FÄNGER

Ist jemand gestorben?

Weiße, langstielige Rosen stehen in Mamas Kristallvase mitten auf dem Telefontischchen und vermischen sich mit dem schneeweißen Tag draußen vor dem Fenster, aber sie sind gelblicher als der Schnee, eine lässt den Kopf hängen, fängt schon an zu welken. Die Erde ist weißer als der Himmel. Der Herbst ist vorüber, heute ist Winter.

Die Helligkeit sticht mir in die Augen, als ich in die Küche komme, meine Pupillen sind äußerst empfindlich. Ist das etwa eine leichte Migräne? Der Druck in meinem Kopf ist konstant und wird immer stärker. Schmutz von der Miklabraut hat sich an dem morschen Rahmen des Küchenfensters festgesetzt, und mir fällt wieder ein, dass die Fenster bei unserem Einzug erneuert werden sollten, sie sind alt und schützen uns nicht mehr vor den Autoabgasen, trotz einer speziell eingebauten zusätzlichen Scheibe. Doch aus all unseren Vorsätzen wurde nie etwas, und jetzt ist die Fensterbank feucht und mit klebrigen Streifen verschmiert, durch einen Spalt im Fenster hat es hereingeschneit, und in der engen Küche ist es kalt.

Ich schnappe mir einen Lappen, um den Dreck zu beseitigen, und einen anderen, um das Wasser wegzuwischen. Hoffentlich gibt das keine Wasserschäden. Schimmel womöglich, das wäre noch die Krönung … Das Pochen in meinem Kopf wird schlimmer, ein Schrei bricht aus mir heraus, dringt aber nicht durch die Fensterscheibe.

Auf dem Bürgersteig stapft eine untersetzte Frau vornübergebeugt durch die Schneewehen. Sie muss in den Sechzigern sein, trägt einen orangefarbenen Anorak und eine schwarze Skimütze und zieht einen Schlitten mit einem vollgepackten Postsack hinter sich her.

Ich kenne sie, es kommt mir so vor, als würde ich sie jeden Tag sehen, und der Gedanke erleichtert mich, auch wenn mich etwas an der Frau beunruhigt. Mein Gedächtnis kommt allmählich zurück. Ganz bestimmt, wenn ich diese Frau schon erkenne, die ich gar nicht kenne. Sie wird von einem Schwall Wasser bespritzt, als ein Auto vorbeirast, gefährlich nah am Bürgersteig, aber sie ignoriert es einfach. Trottet weiter mit der Schwerfälligkeit eines Panzers, ohne den Verkehrsstrom auch nur im Geringsten zu beachten, fest entschlossen, ihr Tagespensum zu erfüllen, im Gegensatz zu mir, als ich auf die Fersen sinke.

Haben Bergur und ich eigentlich darüber gesprochen, wann Ívar zurück nach Hause kommt? Nicht heute, das ist klar. Wann darf er wieder zu mir? Worüber haben wir geredet? Ich muss mit Bergur sprechen. Ihn all das fragen.

Ich kann ihn nicht wieder anrufen. Ich kann ihm nicht sagen, dass sich ein Stachel in meinen Kopf bohrt, wenn ich an uns beide denke. Alles wird zu nichts. Im Handumdrehen! Ich erinnere mich so gut wie gar nicht an die Ereignisse der letzten Wochen, nur an einzelne Bruchstücke, die willkürlich im Nebel aufploppen. Habe ich weiße Rosen gekauft? Warum, verdammt noch mal? In meiner Familie gibt es weiße Rosen nur bei Beerdigungen. Ich schaue auf und in den Flur, mein Blick bleibt an der Vase hängen. Da ist ziemlich wenig Wasser drin, ich muss mich aufraffen und sie auffüllen.

Ich stehe mit der schweren Kristallvase an der Spüle, breitbeinig, die Augen auf den Verkehr geheftet, während das Wasser in die Vase läuft. Schmutzige Autos rasen vorbei, rote, schwarze, blaue, alle irgendwie grau. Steingrau verschmelzen sie miteinander und werden zu schwarzen Linien, alles in meiner Umgebung scheint miteinander verschmelzen zu wollen, bis ich aus dem hypnotischen Zustand hochschrecke, erstaunt über dieses Gefühl, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr empfunden habe und das viel realer wirkt als alles, was außerhalb meines Kopfes passiert ist und sich mir ins Gedächtnis geprägt hat. Das Wasser fließt über den Rand der Vase, ich gieße wieder ein wenig heraus, komme aber erst richtig zu mir, als ein Jugendlicher eine Abkürzung über die Miklabraut nimmt, in einem Affenzahn, trotzdem aber fast von einem Jeep erfasst wird. Was denkt sich der Knabe, die Ampel ist doch nur zehn Meter entfernt?

Hier könnte leicht ein tödlicher Unfall passieren. Teenager, die bei Rot noch schnell über die Ampel laufen, einer nach dem anderen. Ich müsste mich auf den Bürgersteig stellen, wie der Fänger im Roggen, und die Kinder packen, bevor sie sich in den Verkehr stürzen. Ívar darf das auf keinen Fall nachmachen, wie ein Hund, der vom Nachbarhund lernt, Autos nachzurennen. Ich muss das stoppen, stoppen, stoppen, stoppen! Es tut höllisch weh. Ein stechender Schmerz zerreißt meinen Kopf. Ich darf nicht so denken. Hör auf! Sofort! Mein Kopf platzt, der Druck ist entsetzlich. Ich sterbe.

Vorbei!

Hat der Schmerz aufgehört?

