AM ANDEREN ENDE DER LEITUNG

Ich streute halbwegs sarkastische Witze ein, von denen ich annahm, dass mein Charakter sie in dieser absurden Situation raushauen würde, denn ich wollte so normal wie möglich wirken, um Jóhanna zu beruhigen, achtete aber darauf, nicht über das Ziel hinauszuschießen. Dabei drehte sich mir der Magen um, trotzdem zwang ich mich, auf einem Brötchen mit Gurke herumzukauen und eine Apfelsine auszusaugen, kämpfte einen Moment lang mit der Übelkeit, denn mein Körper war vollgestopft mit Fragen, die ich nicht stellen durfte.

Ich wollte mehr wissen, viel mehr, über diesen Schleim in Ívars Körper. Ich erinnere mich nur dunkel daran, mit ihm ins Kinderkrankenhaus gefahren zu sein, weiß aber noch, dass ich bei ihm stand, als er mit einem seltsamen Gerät über Mund und Nase auf einer Behandlungsbank lag und etwas einatmete, das mich an Eiskristalle denken lässt. Bei der blitzhaften Erinnerung wird mein Kopf schwer wie Schwämme in einem vermoosten Teich. Mir wird schwarz vor Augen, die Angst macht mich blind. Hat sie nicht gesagt, Ívar sei in Lebensgefahr gewesen?

Ich versuche, mir das Ereignis vorzustellen, doch das führt dazu, dass ich die Eiskristalle selbst einatme, mein Körper sträubt sich gegen das Bild, dieses Bild gehört nicht in meinen Kopf, mein Herz klopft und wehrt sich wie ein gefesselter Gefangener. Ich versuche, meine Atmung in den Griff zu kriegen, schaffe es aber erst, als das Bild verblasst.

Im Augenblick hantiert Jóhanna in meiner Küche herum, ohne etwas von dem glühenden Entsetzen mitzubekommen, das alles überrollt und ins Wohnzimmer flutet. Ich kauere mich auf dem Sofa zusammen, die Hände auf die Ohren gepresst, erstarrt in dem organisierten Chaos, das mein Leben zu sein scheint. Dass jemand Lebensgefahr und das eigene Kind im selben Satz sagt, reicht schon, um einen wahnsinnig zu machen. Durch meinen schnellen Herzschlag werden die unerträglichen Kopfschmerzen noch stärker. Ich muss an etwas anderes denken, sonst kriege ich einen epileptischen Anfall. An etwas anderes, irgendwas!

Was hat sie noch mal über den Schimmelpilz in unserer alten Wohnung gesagt? Wir wohnten in der Ránargata, ich erinnere mich an den Umzug und an diese Frau, die Biologin, die mit einem sonderbaren Messgerät vorbeikam, um den Schimmelpilz unter der Oberfläche zu messen. Ívar fand es toll, wie das Gerät piepte, das weiß ich noch, aber ich erinnere mich kaum an das Gespräch mit ihr. Es ist anstrengend, die Ereignisse aus den Tiefen des Gedächtnisses zu fischen, aber ich halte es aus.

Bergur kümmerte sich größtenteils um den Umzugskram. Der Käufer, ein Investor in der Tourismusbranche – ja, daran erinnere ich mich –, war zufrieden mit dem Deal gewesen. Er konnte es sich leisten, die Wohnung von Grund auf zu renovieren, und fand die Lage günstig, deshalb bekamen wir einen akzeptablen Kaufpreis, höher, als der Immobilienmakler erwartet hatte, wobei wir eigentlich noch mehr gebraucht hätten. Wir wollten uns vergrößern und endlich genug Platz haben, zwei Etagen mit Keller. Bergur, optimistisch wie immer, wollte sich im Keller ein Büro einrichten, damit er keins mieten musste, und ich … Ich wollte auch dort arbeiten, oder? Worin besteht meine Arbeit zurzeit?

Ich habe immer in der Filmbranche gearbeitet, Management und Organisation, ja, und auch im Theater, genau! Oder … bilde ich mir das nur ein? Warum habe ich das Gefühl, dass mein Gehirn sich Erinnerungen an Ereignisse ausdenkt, die nie passiert sind? Moment, wie war das alles noch mal?

