MEINE FREUNDIN TEDDA

Das muss Bergur sein, ist mein erster Gedanke, als es wieder an der Tür klingelt. Er sollte längst da sein, Ívar kann doch nicht so lange aufbleiben. Durch die gemusterte Glasscheibe in der Eingangstür erkenne ich die Umrisse einer gigantischen Russenmütze. Das kann nur eins bedeuten: Es ist Tedda.

Ihr Gesicht leuchtet auf, als ich die Tür öffne. Blonde Locken ringeln sich unter dem graubraunen Fell, ungestüm wie die Haare der Frauen in den Liebesgeschichten, die sie mir während meines Sommerjobs im Altenheim in Hafnarfjörður zum Lesen gab, als wir noch Teenies mit Mango-Lipgloss waren. Und genau so ist sie, wie die Heldin in einem Arztroman.

Ihre funkelnden hellbraunen Augen schimmern in dem hell erleuchteten Hauseingang; tiefe Grübchen, eine aufgewölbte Oberlippe und leicht schiefe Schneidezähne machen ihren Mund unwiderstehlich.

Als wir in die Pubertät kamen, beäugten die Jungs sie ähnlich anerkennend wie im Jahr davor die riesigen, mit Süßigkeiten gefüllten Ostereier. Mit der Zeit begriff ich, dass es auch Mädchen gab, die in meiner Freundin Tedda ein unwiderstehlich süßes Osterei sahen. Sie fühlte sich mehr und mehr zu Frauen hingezogen, ohne groß mit mir darüber zu reden, genauso wenig wie über andere Dinge, dafür war sie viel zu cool, und ich respektierte das.

Und ich war nie eifersüchtig, erstaunlicherweise. Unsere Freundschaft blieb davon unbeeinflusst.

»Wenn du jemanden liebst, dann lass ihn gehen«, schärfte Tedda liebevoll allen Jungs und später allen Mädchen ein, mit denen sie Schluss machte.

Bei der Erinnerung muss ich grinsen. Über den Fernsehmoderator in meinem Kopf: einen Kollegen von Hemmi Gunn in einem funkelnden Glitzeranzug, der die Arme ausbreitet und alle ankündigt, die in mein Leben treten. Liebe Zuschauer, begrüßen Sie mit mir die unvergleichliche Tedda!

»Mensch, Saga, du siehst echt fertig aus!«, ruft sie aus und reckt mir mit zusammengekniffenen Augen aus dem Schneesturm ihr Kinn entgegen, um mich genauer unter die Lupe zu nehmen. »Hattest du wirklich einen totalen Blackout?«

Ich hebe vielsagend die Augenbrauen, um ihr zu signalisieren, dass sie die Informationen aus unserem Telefonat lieber für sich behalten soll, und trete zur Seite.

»Sorry«, flüstert sie und schlüpft durch die Tür. »Ich wusste ja nicht, dass …«

»Psst«, zische ich ihr ins Ohr und nehme einen vagen Nikotingeruch vermischt mit süßem Blumenduft wahr. Sie ist bestimmt wieder rückfällig geworden, aber ich verkneife es mir, einen Kommentar dazu abzugeben.

»Schon gut, Süße, ich habe nicht vor, das überall herumzuposaunen«, sagt sie mit ihrer singenden Stimme, streift die schneeverkrusteten Schuhe ab, wirft den figurbetonten Kaninchenfellmantel auf einen Stuhl und den hellblauen Schal mit den Glitzernähten obendrauf und gibt mir dann einen Kuss, der sich frisch und kühl anfühlt. Zum Schluss tritt sie einen Schritt zurück, durchbohrt mich mit ihrem vor Ungeduld fast schielenden Blick und fragt: »Ist sie wieder aufgetaucht? Erinnerst du dich?«

»Nein«, sage ich. »Oder doch, ich meine, sie ist nicht wieder aufgetaucht, daran erinnere ich mich. Aber mein Vater ist hier.«

»O Gott!«

»Was ist denn?«

»Der Junge!«

»Welcher Junge?«

»Ich hab ihn draußen vergessen.«

Tedda hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da stürmt sie schon in Socken hinaus auf den Treppenabsatz und ruft: »Hey, wo bist du?«

Verblüfft höre ich eine dünne Stimme aus der Dunkelheit antworten: »Hier!«

»Hä? Wo denn?«

»Na, an der Treppe, hier unten rechts.«

»Was machst du denn da?«, brüllt Tedda, bibbernd im Rock, wollenen Leggings und hauchdünner Bluse. »Komm rein, sonst wirst du noch zum Eiszapfen!«

Kurz darauf bewegt sich ein dürrer Teenager langsam auf die Haustür zu und krallt sich dabei am Treppengeländer fest, damit er in seinen Sommersneakern nicht ausrutscht. Seine langen Arme ragen aus den Ärmeln einer militärgrünen kurzen Daunenjacke, die genau da aufhört, wo die schwarze Jeans anfängt. Ein großer Kopf mit einem länglichen Gesicht ragt aus der kragenlosen Jacke, die Nase ist drei Nummern zu groß für das Gesicht mit dem schmalen Mund, und die Augen sind zusammengekniffen, sodass man ihre Farbe nicht erkennen kann. Der lange Hals ist unbedeckt, genau wie der Kopf, und die dünnen Haare kleben vom nassen Schnee am Kopf. Natürlich trägt er keine Handschuhe, und die Sneaker sind durchnässt. Hoffentlich hat er sich nicht erkältet.

