ES WAR EINMAL EINE FAMILIE

»Sieh mal einer an! Du hast fast zwei Stunden geschlafen«, sagt Mama liebevoll und mustert mich eindringlich, als ich in den Flur und von dort in die Küche schlurfe. Sie reicht mir ein Glas Wasser und schimpft, als ich etwas sagen will, weil ich zuerst etwas trinken soll. Ich trinke ein paar erfrischende Schlucke und frage dann, ob Bergur angerufen hat.

»Nein, Liebes, und jetzt zieh deine Wollsocken an, wir machen die Suppe warm. Die Kinder sind schon ganz ausgehungert.«

Die Kinder: Jóhanna, weit über vierzig, und der dreißigjährige Guðni tauschen einen Blick, er amüsiert, sie ziemlich genervt, und dann schwebt Jóhanna auf mich zu und umarmt mich mit einem tiefen Seufzer. Guðni grinst verlegen. Sie hatte solche Angst um mich, sagt sie und lächelt erleichtert, als ich entgegne, es gehe mir schon viel besser. Doch die Absurdität der Situation macht mir zu schaffen. Es kommt mir so vor, als wären wir alle in eine Zeitmaschine gestiegen. Wann hat unsere Familie zuletzt gemeinsam gegessen?

Wirre Bilder flimmern über den Bildschirm des kaputten Fernsehers, bis eins es schafft, ihn zu dominieren. Ich betrachte meinen Bruder und sehe ihn, jungenhaft naiv, bei Mama in der Küche vor vielen Jahren, vor über einem Jahrzehnt, wie mir scheint. Er stand kerzengerade vor dem Kühlschrank und lauschte mit verstohlener Aufmerksamkeit unserer Diskussion über das Kárahnjúkar-Kraftwerk.

Mama wollte, dass der Staudamm gebaut wird, für die Bevölkerung und für alle, die aus demselben Stoff gemacht waren wie sie. Ja, so war es! Sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, ein Mädchen vom Land, das in der Fortschrittspartei war und die Naturschützerin in sich noch nicht entdeckt hatte. Die kam erst wesentlich später mit einem lauten Knall zum Vorschein, nach einem Besuch in der Kräuterapotheke, wo sie eine derart idealistische Verkäuferin kennengelernt hatte, dass sie am Ende den Linksgrünen beitrat, derselben Partei wie Papa, der seelenruhig auf sie gewartet hatte, dieser heimatverbundene Naturliebhaber, denn das hatten sie immer gemeinsam: den Glauben an die leuchtend helle Maisonne.

Papa war gegen das Bauprojekt, so wie Jóhanna und ich, wusste aber genau, dass es nichts bringen würde, Mama umstimmen zu wollen. Guðni tat so, als wäre er hin- und hergerissen, um es sich mit niemandem zu verscherzen, stellte sich aber schließlich auf Mamas Seite, wie so häufig. Sie ist in seinen Augen der Maßstab aller Dinge, auch wenn Papa und er gute Kumpels sind. Meine Schwester Jóhanna echauffierte sich dermaßen, dass sie hinausstürmte und drohte, jeglichen Kontakt zu Mama und Guðni abzubrechen, was sie bis zum nächsten Tag durchhielt. Dafür redete sie wochenlang nicht mit mir, weil ich zwar ihrer Meinung gewesen war, aber keine Lust gehabt hatte, mich dort am Küchentisch aufzuregen, weil ich in ein Schnittmuster für ein Kleid vertieft gewesen war, das Mama versprochen hatte mir zu nähen, wenn ich einen passenden Stoff fände.

Ach ja, genau! Ich hatte etwas gesagt, das Mama und ich lustig fanden und das Jóhanna auf sich bezog. Ich kann mich unmöglich erinnern, was es war, aber sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und sich den blöden Spruch gemerkt. Ob sie ihn immer noch weiß?

Es kommt mir so vor, als hätte ich das alles komplett vergessen. Schon abgefahren, sich plötzlich an diesen banalen Nachmittag vor ewigen Zeiten zu erinnern, der total unwichtig war. Wobei, doch, Guðni ist immer noch für den Bau von Kraftwerken, obwohl er der Naturverbundenste von uns Geschwistern ist, aber zu dickköpfig, um seine Meinung zu ändern, und deshalb dazu verdammt, sich wider besseres Wissen mit den meisten Leuten in seinem Umfeld anzulegen.