Der Schmerz ist genauso schnell verschwunden, wie er gekommen ist. Seltsam. Aber mein Körper ist schlapp nach der Tortur. Vielleicht wäre es klüger, ein Glas Saft anstatt Kaffee zu trinken. Ich riskiere es und gönne mir beides, stürze gierig die zuckrige Flüssigkeit hinunter und schaue mich suchend nach der Kaffeekanne um. Etwas sagt mir, dass diese Kopfschmerzen nichts mit Kaffeekonsum zu tun haben, sie sind anders und setzen anscheinend immer dann ein, wenn ich an etwas Unangenehmes denke, wie merkwürdig das auch klingen mag. Mein Leben ist schon verwirrend genug, da muss ich mich nicht auch noch auf Koffeinentzug setzen. Wo ist die Kaffeekanne? Wo ist der Kaffee?

Ich fühle mich, als hätte ich die sieben Gipfel bestiegen, während das Wasser auf der heißen Herdplatte zu brodeln beginnt. Bald fängt die Flüssigkeit in der Kanne an zu köcheln und verströmt aromatischen Kaffeeduft. Ist etwas zu essen im Haus? Auf einmal kriege ich einen Riesenhunger, als hätte er es darauf angelegt, mich aus dem Hinterhalt zu überfallen. Den kenne ich, diesen brutalen Hunger. Den hatte ich früher auch nach Krampfanfällen, er ist heftig, als ließe sich die tief in meinen Eingeweiden sitzende Gier durch nichts befriedigen. Meine Hand zittert, als ich mir eine bräunliche Banane schnappe, die Schale abreiße und sie mit einem Biss zur Hälfte verschlinge. Mein Leben hängt davon ab zu essen, und ich nehme mir sofort eine weitere Banane, nachdem ich die erste aufgegessen habe, schwinge mich auf einen Barhocker vor dem Tresen, der an der Wand befestigt ist, und kaue stöhnend.

Irgendwer muss mir die Rosen geschenkt haben. Aber wer? Wann kommt Mama zurück? Vielleicht sollte ich noch mal jemanden anrufen, nur zur Sicherheit, falls etwas passiert ist. Wann kommt Ívar? Ich kann ihn riechen, seinen frischen kindlichen Duft, ich spüre ihn, höre sein ebenso helles wie maskulines Lachen, wenn er mit dem Po wackelt wie ein Hundewelpe und vorgibt zu pupsen, weil das am allerwitzigsten ist. »Los, Mama, komm!«, ruft er und möchte, dass ich mit ihm herumalbere.

Jetzt darf er nicht bei mir sein, man kann ihn seiner Mutter nicht mehr anvertrauen. Schon die Vorstellung ist schlimmer als der Stachel in meinem Kopf. Scharf und heiß, so heiß. Mein Gehirn lodert, meine Gedanken gehen in Flammen auf.

Ich kneife die Augen zusammen.

Brennende Sonnen.

Es klingelt laut an der Tür, als der Kaffee gerade zu kochen beginnt. Hastig schalte ich die Herdplatte aus und schlurfe aus der Küche; die Tür geht schon auf, bevor ich im Flur bin.

»Ist das Telefon nicht angeschlossen?«, ruft Mama mit ihrer heiseren und doch kräftigen Stimme, während sie in einem hellen, akkurat geschnittenen Wintermantel hereinstürmt, einen dicken, bunten Strickschal um den Hals und eine Plastikhaube auf dem Kopf, obwohl ihre Haare immer noch nachlässig hochgesteckt sind, als hätte sie die Grippe. Wie üblich trägt sie feminine Winterschuhe mit flachem Absatz, ihre dünnen Beine ragen wie Besenstiele aus ihnen heraus, in hellgrünen Wollsocken mit kreischend gelben Streifen, die ihren verfrorenen Körper wärmen. Stets diese merkwürdige Mischung aus schrägem Mädchen-Look und konservativer älterer Dame, als wollte sie sich an diesen beiden Lebensabschnitten festkrallen und die Zeit dazwischen weglassen.

»Doch, ist es«, sage ich.

»Nein, Liebes«, widerspricht sie lebhaft und hebt die Augenbrauen, will mir mit diesem Gesichtsausdruck wohl einiges mitteilen.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich versuche schon die ganze Zeit, dich anzurufen, seit ich dich allein gelassen habe«, antwortet sie. »Erst war besetzt, dann ist niemand rangegangen. Ich habe mir ernsthafte Sorgen gemacht.«

»Ach? «

»Ich habe mich schrecklich beeilt. Du hättest schon wieder einen Anfall bekommen können«, erklärt sie, bemüht, nicht aus der Fassung zu geraten. »Meinst du, du hattest einen?«

»Nein. Ich glaube nicht«, antworte ich zögernd.

»Dann geht es dir bestimmt schon besser«, entgegnet sie zuversichtlich. »Ich war nur kurz zu Hause, um die Suppe zu holen. Du musst das Telefon mal checken.«

»Ja«, sage ich und gebe mein Bestes, um verbindlich zu klingen.

»Dídí, wo soll ich den Topf hinstellen?«, fragt Papa im Hintergrund, der Einzige, der Mama Dídí anstatt Kristín nennt, weil er das Mädchen Dídí kannte, das wir anderen vergessen haben, falls wir es jemals kennenlernen durften.

