell, zeig es ihr!«, verlangt sie aufgeregt.

»Das ist ein uralter Artikel, Lilja«, entgegnet er widerwillig, klickt einen Link an, und auf dem Display erscheint ein Text.

»Und was steht da?«, frage ich, zu erschöpft, um mit zwei Teenies in einem kalten Auto absurde Artikel zu googeln.

»Das müssen Sie lesen!«, sagt Lilja Dögg. Am liebsten würde ich dankend ablehnen, aber sie ist so enthusiastisch, dass ich sie auffordere, mir etwas über den Artikel zu erzählen.

Sie stupst Óðinn an, der sofort reagiert und laut vorliest: »Amerikanische Forscher behaupten, sie hätten eine Methode entdeckt, wie man mit derselben Technologie, die zur Vorhersage von Erdbeben benutzt wird, auch epileptische Anfälle vorhersagen kann.«

»Zeig mal!«, sage ich und rücke näher an ihn heran.

»Also«, sagt er, überfliegt den Text und fasst ihn zusammen, »die Untersuchung zeigt, dass je länger ein Anfall oder ein Erdbeben zurückliegt, desto länger wird die Zeitspanne bis zum nächsten Beben sein. Offensichtlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen kleineren Beben, die auf ein großes Erdbeben hinweisen, und hier … Moment, Unregelmäßigkeiten glaube ich … genau, Unregelmäßigkeiten der elektrischen Impulse im Gehirn kurz vor einem Anfall. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, epileptische Anfälle mit einem Seismografen vorherzusagen.«

»Ja nee, is klar!«, sage ich, bereue es aber sofort, denn es gibt keinen Grund, die beiden schon wieder zu beleidigen, diese unschuldigen Seelen, die es offenbar zu ihrer Mission gemacht haben, meine Probleme zu lösen. Es ist an der Zeit, den Sarkasmus dranzugeben und mich fallen zu lassen, den Ereignissen schutzlos ausgeliefert, schwer wie ein Sumokämpfer von all diesen Emotionen. Tausende von Jahren hat sich Druck in der Magma aufgebaut und urplötzlich in einem großen Beben gelöst, sodass der Fels unter meinen Füßen weggerutscht ist und Fossilien und Silberkristalle durch die Oberfläche gebrochen sind, längst vergangene Ereignisse, in uralte Mineralschichten eingegraben, bislang unbekannte Geysire sind eruptiert, und alles, was einmal war, wurde zu etwas Neuem, die Landschaft wird nie mehr dieselbe sein. Ich starre in den Abgrund, den Riss in meinem eigenen Leben, und höre um mich herum alles bröckeln.

»Danke«, sage ich benommen. »Das ist wirklich spannend, davon hätte ich gern einen Ausdruck. Aber sollen wir jetzt mal losfahren?«

Lilja Dögg strahlt und schaut ihren Freund triumphierend an, der seine Freude kaum verbergen kann, während er damit kämpft, den Motor zu starten.

Elliði hat die Hoffnung, die heute Morgen aufgeflackert ist, noch verstärkt. Auf einmal ist sie hell und allumfassend wie die Mittagssonne an einem wolkenlosen Himmel, so klar in ihrer Bläue, dass ich es vermeide, zu lange in den Himmel zu schauen, während das Auto über die Hauptstraße rast.

Ich könnte mich aus mir selbst herausstarren, wie ein Kind bei einem Absence-Anfall, das etwas Wunderschönes betrachtet, beispielsweise Laub gegen Ende Mai, bis das hauchzarte Muster der Blätter zu einem waldgrünen Dunst verschwimmt und das Kind von einem so wohligen Gefühl erfüllt wird, dass es erst wieder aufwacht, wenn seine Mutter es anstupst mit der ewig gleichen Frage, ob es immer so unkonzentriert sein muss. »Nein, Mama«, antwortet das Kind verträumt, denn irgendwo in der Ferne krächzt ein Rabe und hilft ihm, wieder zu sich zu kommen.

Wir rasen nach Hafnarfjörður, und ich fühle mich leichter als die Luft, bestimmt hebe ich gleich ab und schwebe ins Blaue hinein. Fliege umher, mir der Liebe in meinem Inneren bewusst – in meinem Bauch, meiner Vagina, meinem Blut, meinen Fingern, meinem Gehirn –, in all diesen Zellen, die ich nie sehe, die trotzdem wirklicher sind als alles andere mit ihrem fest verankerten Zweck. In meinem schlagenden Herz.

Ich muss mich nicht an alles erinnern, weil ich mich daran erinnere, dass ich meinen Mann liebe, auch wenn ich wohl besser Exmann sagen sollte, und unseren Sohn, der die gleichen Augen hat wie er. Diese Gewissheit lässt die Wintersonne die Köpfe der Stadtbewohner küssen. Ein dick eingepackter Mann schiebt einen Kinderwagen über den Fahrradweg neben der Straße, eine ältere Frau mit einem Spazierstock stiefelt auf dem Glatteis an ihm vorbei, und Raben kreisen über den schneeweißen Baumwipfeln neben dem Pfad nach Nauthólsvík, wo das Meer in der Mittagssonne glitzert wie Gold und Silber. Die Stücke des zerbrochenen Mosaiks, die von meinem Gedächtnis verlegt, aber von meinen Sinnen geschärft wurden, haben durch die magnetische Kraft der Gehirnzellen an die richtigen Stellen zurückgefunden. Die wichtigsten Stücke haben einander gefunden: wir drei, die genauso wichtig sind wie die Familie, die einst ungeschützt auf einer windgepeitschten Ebene in Hafnarfjörður stand.

Jetzt muss ich nur kurz bei meiner Mutter vorbeischauen und dann schnellstmöglich zu Bergur fahren, der garantiert im Morgenmantel am Schreibtisch sitzt. Verzeih mir, werde ich zu ihm sagen und seinen Morgenmantel öffnen, mich an ihn schmiegen und den Gürtel um uns beide schlingen, verzeih mir, mein geliebter Bergur, ich erinnere mich nicht an alles, noch nicht, sage ich und drücke mich an seine behaarte Brust, verschwitzt vom Kaffeetrinken und der Anstrengung, alles besser als alle anderen zu verstehen, aber immerhin verstehe ich genug, um zu wissen, dass wir zusammen sein sollten, mein Geliebter, lass uns einander alles verzeihen.

Óðinn parkt den Wagen beim Einkaufsviertel, während ich kurz zum Geldautomaten laufe, damit die beiden fürs Abendessen einkaufen können. Dann springe ich wieder ins Auto und gebe ihm das Geld, weil unsere Freundin erneut eingeschlafen ist – sie hatte eine anstrengende Nacht. Ein warmes Gefühl durchströmt mich, mir ist dieses Mädchen gleich ans Herz gewachsen. Als er den Wagen wenige Minuten später vor meinem Elternhaus anhält, schnarcht Lilja Dögg laut. Ich bringe es nicht über mich, die beiden zu bitten, mich zu Bergur zu fahren. Da muss ich allein hin. Als ich mich leise von Óðinn verabschiede, kann ich mich nicht beherrschen, ihn flüsternd zu fragen: »Seid ihr ein Liebespaar?«

»Frag Lilja«, antwortet er so gequält, als würde er sich danach sehnen, eine Laborratte in einem ewigen Rad guter Erinnerungen zu sein.