Das muss der sagenumwobene Óðinn sein. »Grüß dich«, empfange ich ihn freundlich und versuche, mir nicht allzu viele Gedanken über mein verunstaltetes Gesicht zu machen. »Du bist wegen meines Computers hier?«

»Was ist denn mit deinem Computer?«, wirft Tedda ein.

»Der ist abgestürzt, mit allem, was ich über mich wissen muss«, sage ich pathetisch, aber sie scheinen beide nicht zu verstehen, was ich meine.

»Ich will zu Lilja Dögg«, sagt der Junge mit leiser, aber tiefer Stimme, ohne meinem Gesicht auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Tedda kichert, wie immer, wenn andere irritiert sind. Manchmal glaube ich, dass sie nichts schocken kann. Stattdessen wird sie ganz aufgeregt – je absurder die Dinge sind, desto gespannter ist sie. So wie jetzt, sie zittert vor Aufregung angesichts meiner bizarren Situation. »Wer ist denn Lilja Dögg?«, fragt sie mich neckisch mit verschmitztem Blick.

»Seine Freundin«, antworte ich automatisch und füge erklärend hinzu: »Sie ist heute hier, um mir mit Ívar zu helfen.«

»Ach so«, sagt Tedda und verliert sofort das Interesse. Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen, um ihre nassen Socken auszuziehen, hebt aber schnell den Blick, als Lilja Dögg in der Tür zum Wohnzimmer auftaucht und ruhig sagt:

»Hi, Óðinn. Danke, dass du gekommen bist.«

»Kein Ding«, entgegnet der Junge matt, lebt aber immerhin etwas auf. »Wo ist der Computer von der Frau?«

»Oben im Schlafzimmer«, erklärt Lilja Dögg, bevor ich antworten kann.

»Wir haben ja wirklich jede Menge Gäste«, meldet sich Papa zu Wort, der urplötzlich mit Ívar auf dem Arm in den Flur marschiert. »Hallo, Tedda!«

»Grüß dich, Bjarni!«, sagt Tedda fröhlich. »Bei euch ist ganz schön was los, stimmt’s?«

»Kann man wohl sagen«, erwidert Papa niedergeschlagen, freut sich aber trotzdem über den Plausch. »Saga kann dich jetzt gut gebrauchen. Hier geht alles den Bach runter, obwohl ich persönlich ja finde, dass sie heute schon viel besser aussieht als gestern.«

»Ach, die Arme«, seufzt Tedda und übernimmt sofort das Kommando. »Wir müssen uns unbedingt unterhalten. Kannst du dich um deinen Enkel kümmern, Baddi, während der Junge und diese Lára Dögg sich Sagas Computer anschauen? Während wir die Lage peilen, du weißt schon.«

»Lilja Dögg«, korrigiere ich sie zaghaft, werde aber von niemandem beachtet.

»Hm, er hat gerade die Kinderstunde geguckt, als es geklingelt hat«, erzählt Papa. »Mit diesem englischen Feuerwehrmann.«

»Ach, könnt ihr beide dann nicht weitergucken?«, schlägt Tedda in freundlichem Befehlston vor, während sie den Teenagern hinterherschaut, die die Treppe hinaufsteigen. Dann dreht sie sich zu mir und fragt, ob ich ihr trockene Socken leihen kann.

Sie darf meinen gesamten Besitz haben, wenn sie schon mal da ist. Tedda ist besser als niemand. Eine heimlich rauchende Klugscheißerin, die selbst so wenig im Griff hat, dass sie öfter von einem Land ins andere zieht, als andere shoppen gehen. Sie hatte so viele Beziehungen, dass ich mich gar nicht an alle erinnern möchte, und wechselt im Zwölf-Monats-Takt den Job, so vielseitig begabt, dass sie in ihren eigenen Talenten untergeht. Im einen Moment importiert sie Schmuck aus Indien, um ihre Reisen zu finanzieren, im nächsten dreht sie einen Dokumentarfilm über das westliche Konsumverhalten, im dritten inszeniert sie mit einer Laienschauspielgruppe in Egilsstaðir eine Oper, im vierten arbeitet sie als Journalistin bei einer radikalen Online-Zeitung, im fünften entwirft sie Buchcover. Derzeit hat sie, wenn mich nicht alles täuscht, einen Job, den ich ihr wider besseres Wissen besorgt habe, als Assistentin eines amerikanischen Hollywood-Produzenten für einen Film, der teilweise in Island gedreht werden soll.