»Wohin du willst, Schatz«, antwortet sie prompt und tauscht ihre Winterschuhe blitzschnell gegen Hausschuhe aus einer Plastiktüte: weiße Clogs mit roten Massagesohlen. Anschließend verschwindet sie in der Küche, immer noch im Mantel mit Plastikhaube auf dem Kopf und Schal um den Hals, mit leicht gekrümmtem Rücken, aber flink auf den Beinen. Kaum ist sie über die Türschwelle, reißt sie schon den Kühlschrank auf und ruft in theatralischem Tonfall: »Saga, hier lebt ja alles!«

Ich schaue sie verständnislos an, obwohl ich über drei Jahrzehnte Zeit hatte, mich an ihre vergnügt süffisanten Ausrufe zu gewöhnen, die den Umständen nur selten angemessen sind. Sie nennt das Humor, meine Schwester nennt es Boshaftigkeit: diese unerträglich reizende Boshaftigkeit. Mama möchte witzig sein, schießt aber meistens über das Ziel hinaus und sagt etwas plump Gehässiges, obwohl das gar nicht ihre Absicht war, wohingegen Papa auch gern geistreiche Sprüche klopfen würde, aber vor lauter Angst, etwas Unpassendes zu sagen, höchstens etwas brummelt, das niemand versteht, und dann als Einziger darüber lacht.

»Soll das etwa ein passender Kühlschrankinhalt für ein dreijähriges Kind sein? Seit wann liegen da diese Sahneklumpen, oder was auch immer das sein soll?«, fragt sie mit gespielter Fröhlichkeit und wickelt sich den nassen Schal vom Hals, der einen frischen Duft nach Aromaöl aus ihrem Halsausschnitt entweichen lässt.

»Ich hatte doch Geburtstag«, erwidere ich, zwar unfähig, mich an Details zu erinnern, aber froh, noch zu wissen, dass meine Freundin Tedda und ihre neue Lebensgefährtin mit Kuchen vorbeikamen. Plötzlich habe ich sie lebhaft vor Augen, wie sie im Türrahmen stehen und mir ein schräges Geburtstagsliedchen trällern, die Arme voller Leckereien: eine mit Karamellcreme überzogene Torte aus der Konditorei, Makronen in allen Farben des Regenbogens und eine Flasche Rosé-Sekt. »Wie konnte ich das nur vergessen?«, murmele ich vor mich hin, voller Zuneigung zu meiner Jugendfreundin, die oft eine launenhafte Gleichgültigkeit an den Tag legt, einen aber mehr überraschen kann als jeder andere, gerade wenn man es am allerwenigsten erwartet.

»So was darf man nie aufbewahren«, kommentiert Mama mit unnatürlich breitem Lächeln, fasst sich dann urplötzlich an den Ellbogen und verzieht ganz kurz das Gesicht. Sie nennt diese chronischen, heftigen Stiche unterschwellige Schmerzen, falls sie sie ausnahmsweise mal erwähnt, was sie aber nie freiwillig tut. Sonst tut es auch niemand, nur wenn sie manchmal unvermittelt das Wetter vorhersagt und erklärt, ihre Muskeln würden so empfindlich auf Luftdruck reagieren, werden die Leute hellhörig.

Ich murmele etwas, anstatt zu antworten, diese penetranten Gedanken über meine Mutter erfüllen mich mit einem friedlichen Gefühl, als wollte sich mein Körper dafür belohnen, dass er sich an solche kleinen Details erinnert.

»Dídí, wie soll ich denn verdammt noch mal wissen, wo ich den Topf hinstellen soll?«, kräht Papa nach längerem Bemühen und dreht sich noch immer mit dem Topf um die eigene Achse, sein quadratischer Körper ist erschöpft von der Last, und ich würde mich nicht wundern, wenn sein Kopf unter der nassen Wollmütze juckt, die Mama ihm übergestülpt hat.

»Na, dann entscheide doch selbst!«, schimpft Mama, genauso ungeduldig mit ihm wie eh und je.

»Sag mir einfach, wo ich die scheiß …«, er verstummt, zieht die dichten Augenbrauen in die faltige Stirn und atmet tief ein, bevor er den Satz beendet: »… Suppe hinstellen soll. «

»Bitte mäßige dich, Saga ist krank!«

»Entschuldige, Saga«, schnauft er. »Aber ich kann nicht den ganzen Tag hier rumstehen und darauf warten, dass …«

Mama unterbricht ihn: »Und ich kann nicht immer alle Entscheidungen für dich treffen.«

Papa dehnt den Brustkorb; seine übliche Reaktion, wenn er krampfhaft versucht, die Wut nicht nach außen dringen zu lassen. »Sag mir einfach, was zum Teufel ich machen soll«, fleht er und verstummt dann wieder, wie um sich selbst zu ermahnen, und ich sehe Angst in seinen Augen aufblitzen, als er Mama anschaut – oder ist das Trauer?

»Siehst du nicht, dass ich gerade meinen Mantel ausziehe?«, sagt Mama langsam und vorwurfsvoll. Sie befreit ihr Haargewirr von der Plastikhaube und knöpft endlich ihren Mantel auf, woraufhin ein weintraubengrünes Winterkleid aus leichter Wolle mit einem hübsch gerundeten Ausschnitt zum Vorschein kommt. Es wirkt mädchenhaft an ihrem schlaksigen Körper, trotz ihrer krummen Haltung, ist aber traditionell geschnitten. Sie muss es erst kürzlich genäht haben, sonst würde ich mich daran erinnern. Ob sie die Idee aus der Vogue hat? Das Kleid sieht so aus, obwohl in ihren Nähzeitschriften mehr steckt, als man auf Anhieb erwarten würde. Egal, woher etwas Schickes stammt, es muss unbedingt bunt genug sein für eine Frau, die zwei Dinge über alles liebt: exzentrische Farbkombinationen und ihre Kinder. Ich schüttele den Kopf, um den Drang loszuwerden, all diese dubiosen Informationen ausgiebig zu analysieren, diese einschläfernde, aber anstrengende Benommenheit, die fernen Träume aus meinem eigenen Leben.