Mama ist jetzt ganz in ihrem Element, reicht mir großspurig fünf Suppenteller mit Goldrand, alle aus dem Nachlass ihrer Eltern, und wendet sich dann wieder dem Suppentopf zu, in altvertrauter Manier: lässig und aufmerksam zugleich. Schon unzählige Male hat sie mich zu Haushaltsarbeiten verdonnert, energisch und äußerlich immer sehr gepflegt. Mein Blick bleibt an ihrem Haarturm hängen, der im Takt zu ihren präzisen Bewegungen auf und ab wippt; vielleicht sollte Mama diese provisorische Notfallfrisur beibehalten, sie lenkt die Aufmerksamkeit von ihren feinen Fältchen ab, die sich an den Mundwinkeln und den Augen häufen.

Jóhanna und Guðni nehmen das Besteck und die Brötchen entgegen, die in dem Geschirrtuch warm geblieben sind. Guðni taxiert Mama unauffällig, es kommt mir so vor, als würde er ihre Gesten analysieren, wie bei einem potenziellen Verbrecher. Sein Blick ist so ähnlich wie der von Papa, wenn er sie von oben bis unten mustert. Mir scheint, als wären sie beide besorgt um sie, es sei denn, die Gene setzen sich mit zunehmendem Alter bei ihrem Sohn durch, sodass in Guðnis Gesicht Mamas Augen Papas finsteren Blick annehmen.

Sie stellen alles auf den Esstisch im vorderen Wohnzimmer, und Jóhanna zündet eine Kerze an. Dann schlendern sie durch die miteinander verbundenen Räume und bleiben schließlich beim Klavier im hinteren Wohnzimmer stehen. Guðni greift in die Tasten und spielt auswendig so gut, dass Jóhanna sich an das Instrument lehnt und die Melodie mitsingt.

Mama hat recht, wenn sie sagt, dass Guðni sehr musikalisch sei und dass es eine Schande sei, dass sie – also Papa und sie – das nicht schon früher erkannt hätten. Sie hatten sicher kein Geld für Musikunterricht. Ein schmerzhaftes Pochen regt sich in meinen Schläfen. Ich zwinkere schnell mit den Augen, als mir ein plötzlicher Schmerz in die Brust fährt. Ich fange doch wohl nicht an zu heulen?

Plötzlich möchte ich meinen Bruder Guðni in den Arm nehmen, wie er da kerzengerade am Klavier steht, auswendig spielt und aus vollem Hals singt, dieses Kraftpaket mit den breiten Schultern und den kurzen Fingern, das trotzdem voller Musik ist. Er trägt einen hellbraunen Kaschmirpullover über einem Hemd mit feinen Nadelstreifen, die Sachen könnten aus dem Herrenmodengeschäft von Guðstein Eyjólfsson stammen. Guðni kleidet sich immer stilvoll, auch wenn er meistens Klamotten für ältere Herren kauft.

Er weiß Farben, Muster und Schnitte zu schätzen, mein kleiner Bruder, dieser freundliche Mensch, der dieselben Augen hat wie Mama und ich, und auch denselben Teint, aber Papas bärenhafte Gesichtszüge, denke ich und frage mich dann, ob diese pedantischen Rückschauen ein Weg des Gehirns sind, sich zu regenerieren. Ach, am besten möglichst wenig denken!

Ich betaste die Tischdecke auf dem Esstisch, weinrot mit einem hauchzarten Häkelmuster. Mama hat sie aus dem Schrank hervorgekramt, sie ist auch von Oma, aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Als ich wieder in die Küche komme, hat Mama die Rosen aus der Blumenvase genommen und ist damit beschäftigt, die Stiele unten abzuschneiden, damit sie länger halten. »Wer hat dir denn weiße Rosen geschenkt?«, fragt sie.

Ich tue so, als hätte ich sie nicht gehört, öffne den Kühlschrank und suche nach etwas, das ich auf den Tisch stellen kann. Finde einen Tonteller mit einem Stück Butter und bin gerade über die Türschwelle, als Mama sagt: »Sind die von den Eltern des Kindes?«

»Ja«, sage ich entgeistert, mir vollkommen bewusst, dass sie panische Angst bekommen würde, wenn ihr das Ausmaß meiner Gedächtnislücken klar wäre. Es würde nichts bringen, es ihr zu erklären und zu meinen, sie würde dann die Ruhe bewahren. Sie würde sofort durchdrehen, Bergur anrufen und auch diesen mysteriösen Schulkameraden, mit dem sie die Mittlere Reife gemacht hat, einen Hausarzt aus Borgarnes, der sie schon ewig mit Schmerzmitteln versorgt. Aber von welchem Kind spricht sie?

