GESCHEHNISSE IN DER NACHT

Ich rief nach ihnen, so laut ich konnte, denn das Schnarchen hatte sich in ein zischendes Röcheln verwandelt. Meine Schwester war erschöpft, das Röcheln wurde mit schwindender Kraft immer leiser und, wenn sie sich anstrengte, wieder lauter. Ihre Augen blickten mich angstvoll an, ich spürte, dass sie in sich selbst gefangen war, ich konnte nichts machen. Nichts jetzt, aber was machte ich damals?

Ich rannte in den Flur und schrie, aber sie brüllten zu laut, um mich zu hören. Papa warf Mama vor, mit irgendeinem Kerl gesprochen zu haben, doch sie bestritt, jemals so mit dem Mann geredet zu haben, wie er meinte; dabei war er es doch gewesen, der eine ganze Nacht mit einer Frau versackt war, die sie manchmal im Supermarkt trafen.

»Jetzt hör mir doch mal zu, Bjarni«, heulte sie, als ich rief: »Ihr müsst kommen!« Sie heulte weiter: »Ich schwöre es, Bjarni!«, und kauerte sich zusammen in ihrem schäbigen Frotteebademantel, farblos von tausend Wäschen. Er dröhnte mit bebender Stimme: »Du verlogene Nutte!«

Erst als ich an Papas Hosenbein zog und rief: »Katrín ist krank!«, erstarrten beide mitten in dem Schauspiel, sein finsterer Blick wurde wieder menschlich, er ging, und Mama sprang sofort auf und rannte mit Jóhanna auf den Fersen zu Guðni und Katrín ins Zimmer.

Doch da war es schon zu spät.

Der Arzt konnte nichts mehr ausrichten, ihnen nur sagen, sie hätten sofort einen Krankenwagen rufen müssen. Er hatte bei dem Unwetter lange gebraucht. Als er endlich eintraf, war Katrín schon blau, er versuchte alles, um sie zu retten, eine Zeit lang dachten wir, es würde klappen, doch als der Krankenwagen kam, war sie tot.

Ich sehe sie vor mir, wie sie sich weinend über sie beugen, alles ist steingrau, aber ich höre die Geräusche, all diese schrecklichen Geräusche, und ich starre in das leere Wasserglas, wie betäubt, komme dann zu mir. Was ist das für ein Geräusch?

Sie sind hier, in Ívars Kinderzimmer, die Teenager, die auf mich aufpassen. Jóhanna ist mit Papa nach Hause gefahren, nachdem sie mir ins Bett geholfen hatte. Ob Mama gefunden wurde? Diese Geräusche, sie erinnern mich an etwas – als würden sie sich gegenseitig befriedigen.

Genüssliches Murmeln, der Atem geht schneller und schneller, das Mädchen stöhnt unterdrückt. Es hört sich an, als würden sie sich auf dem Boden zwischen Ívars Spielzeug wälzen, den Playmobil-Figuren und Lego-Steinen, ihre Laute haben sich in mein Bewusstsein geschlichen und meinen Traum in einen Albtraum verwandelt. Ich hätte ihnen niemals erlaubt hierzubleiben, wenn ich gewusst hätte, dass sie vorhaben, miteinander zu schlafen. Spritzt der Junge gerade auf Ívars neuer Lego-Feuerwache ab? Was habe ich denn erwartet? Ein junges Mädchen und ihr Freund, den sie unbedingt dahaben wollte. Sie haben mich hintergangen. Sie könnten mich überfallen, wahrscheinlich wollen sie mich ausrauben.

Ich taste nach dem Schalter der Lampe, und als ich ihn drücke, sticht grelles Licht in meine Augen und brennt. Schnell schalte ich die Lampe wieder aus und beruhige meine Pupillen, indem ich aus dem Fenster starre, in den trüben Schein der Straßenlaterne.

Ich muss ihnen sagen, dass sie abschwirren sollen. Aber was, wenn ich sie damit nur aufstachele? Zwei gegen einen. Ich Idiotin. Ich hätte auf Jóhanna hören sollen, sie weiß, was Sache ist. Wirklich? Was weiß sie denn schon? Kann ja auch sein, dass das Mädchen nur im Schlaf murmelt. Mein Albtraum hat sich in ihren Kopf hineingeschlichen und sie anstelle meiner Mutter befriedigt, die durch nichts zu befriedigen ist, nie mehr. Obwohl ich ihre edlen Zeitschriften gelesen habe, bevor ich ein Wort davon verstand, heimlich ihre Schminksachen und Klamotten ausprobiert und mir angewöhnt habe, Papa, Jóhanna und Guðni die Worte im Mund zu verdrehen, so wie sie, Lieder von Ellý Vilhjálms und Ragga Gísla mitgesungen habe, so wie sie, als sie noch gesungen hat. Ich war ihr nie im Weg, weil ich in ihr aufging. Sie sah mich nicht. Was, wenn ich Ívar nicht mehr sehe? Oder noch schlimmer: Was, wenn ich meinen Sohn sehe, mich aber nicht an sein Gesicht erinnern kann und ihn nicht erkenne, weil mein Gehirn mein Herz hintergangen hat?

Die Angst boxt mir in den Bauch, nein, alles, nur das nicht, nur das nicht, nur das nicht, ich werde seinen Geruch immer erkennen, mein Gedächtnis kommt wieder, ich erinnere mich schon an so vieles, auch an das, was ich vergessen hatte.

Jemand wirft mir einen Rettungsring zu, als das Telefon klingelt.

Guðni ist außer Atem, aber resolut, als er mir mitteilt: »Ich wusste nicht, ob ich dich wecken soll, aber ich wollte dir zumindest sagen, dass wir sie gefunden haben, falls du trotz allem noch wach sein solltest.«

»Wo?«

»Na, da, wo du meintest, Schwesterlein«, antwortet Guðni und bemüht sich auf seine unbeholfene Art, herzlich zu klingen. »Es geht ihr gut, sie ist eigentlich wie immer. Den Rest erfährst du morgen. Ich muss mich aufs Ohr hauen«, rasselt er herunter, gestattet sich aber am Ende ein Gähnen, dieser wackere Diener seiner Pflicht, sowohl privat als auch beruflich.

»Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast, Guðni.«

»Keine Ursache. Gute Nacht. Und … äh …«

»Ja?«

»Schlaf gut und träum was Schönes.«

»Du auch, Guðni.«