»Wenn ich den Topf einfach irgendwo hinstelle, bist du sauer, ich kenne dich doch, Dídí«, sagt Papa so freundlich wie möglich.

»Ach, Papa«, seufze ich, um das Gezänk zu beenden, das die beiden gern als gesunde Auseinandersetzung in einer guten Ehe bezeichnen.

»Ja, Schatz, hör auf Saga!«, wirft Mama ein, schaut mich verschmitzt an und hält mir den Mantel und den Schal hin. Dann dreht sie sich zu Papa, verzieht wieder schmerzhaft das Gesicht, verwandelt die Grimasse jedoch in ein flüchtiges Lächeln, nimmt eine kleine Plastikbox, die auf dem Topf steht, legt sie auf die Kleidungsstücke und erklärt, das sei klein geschnittenes Gemüse für Ívar, Karotten, Paprika und Gurken. »Danke«, sage ich und weiß nicht, ob ich dankbar oder beleidigt sein soll.

»Nichts zu danken«, entgegnet sie, kramt in der Tasche ihres Mantels, den ich auf dem Arm halte, und zieht ein tulpengelbes Stück Stoff heraus, das sich nach dem Aufschlagen als Schürze entpuppt. Sie bindet sie sich rasch um die Taille, pustet auf ihre geschwollenen Finger und holt dann den Kuchenteller aus dem Kühlschrank, der mit gelblichen Sahneklumpen bedeckt ist.

»Ívar und ich wollten nach dem Spaziergang die Reste essen. Aber daraus ist natürlich nichts geworden«, erkläre ich langsam, immer noch damit kämpfend, einen ganzen Satz laut zu formulieren, vielleicht weil ich mir nicht sicher bin, ob es wirklich so war, während ich gleichzeitig finde, dass es genau so gewesen sein muss. Ich kriege ein schlechtes Gewissen. Ívar hatte sich darauf gefreut, die Reste zu essen, und hatte ich ihm nicht auch versprochen, Kakao zu kochen? Erinnere ich mich richtig, oder erscheint mir das nur wie das wahrscheinlichste Szenario? Das Bild von Ívar und das Bild von der singenden Tedda vermischen sich zu einem konfusen Wirrwarr.

Mama hat Mitleid mit mir. Sie kommt zu mir und sagt behutsam: »Schon gut, Saga. Mach dir keine Vorwürfe.«

»Mache ich nicht«, entgegne ich und drücke den Mantel und die Plastikbox an mich.

»Doch, Liebes, ich bin auch nicht von gestern«, sagt sie, nimmt mir rasch die Sachen aus der Hand und stapelt alles auf den Topf in Papas Armen, dreht sich dann wieder zu mir und drückt meine Hände lange und innig mit ihren geröteten Fingern. Danach wendet sie sich wieder dem Kühlschrank zu, so groß und gekrümmt, dass mir vor Zuneigung ganz warm ums Herz wird.

Ich bin den Tränen nah, aber mein Zuhause ist momentan ein schlechter Ort für Gefühlsduselei. Zum Glück erstickt Mamas Getue jegliche sensiblen Gefühle im Keim.

»Das schimmelt ja schon! Lass mich den Kühlschrank putzen und die Männer losschicken, um etwas Nahrhafteres für den Kleinen zu kaufen«, plappert Mama, dreht sich dann abrupt zu mir um und sagt, ich müsse Kräfte sammeln. Sie schaut mich fürsorglich an, während Papa sie besorgt mustert, wie ich finde, oder bilde ich mir das nur ein?

Papas Blick erinnert mich an den Blick einer Mutter, die ihr Kind besser kennt, als es sich selbst kennt. So ist das wohl nach einer langen Ehe. Ich erinnere mich dunkel, dass ich besser wusste als Bergur, was für ihn das Beste war. Das Radiohörspiel in meinem Kopf plärrt unangenehm laut:

»Willst du mit dem Buch nicht warten und lieber den Artikel zu Ende schreiben, anstatt mit dem Buch weiterzumachen und den Artikel nicht aus dem Kopf zu kriegen – gib ihn einfach ab, dann bist du frei.«

»Hör auf, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll, Saga!«

»Mach ich doch gar nicht.«

»Doch.«

»Ich gebe dir nur einen Ratschlag, Bergur.«

»Ist es nicht anstrengend, du zu sein?«

»Wieso?«

»Immer für alle anderen mitdenken zu müssen.«

»Hallo, lass Mama doch ruhig rumwerkeln«, höre ich es hinter mir rufen. Mein Bruder Guðni ist eingetroffen, mit einem Stapel frisch gebackener, in ein Geschirrtuch eingeschlagener Brötchen. Sind sie jetzt etwa alle bei mir eingezogen?

»Ja, was bleibt einem auch sonst übrig?«, pflichtet Papa ihm bei, immer noch im Flur neben dem großen Suppentopf, den er endlich auf das Telefontischchen gestellt hat. Er schaut mich fröhlich an, wischt sich den Schnee aus dem sorgfältig rasierten Gesicht und macht Anstalten, seinen dicken Anorak auszuziehen.

»Ganz schön muffig hier«, schimpft Mama vergnügt und taucht wieder aus dem Kühlschrank auf, als Guðni die Küche betritt.

»Ich bin nicht muffig«, protestiere ich, und mein Anflug von Sentimentalität verpufft.

»Ich meinte nicht, dass du muffig riechst, sondern der Kühlschrank«, sagt sie und stößt eine Lachsalve aus.

»Ich rieche nie muffig.«

»Du solltest dich mal hören!«, ruft sie und lächelt fürsorglich, trotzdem registriere ich die Angst in ihren Augen. Sie hat Angst, dass ich sehen könnte, dass sie sich Sorgen um mich macht, denn sie schaut schnell weg und lächelt Guðni an, der sie immer in gute Laune versetzt.