Und was macht mein Kind? Soll ich Ívar anrufen? Dann würde ich Bergur und ihn womöglich beim Abendessen stören.

»Saga, lass das doch, in deinem Zustand!«, zischt Mama und nimmt mir die Butter ab. »Ich mache das schon«, sagt sie streng und atmet scharf aus, die schnelle Bewegung hat ihr offensichtlich Schmerzen bereitet.

»Komm her und sing mit uns!«, fordert Jóhanna mich auf, als ich unschlüssig ins Wohnzimmer zockele. Sie streckt die Hand aus, als wollte sie mich an sich ziehen. Ich weiche ihr aus, und sie schaut instinktiv weg.

Die Nähe überfordert mich. Unter normalen Umständen sollte ich das Kommando in der Küche übernehmen. Bergur und ich sollten mit den Töpfen herumhantieren, während Ívar in der Diele mit seiner Brio-Bahn spielt.

Mit kindlicher Inbrunst singen die beiden das Wiegenlied »Bin ich im Traumschloss«, und Jóhanna geht ganz in ihrem Gesang auf, textsicher und konzentriert. Beide schauen nicht in die Klaviernoten für Kinder, die ich aus dem Klavierhocker gekramt habe, um Ívar alle alten Lieder beizubringen, die ich als Kind gesungen habe. Es stellte sich heraus, dass er die meisten schon kannte, er hatte sie in der Singstunde im Kindergarten gelernt – in seinem alten Kindergarten, jetzt ist er in einem neuen, fällt mir wieder ein, und mir bricht der Schweiß aus. Ob er sie in dem neuen Kindergarten auch lernt? Ich bin ganz benommen vor Hitze.

»Zu Tiiiisch!«, ruft Mama so laut, dass Papa fluchtartig die Toilette verlässt und meine Geschwister aufhören zu singen. Ich sinke auf einen Esstischstuhl, so entkräftet, dass das Wohnzimmer vor meinen Augen tanzt. Wir sind eine Familie, jedenfalls waren wir einmal eine Kernfamilie. Trotzdem stimmt etwas nicht mit uns, mit dieser gemeinsamen Mahlzeit. Mama schenkt die Suppe aus, schnell und zielsicher, ich weiß, dass sie sich darüber freut, uns alle hierzuhaben, aber sie kann ihre Erschöpfung nicht verbergen, die Anspannung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Warum ist sie so gestresst?

Papa schaut sie eindringlich an, sodass Liebe, Scham und Angst in seinem Blick miteinander kämpfen, bis Mama ihn kurz anlächelt, da werden seine Augen ganz ruhig, als hätte sie ihm Drogen verabreicht.

Sie zuckt zusammen, als der Ärmel ihres Kleides an die Kerze kommt, die Jóhanna zum Essen angezündet hat, und fragt, was das eigentlich solle, hier Feuer zu machen.

»Na, damit es ein bisschen gemütlicher ist«, entgegnet Jóhanna schuldbewusst.

»Was für ein Unfug«, schnaubt Mama, und ihr blitzt der Schalk aus den Augen, als sie die Kerze auspustet, denn das ist ihre Art, liebenswürdig zu sein.

Jóhanna sieht den Schalk nicht. Ihre Augen kleben an Mama und verfolgen ihre Bewegungen. Jede einzelne ebenso rasch wie durchdacht. Mama wirkte schon immer kerniger als andere in ihrem zierlichen, hypersensiblen Körper, wie eine Ballerina, die Kraft aufbaut, um Leichtigkeit zu erlangen, inzwischen muss sie alles geben, um diese Illusion aufrechtzuerhalten. Ein eigenartiges Gefühl befällt mich, für einen Moment kommt es mir so vor, als wäre ich meine Schwester, oder vielleicht eher, als wäre sie ich. Ich spüre ihr Unbehagen; unsere Wahrnehmungen vermischen sich, so wie wenn am Anfang eines Absence-Anfalls kontrastierende Farben ihre innere Übereinstimmung finden. Bekomme ich einen Anfall? Nein, ich habe so lange geschlafen, das kann nicht sein.