Vorletztes Jahr kam sie auf die brillante Idee, einen Lyrikband zu veröffentlichen, den Bergur gezwungenermaßen gar nicht so schlecht fand, lobendere Worte brachte er nicht über die Lippen, denn die beiden mochten sich noch nie. Irgendwann verzog sie sich mal wutentbrannt von einer Party, nachdem Bergur sie gemeinerweise als aufgeblasenen Ballon bezeichnet hatte.

Mit Tedda und Jóhanna ist es genauso. Letztere hält Erstere für total oberflächlich, Erstere hält Letztere für einen unerträglichen Psychofall. Jóhanna erinnert Tedda an ihre Mutter, eine liebenswürdige Filialleiterin in einem Delikatessengeschäft, vor der sie schon ihr ganzes Leben lang auf der Flucht ist. »Weil Mama einen mit Liebe und Essen vollstopft, bis man ihr vor die Füße kotzt«, sagt sie beispielsweise, wenn sie einen im Tee hat. Und fügt dann überheblich hinzu, sie ähnele mehr ihrem Vater. Einem Typen, der Mutter und Kind verlassen hat, als Tedda sieben war, und nach Brasilien ausgewandert ist, um dort Geschäfte mit Fisch zu machen, die mit der Zeit ungeheuer lukrativ wurden. Tedda sieht den alleinstehenden Frauenschwarm in Brasilien durch die rosarote Brille, sie hat ihn zweimal in ihrem Leben besucht und behauptet, ihr Vater und sie könnten sich beim Schachspielen das Wasser reichen.

»Könntest du etwas leiser sprechen«, bitte ich sie im Flüsterton, nachdem ich ihre Socken zum Trocknen aufgehängt habe und wir auf den Barhockern an dem Wandtisch in der Küche sitzen, den Klang der Kinderstunde in den Ohren. »Ich möchte nicht, dass mein Vater alles erfährt.«

Tedda hebt die Augenbrauen. »Wissen sie nichts von deinem Gedächtnisproblem?«

»Ich weiß gar nicht so genau, wie ich diesen Zustand nennen soll.«

»Aber wie äußert er sich denn?«

»Es ist so wie …«

»Warte, Süße, darf ich mir erst eine Zigarette anzünden, bevor wir ans Eingemachte gehen?«

»Hast du wieder angefangen?«

»Nur dieses Wochenende«, versichert sie und beugt sich nach unten, um die rot gestreifte Wollsocke hochzuziehen, die Mama gestrickt hat.

»Das Wochenende ist vorbei«, rutscht es mir heraus, unerbittlicher, als sie es verdient hat.

»Ach, Saga, gibt es jetzt nicht Wichtigeres?«, sagt sie und richtet sich wieder auf, vor einigen abstrakten Gemälden von Ívar, die schwer von der Farbe an den Klebegummis baumeln und sich überlappen, bunte Kleckse an der schneeweißen Wand.

Ich erkläre mich mit einem matten Lächeln einverstanden und reiße das Fenster zum wirbelnden Schnee weit auf, damit sie sich eine Zigarette anzünden kann. Hieve mich wieder auf den Barhocker, mit einem unförmigen Aschenbecher, den ich in der Grundschule aus Salzteig gebastelt und Mama zu Weihnachten geschenkt habe und den sie mir dann prompt wieder zurückgegeben hat, als ich zu Hause auszog. Die kalte Luft umspielt uns, als ich Tedda ausführlicher von dem mysteriösen Verschwinden meiner Mutter erzähle und dass ich weder in der Lage bin, auf mich selbst noch auf Ívar aufzupassen.

Tedda raucht gierig, hängt an meinen Lippen, denkt und raucht und raucht und denkt, bis sie schließlich sagt: »Aber du hattest doch schon immer Epilepsie.«

»Wie du weißt, hatte ich meinen letzten Anfall lange vor Ívars Geburt«, sage ich leise, aber spitz, und bemühe mich, vor lauter Anspannung nicht die Stimme zu erheben. »Und dann bin ich aufgewacht und wusste nicht mehr, wie alt er ist!«

»Das weißt du nicht mehr?«

»Doch, jetzt schon. Und ich erinnere mich ja auch an vieles, aber eben nicht an alles, die einfachsten Dinge sind wie in Nebel gehüllt. Mir entgleitet irgendwie alles, und ich weiß nicht, ob ich es den anderen sagen soll. Was, wenn mir morgen wieder alles einfällt und sie sich schreckliche Sorgen um mich machen?«

»Na ja, im Moment machen sie sich schreckliche Sorgen um deine Mutter, oder?«, sagt Tedda ungerührt auf ihre pragmatische Art.

»Ja, schon. Oder ich weiß nicht, ich weiß gar nichts. Mein Gedächtnis ist so zuverlässig wie ein besoffener Politiker.«

Tedda kichert, sie findet den Vergleich witzig, und damit findet sie mich witzig, so wie immer, und das finde ich gut, dann scheine ich doch trotz allem immer noch ich zu sein. Saga mit den witzigen Bemerkungen. Und ich spiegele mich weiter in den Augen meiner Freundin, denn der Blick anderer sagt mir, wer ich bin.