»Saga, wie geht es dir?«, fragt er auf seine förmliche, aber dennoch herzliche Art und küsst mich leicht auf die Wange, bevor er die Brötchen abstellt.

»Ganz gut, danke.«

Mama schenkt ihm eine Tasse Kaffee ein, und er sieht ihr lächelnd dabei zu. Er hat sich einen pfirsichfarbenen Vollbart wachsen lassen, um sein herzförmiges, sommersprossiges Gesicht zu kaschieren, und trägt eine weiße Kappe, die seine Geheimratsecken überdecken soll. Routiniert im Streitschlichten, dreht er sich zu mir, damit ich seinen hellen Augen nicht entkommen kann, und sagt: »Leg dich ruhig noch ein bisschen hin. Und wenn du wieder aufwachst, kriegst du eine schweineleckere Suppe.«

»Arbeitest du?«, erwidere ich ironisch.

Guðni zwinkert verschmitzt, nimmt die Kappe ab und drückt Mama kurz an sich, sodass sie glücklich quiekt. Ihr Sohn ist der Einzige, der ihr spontan körperliche Zuneigung entgegenbringt, und das weiß er, als er selbstzufrieden seine Kappe ablegt. Es ist nicht die Polizeimütze, die er im Einsatz trägt, sondern eine kitschige Alltagskappe, ähnlich wie die Uniformmütze. Wahrscheinlich hat er sie in Kopenhagen gekauft, als er einen mehrwöchigen Berufsaustausch bei der dänischen Polizei absolviert hat. Ich erinnere mich dunkel, dass er meinte, es sei eine Seemannskappe.

Ich erinnere mich tatsächlich an einiges!

»Wann kommt Ívar nach Hause?«, fragt Mama, schon wieder halb im Kühlschrank.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich und senke den Blick, werde von meinem eigenen Gewicht in den Boden gedrückt. Sie hört es an meiner Stimme, schnellt mit einer flinken Bewegung aus dem Kühlschrank und mustert mich von oben bis unten. In ihren Augen wetteifern Müdigkeit und archaische Liebe, als sie fragt: »Aha, und wieso nicht?« Sie hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da meine ich zu wissen, ganz eindeutig, dass sie früher immer bei mir war, allgegenwärtig und von einer natürlichen Sanftheit, aber ich kann mich nicht an ihre Umarmung erinnern, spüre nur ihre vage Präsenz, wie sie einmal war, aber nie wieder sein wird.

»Ich weiß es halt noch nicht«, wiederhole ich, weiche ihrem Blick erneut aus und sage, dass das vielleicht keine so schlechte Idee war von Guðni.

»Welche Idee, Liebes?«, entgegnet sie und blickt dann fragend zu Guðni.

»Na, sich noch ein bisschen hinzulegen«, verkünde ich. »Weckt mich doch bitte in, äh, einer halben Stunde?«

»Sagen wir lieber, in einer Stunde«, meint Mama und schaut mit bedeutungsvollem Blick zum Kühlschrank.

DIE GESCHICHTE VON DER LAMMFLEISCHSUPPE

Ich wache mit heftigen Gliederschmerzen auf, aber mein Körper entspannt sich, als der Duft der Lammfleischsuppe in mein Zimmer dringt. Papa hat uns immer die Geschichte von dem alten Ehepaar erzählt, das mit nichts als einem Nagel Lammfleischsuppe kocht. Er nannte die Suppe Nagelsuppe, weil die Alte als Zutat für die Suppe nur einen Nagel besaß, aber ihren Mann dazu brachte, weitere Zutaten zu besorgen, zum Beispiel eine Karotte, einen Happen Fleisch oder Reis, weil jeder Happen die köstliche Suppe noch viel besser machen würde. Am Ende wurde die Suppe schmackhaft und reichhaltig, so wie unsere Suppe zu Hause in der Küche in Hafnarfjörður.

Wir Geschwister waren genauso gutgläubig wie der Alte, der die Zutaten für die Suppe besorgte. Papa erzählte uns die Geschichte jedes Mal, wenn Mama Lammfleischsuppe kochte, und das war oft. Er erzählte die Geschichte auch, wenn wir Geschwister mit ihm gemeinsam Suppe kochten, aber wo war sie da? Mama! Seine dunkelblauen Augen blickten uns Kinder fragend an, woraufhin wir Gewürze und Zutaten zusammensuchten, von denen wir dachten, sie gehörten in eine Lammfleischsuppe: getrockneter Thymian aus einem Marmeladenglas, Schnittlauch und Frühlingszwiebeln, Karotten, Kartoffeln, Rüben und Sellerie. Jóhanna schleppte den Tritthocker zwischen Vorratskammer und Küchenschrank hin und her und durchwühlte alle Behältnisse nach Zutaten, die in den Topf sollten. Als sie älter wurde, spielte sie sowohl die Alte als auch deren Ehemann mit noch mehr Inbrunst, denn sie wusste viel besser als Papa, was in die Suppe gehörte. Ich verfolgte gespannt, wie sie ihren dünnen Kinderkörper streckte und sich elegant auf dem großen Tritthocker bewegte, während Papa sich mit Guðni auf dem Arm in der Fensterscheibe spiegelte und in die Dunkelheit hinausschaute. Warum war Mama nicht da? Guðni weinte und wollte zu ihr, er wollte immer zu ihr.

