»Ich glaube, das wäre alles nicht passiert, wenn ihr noch am alten Ort wohnen würdet«, sagt Jóhanna auf meiner Bettkante und befingert ein weißes Taschenbuch, das auf dem Nachttisch aus dem Antiquitätenladen liegt, den Doddi und sie uns zur Hochzeit geschenkt haben. Das Buch macht mich neugierig: Makers of Modern Theatre: An Introduction.
Der Ort muss unsere alte Wohnung sein, schlussfolgere ich und sehe ein Bild von der endlos langen Ránargata an einem Sommerabend vor mir, während ich mich gleichzeitig über das Buch wundere, mich aber dunkel daran erinnere, es gelesen zu haben.
»Es gab da mal so einen Typen, der hatte eine interessante Theorie über Orte und Schicksale. Ich glaube, es war ein alter Jude in einem Woody-Allen-Film«, fügt Jóhanna nachdenklich hinzu, verstummt jedoch abrupt, weil es ihr widerstrebt, ihr altes Idol zu zitieren, nachdem Dylan Farrow ihn öffentlich des Kindesmissbrauchs bezichtigt hat. Seufzend sagt sie: »Ach nee, doch nicht, ich glaube, ich habe das in einer Dokumentation über die ungleiche Verteilung von Reichtum gehört.«
Sie streicht die hellblaue Bettdecke glatt, drückt sie fester an meinen Körper und sagt, dieser Mann habe die These aufgestellt, dass das Schicksal des Menschen von dem Ort abhänge, an dem er wohne. Derselbe Mensch hätte sich an einem anderen Ort anders entwickelt, aber dann sei er natürlich nicht mehr derselbe Mensch.
»Logisch«, erwidere ich verständnislos und mustere den Ort, an dem wir uns befinden: das geräumige, helle Schlafzimmer, in dem nichts steht außer einem altmodischen Nachttisch, einem Doppelbett, einem holzfarbenen Sideboard unter dem großen Fenster und Ívars Gitterbettchen, das meistens leer ist, weil er immer zu mir ins Bett kriecht. Der Raum wirkt sonderbar auf mich, als würde ich mir nur einbilden, mit diesen Möbeln verbunden zu sein, und das Gefühl ist so seltsam, dass ich es selbst nicht begreife. Jóhanna zieht das Kissen unter meinem Kopf hervor, um es auszuschütteln, und schiebt es anschließend wieder darunter.
»Doddis Vetter Tóti wohnt zum Beispiel abwechselnd in Berlin und Sankt Petersburg. In Berlin hört er meistens klassische Musik, und in Petersburg spielt er Schlagzeug in einer Rockband. Ich dachte, das gilt vielleicht auch für Häuser. Hast du Durst oder so?«
»Nein«, antworte ich und bitte sie, mir das genauer zu erklären, in der Hoffnung, meine Situation dann besser zu verstehen.
»Na ja, zwischen Bergur und dir schien doch alles in Ordnung zu sein, bevor ihr den Schimmelpilz entdeckt habt«, seufzt sie bedauernd.
Die Wohnung in der Ránargata! Schon allein der Straßenname versetzt mich in eine melancholische Stimmung. Sie war gemütlich, ich sehe die warmen Farben vor mir und rieche den Duft von Essen, sehe unser Wohnzimmer, vollgestellt und manchmal unordentlich, aber immer einladend. Jóhanna muss wohl meinen, dass alles in Ordnung war, bevor wir aus der Ránargata weggezogen sind. Wie war das damals? Die Frage bringt mein Gedächtnis ins Stocken, und es fällt mir schwer, uns dort zu sehen. Das ist wie damals an dem Abend, als Papas alter Diaprojektor kaputtging, als er Bilder von sich und Mama in jungen Jahren an die Wohnzimmerwand projizieren wollte. Aber irgendwann gelingt es mir, uns in der alten Wohnung auszumachen.
In meinem Kopf essen wir entweder gerade oder machen uns bettfertig. Ich erinnere mich an Ívars erste Nacht in der Korbwiege mit dem weißen, blitzsauberen Schleier, als Bergur auf ihn aufpasste, damit ich in der milden Sommerdämmerung schlafen konnte. Ich erinnere mich an Bergurs und mein erstes Weihnachten in dieser Wohnung, als ich viel zu viele angebrannte, ungenießbare Pfefferkuchen backte, weil wir endlich ein richtiges Zuhause hatten … Aber was passierte genau? Ich muss jetzt schnell nachdenken. Jóhanna würde garantiert ein Riesentheater um meine Vergesslichkeit machen, die bestimmt weg ist, wenn ich mich erst einmal richtig ausgeschlafen habe.
»Ist alles okay, Saga?«
»Ja, nur ganz leichte Kopfschmerzen. Normale Nachwirkungen.«
»Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, wenn ich das so offen anspreche«, sagt sie, ohne auf eine Antwort zu warten. »Es ist immer hilfreich, wenn andere mal dein Leben unter die Lupe nehmen. Ich weiß zum Beispiel noch, wie gut es für Doddi und mich war, zur Eheberatung zu gehen. Ihr habt da nie drüber nachgedacht, oder?«
»Wir haben über alles Mögliche nachgedacht«, antworte ich und lenke das Gespräch dann in eine andere Richtung: »Interessant, was du über den Schimmelpilz gesagt hast.«
Jóhanna streicht sanft über meine Bettdecke. »Ich glaube, diese ganze Aufregung war der Auslöser«, sagt sie. »Ihr wirktet echt glücklich in der Ránargata. Die Wohnung war zwar nicht groß, aber schön und gut geschnitten. Und dann war Ívar plötzlich so verschleimt.«
Panik steigt in mir hoch. Wovon spricht sie?