Papa und Guðni haben sich zusammengetan und unterhalten sich angeregt mit leisen Stimmen. Papa sitzt am Kopfende des Tisches, Guðni direkt neben ihm. Sie hören den Wortwechsel zwischen Mama und Jóhanna, ignorieren ihn aber. Papa erzählt Guðni von seinen Kameraden, ein paar Männern, die sich einmal in der Woche treffen, um ein Pamphlet zu verfassen, aus Protest gegen etwas, das er den Mechanismus der Gesellschaft nennt.

»Wo wollt ihr denn demonstrieren?«, fragt Guðni mit der antrainierten Vorsicht des Polizisten, denn die alten Haudegen sind in den vergangenen Jahren so politisch geworden, dass sie sich bei der letzten Wahl gegenseitig dazu angestachelt haben, ausnahmsweise einmal nicht die Linksgrünen zu wählen, sondern … diese neue Partei da … die Demokratiewacht! … zur Abwechslung, in der Hoffnung, das Parteienspektrum zu erweitern. Sie kehrten dann wieder zu den Linksgrünen zurück, Mama liebäugelte mit den Piraten, aber Papa war richtiggehend erleichtert nach diesem Abenteuer, auch wenn Jörmundur, sein Seelenverwandter in politischen Belangen, plant, eine eigene Partei zu gründen, wenn ich das alles noch richtig weiß – wobei ich mir ziemlich sicher bin.

»Jörmundur händelt die Sache, wir müssen zuerst noch das Pamphlet fertig schreiben«, sagt Papa stolz und verschränkt die Arme über seinem weinroten Schmerbauch; das Hemd beißt sich mit seiner blau gestreiften Krawatte. Ich vermute, dass Mama ihn mit einem neuen Hemd aufhübschen wollte, und er sich selbst die Krawatte aus dem Schrank geholt hat.

»Der alte Knacker?«, wirft Mama ein, die jedes Wort mithört, wenn Papas Gespräche mit anderen Leuten ein interessantes Stadium erreicht haben. »Ich hoffe, du weißt, was du tust, wenn du dich an diesen Idioten hängst!« Sie zwinkert mir zu, als wäre ich ihre Verbündete im Kampf gegen Jörmundur.

»Ich unterhalte mich mit Guðni«, sagt Papa in gereiztem Ton zu Mama, ohne sie anzuschauen, auch wenn er sich ertappt fühlt. Denn letztendlich ist sie die Idealistin, diejenige, die sie beide anspornt, wenn die Verhältnisse der Allgemeinheit zur Sprache kommen. Papas Augen wandern zwischen uns Geschwistern hin und her, sie passen gut zu seinen grau durchwirkten Haaren und erinnern an eine gutmütige Bulldogge. Die Pupillen über den hängenden, bläulichen Tränensäcken sind feucht und so tiefblau, dass sie eher dunkel als hell erscheinen.

»Ich gebe nicht viel auf die Revolution, wenn dieser sture Bock … wie hast du das genannt?«, lacht Mama auf. »Die Sache händelt? Benutzt du jetzt auch schon Slang?«

Papa versteift sich, ist aber wenigstens so schlau, tief Luft zu holen, bevor er seinen Sohn und sich verteidigt: »Ist händeln jetzt schon ein schlimmerer Anglizismus als das, was du sagst? Slang!«

»Warum redet ihr von einer Revolution?«, fragt Guðni und läuft knallrot an. »Begreift ihr nicht, dass die Leute, die dieses Land regieren, in Ruhe arbeiten müssen? Im Althing arbeitet die von der Bevölkerung gewählte Regierung, diese ganzen Proteste auf dem Austurvöllur stören sie so sehr, dass sie gar keine Zeit mehr haben, sich etwas Vernünftiges zu überlegen. Wollt ihr etwa, dass hier totale Anarchie herrscht wie in Syrien?«

»Guðni, sie meinen das doch nicht so«, kichert Jóhanna.

»Jetzt lass deinen Bruder mal ausreden«, herrscht Mama sie an und reicht mir ein Tablett mit aufgeschnittenem Brot, damit ich es an die anderen weiterreiche.