Mein Kopf pocht vor lauter Bildern, fremden und vertrauten, die überdeutlich auf mich einstürzen, allerdings nur ganz kurz, als wäre ich ein kaputter Fernseher. Mein Körper ist schwer vor Müdigkeit. Habe ich geschlafen? Es kommt mir so vor, als hätte ich, den Duft der Suppe in der Nase, die Geschichte von der Nagelsuppe geträumt, und allmählich weichen die Kopfschmerzen einem wohligen Gefühl. So ist das mit alten Geschichten, sie vermitteln einem Sicherheit und Zufriedenheit, wie früher eine Umarmung der Eltern.

Der Duft sättigt und erinnert mich an die Geschichte von Eulenspiegel, die Papa uns immer vorlas. Die Geschichte ging so, dass Eulenspiegel es leid war, im Wirtshaus auf das Essen zu warten, und deshalb vorgab, allein von dem Duft satt zu werden. Als der Wirt die Frechheit besaß, ihn für den Duft abzukassieren, bezahlte Eulenspiegel mit dem Klingeln einer Münze. Papa hatte großen Spaß daran, uns Geschichten zu erzählen, er war ein echter Bücherwurm, sammelte Isländersagas, Gedichtbände und abenteuerliche Reisechroniken. Manchmal erfand er auch Geschichten, inspiriert von seinen Büchern, und kostete jedes Wort aus wie ein Bonbon, während wir Schwestern ihm gebannt zuhörten und Guðni in einer Ecke mit Steinen, Matchboxautos und Vogelschädeln spielte, die er auf Spaziergängen mit Papa im Lavafeld oder am Strand gefunden hatte. Papa verstand, dass manche lieber Steine sortierten, als Geschichten zu lauschen.

Er las uns auch die Geschichte von Nasreddin vor, der seiner Frau erzählte, er habe Eier gelegt, um ihr das Tratschen abzugewöhnen. Sie lief durch das ganze Dorf, erzählte ihren Freundinnen flüsternd von dem Skandal und wurde von allen ausgelacht.

Erinnere ich die Geschichte von Nasreddin richtig? Keine Ahnung, aber das wohlige Gefühl verstärkt sich mit jeder Geschichte, die mir durch den Kopf geht. Ich hatte ganz vergessen, dass ich all diese Geschichten im Gedächtnis habe. Ich weiß noch, dass Papa manchmal sagte, ich hieße nicht umsonst Saga, es gebe kaum ein kleines Mädchen, das solchen Spaß an Geschichten hätte wie ich. Ich sog die Geschichten mit all ihren wohlgewählten Bonbonworten ein und kuschelte mich in Papas breite Arme. Wenn ihn eine Geschichte zu langweilen begann, flüsterte ich ihm manchmal ein Bonbonwort zu, so wie ich Bergur später auf Ideen brachte, damit er daraus etwas machen konnte.

»War ja klar, dass Saga einen Schriftsteller heiraten würde«, sagte Papa bei unserer Hochzeitsrede, und alle lachten. In diesem Moment erinnerte ich mich vage an das kleine Mädchen und lächelte, voller Stolz.

Bergur fragte mich später, ob ich nie selbst das Bedürfnis gehabt hätte zu schreiben. »Nein«, antwortete ich ehrlich, denn ich bin wie Elínborg, meine Tante mütterlicherseits, die aus dem Chor geschmissen wurde, weil sie so falsch sang. Trotzdem weinte sie bei melodischer Chormusik und schloss sich halbe oder ganze Tage ein, wenn im Fernsehen Opernaufzeichnungen ausgestrahlt wurden. »Es muss ja auch jemand zuhören«, sagte sie, um sich selbst zu trösten, wenn ich sie als kleines Mädchen heimlich mit Jóhanna besuchte, weil Mama ihre Schwester, die sie als snobistische Kuh bezeichnete, schon lange nicht mehr besuchte.

Warum denke ich an sie? Ich habe jahrelang nicht mehr an sie gedacht. Bestimmt nicht mehr, seit ich ein Teenager war und sie auf der Palliativstation starb, den Hamrahlíð-Chor in den Ohren, kurz nachdem Mama sie endlich nach vielen Jahren Funkstille besucht hatte. Sie entschlief mit einem milden Lächeln, als wäre es ihr am Ende gelungen, mit der Musik zu verschmelzen, mit ihrer Empfindung für das, was wahrhaftiger war als alles andere im Leben dieser alleinstehenden Frau, die sich einem Kassiererinnenjob beim Zollamt verschrieben hatte.

Wenn die Kunden, die sie abgefertigt hatte, bloß gewusst hätten, wie die gekrümmte Frau mit den zerzausten Locken bei Chormusik weinte, dann – ja, dann hätten sie sie vielleicht angelächelt. So wie sie auf dem Weg in den Tod lächelte, sie lächelte so, dass ich seitdem nie wieder Angst vor dem Sterben hatte, bis jetzt, da ich Angst habe, allein mit meinem Sohn zu sterben. Und über Bergurs Frage habe ich mir vorher auch nie Gedanken gemacht.

Jemand muss

die Erinnerungen lesen,

die andere aufschreiben

und ausschmücken,

damit das Gedächtnis sich selbst nicht vergisst.

Ich erinnere mich an uns, damals.

»Ich finde es schön, dass du Saga heißt«, sagte er eines Freitagmorgens, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten – wir jobbten beide in ausgebeulten Overalls bei einem kauzigen Gärtner –, dabei war er noch ein schlaksiger Junge.

»Ich finde, du trägst alles in dir, wegen deines schönen Namens«, fügte er hinzu, als ich lächelte, so verzückt von seiner unverfrorenen Ehrlichkeit, dass ich gar nicht auf die Idee kam, ihn zu verspotten.