»Ich hatte sofort die Vermutung, dass es mehr ist als eine chronische Erkältung. Jedenfalls keine normale Kehlkopfentzündung«, beteuert sie, sich ihrer Sache sehr sicher. »Es kann doch nicht sein, dass man alle paar Wochen mit einem Kind mit Atemnot ins Krankenhaus fahren muss.«
»Nein.«
»O Gott, als ihr gerade hierher gezogen wart und du mir erzählt hast, Ívar wäre blau angelaufen! Hatte er da nicht nur vierzig Prozent Sauerstoffsättigung?«
Da ich kein Wort herausbringe, schüttelt sie entschuldigend den Kopf und sagt: »Ich bin ja in medizinischen Dingen nicht so bewandert, aber das ist lebensgefährlich.«
Das Entsetzen lähmt jede Zelle in meinem Körper. Was soll ich antworten?
Ich zoome mich aus dem Gespräch und wieder hinein in das hypnotisierende Gerede meiner Schwester: »Dabei hatte ich so gehofft, es käme von dem Schimmelpilz.«
»Ja«, sage ich und höre, wie draußen der Wind pfeift. Er schlägt gegen die Fensterscheibe, die nachgeben und zersplittern könnte.
»Aber als er diesen schlimmen Anfall hatte, da gab es ja gar keinen Schimmelpilz mehr. Da wart ihr doch schon umgezogen.« Sie schüttelt traurig den Kopf. »Meine Kinder haben fast gar nichts vom Krupphusten mitbekommen, der kam und ging einfach wieder. Der Arzt hat uns versichert, er wäre harmlos. Ich bin ja mal gespannt, was bei den Untersuchungen rauskommt. Hat er nicht bald die Luftröhrenspiegelung? Wie ist denn der Stand der Dinge?«
»Hm, ja«, stammele ich und versuche, sie nicht merken zu lassen, dass mein Körper sich vor Angst zusammenkrampft. Welche Untersuchungen? Ihre Worte klingen wie Fragmente aus einem vergessenen Traum; Erinnerungen werden wach, und undeutliche Momentaufnahmen tauchen auf, Ívars Röcheln im Dunkel der Nacht. Ist das ein Film, den ich gesehen habe? Warum erinnere ich mich an so viel Unwichtiges, aber an nichts, was mein Leben ausmacht? Ich bin wohl doch müder, als ich dachte. Jóhanna attestiert es mir: »Saga, du bist todmüde«, sagt sie mit einem milden Lächeln und drückt meine Hand, während sie mir gesteht, dass sie es trotz allem richtig fand, dass wir wegen Ívar auf Nummer sicher gegangen sind und die Wohnung verkauft haben, obwohl dieser Asthma-Arzt meinte, Schimmelpilzerkrankungen seien eine Modeerscheinung, und Ívars Krankheit habe nichts mit Schimmel zu tun.
»Das war alles so heftig, dass ich es gar nicht mehr richtig sortiert kriege«, wage ich zu sagen. »Aber was … was ist denn jetzt mit Ívars Anfällen?«
»Versuch einfach, so wenig wie möglich darüber nachzudenken«, antwortet sie. »Es ist ja erst ein paar Tage her, seit du vor Angst nicht schlafen konntest.«
»Ja«, murmele ich.
»Natürlich war es nicht leicht für den Kleinen, den Kindergarten zu wechseln und umzuziehen und die Trennung seiner Eltern zu verkraften. Alles auf einmal! Aber jetzt wird es hoffentlich ruhiger. Ist er immer noch so hibbelig in dem neuen Kindergarten?«
Das Zimmer dreht sich vor meinen Augen, und mein Magen pumpt Säure in imaginäre Fleischwunden, aber ich schaffe es trotzdem hervorzustöhnen: »Schwer zu sagen.«
Ein Bild von Ívar in einem Regenanzug vor einem grauen Holzhaus mit gelben Fensterrahmen schwebt vor meinem inneren Auge vorbei, während Jóhanna mit sanfter Stimme sagt: »Diese Belastung macht natürlich allen in der Familie zu schaffen. Bist du dir sicher, dass die Luft hier an der Miklabraut für Ívar gesünder ist?«
»Ich weiß nicht, die Fenster müssen noch ausgetauscht werden, aber ich denke schon, oder?«
Sie lächelt mir aufmunternd zu, wirkt aber immer noch skeptisch und sagt, wir sollten das Beste hoffen. Aber jetzt müsse ich schlafen.
Nein, erzähl mir alles!, schreie ich stumm. Der Schrei durchbohrt mich von innen, während ich lächelnd daliege, wie damals, als wir klein waren und sie mich in den Schlaf gelullt hat. »Gute Nacht, Jóhanna«, flüstere ich.
»Gute Nacht, Saga, und träum was Schönes.«
»Danke.«
Ich presse die Augenlider zu. Ich muss schlafen, um die Träume zu finden, denn das Wachsein ist ein Albtraum. Ich brauche sie dringend, stärker als je zuvor. Und ich träume.
ich träume
ein Duft in der Nackengrube
ein Diadem aus Locken
das helle Lachen
Ívar
morgen
morgen