»Verbiete ich ihm das etwa?« Jóhanna starrt Mama an wie ein eingeschnappter Teenager, doch die zuckt nur mit den Achseln und lässt damit allerlei Unausgesprochenes durchblicken. Ich reiche Guðni das Brot, ohne Jóhanna und Mama aus den Augen zu lassen. Sie kabbeln sich weiter, Mama aufgekratzt, stets in der Offensive; ihre Tochter genervt, in chronischer Verteidigungshaltung. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie robust Jóhanna in jeglicher Hinsicht ist: souverän und besonnen im Auftreten, immer alles im Griff, aber verzagt gegenüber der alten Frau, die sie auf die Welt gebracht hat. Ein Fremder würde nie darauf kommen, dass sie Mutter und Tochter sind. Jóhanna hat die dunkelsten Haare in der Familie, noch dunkler als die von Papa, der verdächtig überzeugend behauptet, er stamme von Basken ab, oder zumindest von französischen Seemännern. Jóhannas südländisches Seemannshaar ist immer ganz kurz geschnitten, nur der Pony ist lang und endet knapp über den Augen, die so tiefblau sind, dass sie manchmal schwarz aussehen, wie bei dem Alten. Ihre Haut erinnert an Qualitätshonig aus dem Bioladen und ihre Brüste an brasilianische Melonen, rund und voll, ganz von allein. Sie hat ihr ganzes Leben lang Diät gemacht, nimmt aber jedes Jahr ein Kilo zu, obwohl sie seit ungefähr zehn Jahren zweimal in der Woche zur Tanzgymnastik ins Kramhús geht. Jetzt hat sie sich mal wieder bekleckert, an ihrem hellgrünen Rollkragenshirt klebt matschiger Reis. »Jóhanna bekleckert sich immer«, sagt Mama manchmal und stößt mich mit dem Ellbogen an, weil wir beide uns nie bekleckern.

Wir sind femininer, findet Mama, auch wenn sie das nicht laut aussprechen würde, aber Jóhanna verachtet die Idee von weiblicher Raffinesse und würde ihre Tochter Hallgerður zu einem Feminismuskurs für Neunjährige schicken, wenn es den gäbe, enttäuscht, weil die Kleine die Free-the-Nipple-Bewegung in Reykjavík knapp verpasst hat.

»Es kommen noch mehr Revolutionen«, sagt sie aufmunternd zu Hallgerður, die eifrig nickt, denn sie glaubt, dass ihre Mama alles weiß, meine süße kleine Nichte, die mir ähnlicher sieht als ihrer Mutter und die ich so liebhabe, dass ihre Existenz mir letztendlich die Kraft gab, ein eigenes Kind zu bekommen. Mama befürchtet, dass der kleine Grímur, der still und brav und ein großes Schachtalent ist, sich wegen der Emanzensprüche seiner Mutter benachteiligt fühlen könnte.

»Jetzt reicht’s aber! Wir sind doch nichts Besseres, nur weil wir eine Gebärmutter und die ganzen damit verbundenen Scherereien mit uns herumschleppen. Manche Frauen können anscheinend an nichts anderes denken als an ihre Muschi, bitte sei nicht so, meine Süße, du musst doch auch mal an deinen Jungen denken«, sagte sie einmal mit vor Güte strahlenden Augen, woraufhin Jóhanna zum ersten Mal in ihrem Leben sprachlos war. Und das bin ich auch, jetzt, als der Satz wortgetreu in meinem Kopf echot. Wann hat sie das noch mal gesagt?

Ich weiß es nicht, dabei sehe ich sie deutlich vor mir, wie sie es sagt. Die Diabilder laufen unkontrolliert weiter, begleitet von den Radiohörspielen, und ich unterdrücke ein penetrantes Stöhnen, damit niemand etwas von dem Wirrwarr in meinem Kopf mitbekommt, sacke aber auf meinem Stuhl zusammen, als meine Gedanken erneut auf die Tatsache prallen, dass Ívar nicht bei mir ist. Ich brauche Ruhe und Frieden, damit der Lärm in meinem Kopf aufhört und ich mich endlich wieder an die wichtigen Dinge erinnere. Sofort!

»Möchtest du noch etwas Suppe, Saga?«, fragt Mama und mustert mich, eine Sorgenfalte zwischen den Augen. Ich schiebe mir den Löffel in den Mund und lächle sie an, damit sie sich entspannt und für einen Moment aufhört, so gestresst zu sein.