Wir waren von Kopf bis Fuß mit Dreck verschmiert, mussten Erde in eine Maschine schippen, die die größten Steine herausfilterte, und ich warf ihm verstohlene Blicke zu und bewunderte seine hübschen Gesichtszüge, seine sinnlichen Lippen und seine sportliche Figur. Er hatte bei Schwimmwettkämpfen Pokale gewonnen und war sogar ein paar Jahre vor seinem Umzug nach Hafnarfjörður zum Mister Réttarholt-Schule gewählt worden. Später sollte ich seinen blinden Ehrgeiz kennenlernen, aber an diesem Abend trafen wir uns frisch geduscht und küssten uns alkoholisiert auf dem Lækjartorg, er schmeckte nach Selbstgebranntem, ich nach rotem Dubonnet aus dem Barschrank von Teddas Mutter.

Er war ein siebzehnjähriger Romantiker. Fest entschlossen, Bücher zu schreiben und mit seiner Saga zusammen zu sein. Damals gab es nicht viele Mädchen, die Saga hießen. Ich war etwas Besonderes. Eine besondere Saga: Er schrieb, ich las, wir waren füreinander bestimmt.

Kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag machte ich mit ihm Schluss, hatte das Abitur in der Tasche und eine eigene Mietwohnung. Ich wollte mehr ausprobieren, als immer nur denselben Freund am selben Ort zu haben. Er verstand mich, war durchaus bereit, ein bisschen zu leiden, als angehender Schriftsteller.

Ich weiß noch, dass wir uns fünf Jahre lang vermissten. Wir testeten Beziehungen, Länder und Kleidungsstile, Musik, Bücher, Filme und Theaterstücke, nicht zu vergessen unzählige Gemeinschaftsausstellungen in den Ateliers von Bekannten, politische Parteien, Graswurzelbewegungen, exotische Sexstellungen, Drogen und kulinarische Bräuche. All das, was man am besten auf eigene Faust macht.

Bergur nutzte die Zeit ausgiebig, studierte Anglistik, machte Auslandssemester in Philosophie in Berlin und landete schließlich in Madrid, wo er Spanisch lernte – der geborene Forschergeist, jedoch mit so breit gefächerten Interessen, dass er sich eher zum Schriftsteller als zum Wissenschaftler berufen fühlte. Im einen Moment verfasste er Gedichte über Schalentiere und im anderen schrieb er über das Ökosystem der Literatur oder einen Roman über einen Lyriker beim albtraumhaften Weihnachtsshopping im Einkaufszentrum Smáralind; einmal gab er einen historischen Krimi in Gedichtform heraus. In einem Interview, vor nicht allzu langer Zeit, bezeichnete er sich selbst als Gelehrter auf Facebook.

Er hatte schon immer ein unerschöpfliches Interesse an allem und war äußerst kreativ, im Gegensatz zu mir, der nichts Besseres einfiel, als nach Kopenhagen zu gehen.

Die Grand-mal-Anfälle begannen in diesen Partyjahren, seltsam, aber wahr: Ich hatte nie einen großen Anfall, als ich mit Bergur zusammen war, wenn mich nicht alles täuscht.

In diesen fünf Jahren als Single wachte ich nach heftigen Anfällen regelmäßig in der Notaufnahme auf. Partymachen gehörte zu meinem Leben, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen, der Ablauf der Nacht unvorhersehbar wie eine Achterbahnfahrt, am nächsten Morgen verkatert die Angst vor einem epileptischen Anfall verdrängen, meistens bei irgendeinem öden Sommerjob oder in der Cafeteria der Uni. Das Feiern war russisches Roulette, und ich spielte es leichtfertig. Ich erinnere mich dunkel, dass ich einmal auf einem Bürgersteig wieder zu mir kam, nachdem ich über die Straße gelaufen war. Ein anderes Mal kam ich gerade aus dem Schwimmbad, glaube ich.

Die Bilder tauchen blitzschnell auf und verschwinden wieder. Das ist irreal, heute genauso wie damals, zumal ich immer so tat, als wäre alles in Ordnung.

»Besser, in der Notaufnahme auszuschlafen, als verkatert zur Arbeit zu gehen«, sagte ich zu meinen Freunden, ohne zu wissen, ob meine Behauptung ehrlich oder gelogen war.

Rückblickend waren die großen Anfälle auf gewisse Weise sogar angenehm: Blackouts, die alles Nervige wie tägliche Verpflichtungen oder Depristimmung nach Besäufnissen auslöschten. Plötzlich lag ich da, murmelte im Halbschlaf vor mich hin, in duftend sauberem Bettzeug, mit Mama auf der Bettkante, die mir Snickers oder Cola aufdrängte. »Du brauchst Zucker und Flüssigkeit«, sagte sie mit erstickter Stimme und war ganz anders als sonst. Die Haare auf die Schnelle hochgesteckt und ungeschminkt, sodass ihre Augen frei lagen, merkwürdig nackt und unnahbar, als würde sie jeden Moment aus ihrem eigenen Körper heraustreten, mir aber trotzdem so nah, näher als an anderen Tagen.

Ich hatte sie ganz für mich allein, verängstigt, sanft und so unterwürfig. Ich verputzte den Süßkram und genoss es zu schlafen, wenn ich eigentlich hätte arbeiten sollen. Wünschte mir, bald wieder im Krankenhaus aufzuwachen. An den Wochenenden dachte Mama ständig an mich, sogar als ich in Kopenhagen studierte, da rief sie samstags und sonntags zur Mittagszeit an, um zu überprüfen, ob ich ans Telefon ging.

Wenn meine Mitbewohnerin Pia antwortete, überredete sie sie, an meine Zimmertür zu klopfen, selbst wenn Pia sich wegen der fremden Männerschuhe im Flur manchmal davor scheute.

Ich erinnere mich daran.