»Willst du nicht mal durchatmen, Liebling, und selbst etwas essen?«, sagt Papa zaghaft zu ihr, fällt jedoch in sich zusammen, als sie ihm einen tadelnden Blick zuwirft. Er sollte es besser wissen, der Gute.

Ich weiß, wie man mit Mama umgehen muss. Trotzdem werde ich die absurde Vorstellung nicht los, dass ich ein Alien bin, der in der Wohnung dieser Familie aufgewacht ist, und sie im Traum davon überzeugt habe, dass ich bei ihnen wohne. Mamas Wunsch-Alien, denn wir konnten uns schon immer gut mit den vielen Vogue-Zeitschriften beschäftigen, die sie in Ledermappen einbinden lässt, und mit Kleiderschnitten, an denen die anderen kein Interesse haben, genauso wenig wie an Modetrends, Schnäppchen und Salatrezepten, all dem, worüber Mama und ich quatschen, um unser Leben zu würzen.

Jóhanna pflegt am liebsten ihren Garten; im Sommer lebt sie fürs Gärtnern und im Winter für ihre Therapeutin, die sie sich verkneift, solange die Nächte hell sind. Dabei sollte eine Frau mit grünem Daumen und unerschöpflichem Interesse an Psychologie eigentlich verstehen, dass Nähe nur auf einem lockeren Boden sprießen kann. Aber sie begreift nicht, wie Mama und ich uns endlos über die Zubereitung von Islandmoossuppe oder den nächsten Schlussverkauf unterhalten können. So verbringen wir schöne Stunden miteinander, Stunden, auf die Mama sich freut, denn sie hat zwar Bekannte, mehr als genug sogar, schließlich arbeitet sie schon seit Ewigkeiten als Sekretärin in derselben Anwaltskanzlei, aber keine engen Freunde, außer Papa.

Ich bin die Freundin, die bei ihr sitzt, meistens samstagsmorgens, Nikotinkaugummi kauend über Klatschzeitschriften, die Anlass für jede Menge ironische Witze bieten, genau wie die Tageszeitungen, darin findet man eine Fülle von tragikomischen Skandalen. Sie plappert über all die reichen, aber primitiven Leute und die noch dümmeren Politiker, besonders die isländischen, die keine Ahnung von der Bevölkerung haben, geschweige denn von der nachhaltigen Nutzung isländischer Kräuter, und schmiegt sich in ihren dicken Bademantel, jetzt, da sie es sich endlich leisten kann, regelmäßig neue Bademäntel zu kaufen, wedelt mit den frisch lackierten Zehennägeln und beginnt, sich die Fingernägel zu lackieren, und ich freue mich darüber, dass sie gut drauf ist, während ich Lockenwickler in ihr hellrotes Haar drehe, das früher genau wie mein Haar war, aber längst ergraut ist, und dann lachen wir gemeinsam über Jóhannas Aktionen.

Aber Jóhanna, die sich nichts sehnlicher wünscht, als mit Mama tiefschürfende Gespräche zu führen und über alles zu reden, ja, über alles, alles, was wichtig ist, die kriegt keinen Kontakt zu dieser Frau, die sich ALLEM entzieht wie ein Hund einem Duschkopf, indem sie liebenswürdig fragt, ob Jóhanna eigentlich zu dick sei, um Spaß daran zu haben, mit uns die Vogue durchzublättern.

Jóhanna kann sich damit trösten, dass Papa gern gärtnert, Psychologen allerdings meidet.

»Was machen wir heute Nacht mit Saga?«, wagt er es zu fragen.

»Darüber machst du dir Gedanken?« Mama hebt die fahlen Augenbrauen und richtet die Spange in ihrem Haarturm. Ich täusche mich nicht, sie rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum und hat das Essen kaum angerührt.