An alles.

Erinnere mich an Pia in einem moosgrünen Baumwollshirt und engen Jeans. An das Fahrrad, das ich pink angemalt hatte, damit es nicht geklaut wurde. An Bierabende in den Kneipen von Nørrebro. An Baden im Meer im Sommer. An den Duft von gebrannten Mandeln im Winter. An die Fahrradreflektoren, wie brennende Schmetterlinge in der schwarzen Windstille. An die Einsamkeit. Erinnere mich daran, allein einzuschlafen, allein aufzuwachen.

An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag war ich gerade zurück nach Island gezogen, hatte genug fremde Männerschuhe gesammelt und genug Alkohol intus, um Bergur anzurufen. Ich hatte ihn mehr als einmal gegoogelt, wusste, dass er kinderlos und Single war, ständig auf Reisen, aber bereits einen ernst zu nehmenden Roman veröffentlicht hatte und auch einen Gedichtband, den irgendein Kritiker als Werk einer alten Seele bezeichnet hatte. Ich konnte den Teenager nicht vergessen, der gesagt hatte: »Ich finde es schön, dass du Saga heißt.«

Eine halbe Stunde später kreuzte er bei meiner Party auf.

Am nächsten Tag holte er seine Sachen aus seiner kleinen Bude und zog in meine kleine Bude ein. Er half mir, die überquellenden Aschenbecher von der Party auszuleeren und den klebrigen Boden zu putzen. Kratzte Kerzenwachs vom Schreibtisch und stellte seinen Computer darauf. Von diesem Tag an hörten die epileptischen Anfälle auf. Ich genoss es, mit ihm zusammenzuwohnen; er hatte die besondere Fähigkeit, durch eine kurze Bemerkung alle Sorgen im Keim zu ersticken und mit mir herumzualbern, sodass mir innerlich ganz warm wurde. So liebevoll, so scharfsinnig.

Wir brachten uns gegenseitig die paar Gerichte bei, die wir in der Zwischenzeit zu kochen gelernt hatten, er allerdings mehr und exotischere als ich, er empfahl mir auch mehr Bücher, als ich jemals würde lesen können, und ich zeigte ihm sämtliche Musik und alle Filme, die ich angesammelt hatte.

Wir stritten uns wie die Kesselflicker über irgendwelche Themen aus dem Internet und küssten uns dann leidenschaftlich, befriedigten einander und stritten uns lachend weiter, hörten uns aber trotzdem die Argumente des anderen an, weil wir einander so klug fanden. Wir brachten uns immer zum Lachen.

Einmal grinste er so sarkastisch, als Jóhanna am Telefon über irgendetwas meckerte, dass ich auf der Stelle dahinschmolz, ein unangebrachtes Kichern unterdrückte und schnell das Gespräch beendete, um ihm die Klamotten vom Leib zu reißen. Wir mussten uns nur in die Augen schauen, um einander zu verstehen.

Ohne den anderen konnten wir nicht existieren. Als Ívar knapp sechs Jahre später geboren wurde, setzten wir eine Geschichte in die Welt, die größer war als wir selbst. Das Glück kam durch eine Muttermundöffnung von zehn Zentimetern. Was geschah dann?

Warum sind wir jetzt nicht zusammen? Obwohl er doch meinte, es wäre so schön, mit einem Menschen wie mir zusammenzuleben?

»Mit was für einem Menschen?«

»Der kritisch und gleichzeitig tolerant ist und der ernsthaft fragt, warum er sich selbst immer widersprechen muss, und trotzdem meint, er wüsste alles besser.«

»Klingt so, als würdest du eine Person in einem schlechten Roman beschreiben«, schnaubte ich, unsicher, ob ich mich beleidigt oder geschmeichelt fühlen sollte.

»Ich beschreibe mein größtes Idol«, erwiderte er doppeldeutig und beugte sich vor, um mich zu küssen. Ich gab vor, beleidigt zu sein, und entzog mich ihm, obwohl ich schon entschieden hatte, mich eher geschmeichelt zu fühlen, meine ich, mich zu erinnern, doch, ich erinnere mich.

Ich erinnere mich, und es tut weh, an diese seltsamen Spielchen zu denken, sie schallen wie das Radio bei Oma Bogga im Altenheim. Ein Druck zieht sich von meiner Stirn zu den Schläfen, und ich halte mir die Augen zu und zwinge meinen Kopf, die Bilder festzuhalten. Aber sie flackern immer heftiger, je größer der Schmerz wird; ich kann an den Anfang unserer Beziehung denken, doch dann wird alles undeutlich und …

»Ist Saga irgendwie anders als sonst?«, höre ich meinen Bruder durch den schwarzen Schmerz hindurch fragen. Er muss am Fuß der Treppe stehen.

»Wie meinst du das, Spatz?«, fragt Mama schnippisch, als würde die Frage ihr Angst einjagen.

»Ach, ich war nur krass erstaunt, dass sie auf mich gehört und sich hingelegt hat.«

»Sie ist erschöpft, Guðni.«

»Hm, if you say so

»Rede doch Isländisch! Woher hast du das denn? Etwa von der Polizei?«

»Was?«

»Was du da gerade auf Englisch gesagt hast.«

»If you say so?«

»Ja, es ist unschön, sich Slang anzugewöhnen. Genau wie dieses krass

»Stell dich doch nicht so an, Dídí!«, tönt Papa. »Der Junge redet nun mal so, wie man in seiner Generation redet.«

»Der Junge ist über dreißig, Papa«, mischt sich eine betörende Stimme auf gewohnt lässige Art in das Gespräch ein. Ist meine Schwester Jóhanna etwa auch da? Wollen sie Weihnachten feiern, oder was?