»Sollte nicht jemand bei ihr übernachten?«, entgegnet er gelassen, aber mit Nachdruck. Er nimmt eine Serviette und tupft sich den Mund ab, ohne Mama aus den Augen zu lassen. Die Bewegung seiner Hände ist beherrscht, geradezu verdächtig kontrolliert. Sein Blick fest, aber voller Emotionen, die bei der kleinsten Gelegenheit in einem Wutausbruch und jähen Gesten hervorbrechen könnten; manchmal habe ich das Gefühl, dass er alles daransetzt, nicht aus sich herauszugehen. Und er muss dasselbe Gefühl haben, sonst würde er nicht jedes Wochenende Berge besteigen – zum Durchatmen, wie er sagt und Mama dann scherzhaft mit dem Ellbogen anstößt, denn sie gerät schon außer Puste, wenn sie durch die Läden im Einkaufszentrum Kringlan spaziert.

Auf seine Weise ist er auch ein Alien, der bei Mama gestrandet ist, wenn auch von einem anderen Planeten als ich.

Am Ende war er es nämlich, der meinen Namen auswählte, nachdem Mama Jóhanna nach ihrer Mutter benannt hatte. Er betrachtete mich eine Weile und meinte schließlich, ich solle Saga heißen. Mama fand das absurd – wer zum Teufel hieß denn Saga? Hielt sich der Elektriker jetzt schon für einen Dichter? –, aber da er ihre Bemerkungen ignorierte, gab sie klein bei.

»Guðni vielleicht?«, sagt Mama und blickt zu ihrem Sohn, der gierig seine Suppe löffelt, mehr interessiert an den Rübenstücken auf seinem Löffel als an dem Gesprächsthema.

»Wäre es nicht besser, wenn Jóhanna bei ihr bleibt?«, meint Papa und schaut bittend zu seiner ältesten Tochter, die mit den Schultern zuckt, bevor sie mich ansieht. Möchte ich das?

»Das ist wahrscheinlich besser, als wenn ich allein bin«, gebe ich zu, denn ich kriege sofort Aversionen bei der Vorstellung, dass Guðni auf mich aufpasst, der entweder über seinen Segelklub oder über Bergurs angebliche politische Korrektheit redet, die er für gefährlich hält, ohne sie genau definieren zu können, oder einfach schweigt, erdrückend nah.

»Na gut, dann rufe ich Doddi an«, seufzt Jóhanna, »und sage ihm, dass er die Kinder ins Bett bringen soll.«

»Ja, mach das, meine Süße«, sagt Mama und nimmt Jóhannas Teller, um noch etwas Suppe daraufzuschöpfen. Vater und Sohn reagieren einsilbig und vertiefen sich wieder in ihr Gespräch, diesmal über einen ausländischen Drogenring in Island, über den Guðni sich große Sorgen macht. Papa bestärkt ihn in seinen Befürchtungen, stolz auf seinen Sohn.

Ich zähle leise bis fünfzig, plötzlich tut die Sehnsucht nach Ívar furchtbar weh. Ich muss ihn sehen. Sofort! Mein geliebter Ívar. Bestimmt überlegst du gerade, was mit der Mama passiert ist, und in deinen Augen sind lauter Fragezeichen, wie wenn ich aus dem Zimmer laufe, um die Zahnbürste zu holen, und du fröhlich lachst, sobald ich wieder im Türrahmen erscheine. Wir wollten diesen Spaziergang machen, dann die Reste von meinem Geburtstag essen und Kakao kochen, glaube ich. Aber was war … am Tag davor? Was geschah da? Warum ist alles so? Kann man dich mir nicht mehr anvertrauen?

»Möchtest du noch etwas Suppe, Saga?«, fragt Mama, wie es sich für eine Gastgeberin gehört, denn mein Zuhause ist jetzt ihr Zuhause.

»Nein, ich muss aufs Klo.«

»Bekommst du schon wieder einen Krampf?«

»Nein, ich habe es vorhin nur vergessen. Dass ich mal muss.«

Ich spüle die Sehnsucht ins Klo. Ich kann Ívar nicht anrufen, nicht, solange sie alle hier sind.

Als sie endlich weg sind, ist es schon weit nach acht Uhr. »Ruf jetzt nicht mehr an, Saga«, bittet mich Jóhanna sanft. »Ívar ist schon im Bett.«

»So spät ist es doch noch gar nicht«, protestiere ich, höre sein Lachen, und meine Brust zieht sich zusammen.

»Doch, Saga. Du kannst ihn morgen anrufen.«

»Dann ist er im Kindergarten.«

»Es ist nicht gut, ihn zu wecken, das weißt du doch. Du musst dich ausruhen, das sehe ich dir an. Komm, ich setze mich zu dir, während du einschläfst.«