Ja, stimmt, genau, ich habe zwei Jahre an der Universität in Dänemark Medienwissenschaften studiert, dort einiges über Filmwissenschaft gelernt und mich auf die Produktion von Kinofilmen spezialisiert. Bei der Rückschau verspüre ich ein Kribbeln im Bauch, dann strömen die Erinnerungen ohne die geringste Anstrengung auf mich ein. Ich habe nie versucht, an die berühmte Filmhochschule zu kommen, vielleicht um keine Absage zu riskieren, sondern dieses Studium begonnen, nachdem ich zwei Sommer hintereinander als Mädchen für alles bei isländischen Filmproduktionen gejobbt hatte. Anschließend machte ich da weiter, wo ich aufgehört hatte, ging zurück nach Island und arbeitete mich hoch, musste keinen Kaffee mehr kochen, sondern stattdessen Excel-Tabellen ausfüllen, Leute einstellen, alles vorbereiten und die Tage so gut organisieren, dass der Produzent möglichst viel für möglichst wenig Geld bekam.

Ich erinnere mich an diese Jahre, es waren viele, und sie waren aufregend und vergingen wie im Flug. Ich fuhr zu unzähligen Orten, an die ich sonst nie gekommen wäre, steckte in zahlreichen Projekten und genoss meinen guten Ruf, bis ich Ívar bekam und merkte, dass ich mehr Routine in mein Leben bringen wollte, was in der Filmbranche nicht möglich war. Aber ich konnte es mir einfach nicht leisten, gut bezahlte Aufträge abzulehnen. Doch was geschah dann?

Was habe ich danach gemacht?

Ich müsste es wissen, ich weiß, dass ich es weiß, das ist doch nicht normal. Mein Kopf ist so voll, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann, was grübele ich denn schon wieder? Natürlich kann ich nicht allein sein, schon gar nicht mit Ívar, bevor ich mit einem Spezialisten geredet habe. Ich muss da noch mal anrufen, jetzt sofort, und auf ein Gespräch bestehen!

Leise raffe ich mich vom Sofa auf und lehne die Tür zur Küche an, wo Jóhanna in aller Ruhe den Abwasch macht, zufrieden mit sich und der Welt nach dem gemütlichen Frühstück, das doch noch genau so abgelaufen ist, wie sie es sich erhofft hatte.

Die Frau am Telefon erkennt meine Stimme auf Anhieb. Ich schaffe es noch nicht einmal, mein Anliegen hervorzustammeln, da fällt sie mir schon ins Wort: »Elliði ist, wie gesagt, nicht im Haus. Und er kommt wahrscheinlich auch so bald nicht wieder, tut mir leid. Sie müssen es später noch mal probieren.«

»Ist denn sonst niemand da, mit dem ich reden kann?«, frage ich und werde immer verzweifelter, während ich in der Stille die Sekunden zähle. Anscheinend denkt sie nach. Ich hoffe und bete.

Endlich sagt sie: »Sie könnten vielleicht mit Þormar reden.«

»Wer ist das?«

»Þormar ist Neurologiestudent und als Vertretung hier«, antwortet die Frau, schon wesentlich netter als noch einen Moment zuvor.

»Tja, hm. Student?«

»Er macht eine Facharztvertretung, ist schon ziemlich weit im Studium, und das ist eine komplizierte Wissenschaft, kann ich Ihnen sagen. Die komplizierteste von allen! Er ist nur vorübergehend hier, normalerweise arbeitet er am Karolinska-Universitätskrankenhaus in Stockholm.«

»Ach so«, sage ich, verwundert über ihr plötzliches Mitteilungsbedürfnis.

»Er weiß, was er tut, er ist schließlich mein Neffe. Sonst würde ich ihn nicht einfach so empfehlen«, erklärt die Frau, die mit jeder Sekunde freundlicher wird.

»Nicht schlecht, wenn man jemanden mit Verbindungen an der Strippe hat!«, sage ich, ironischer als beabsichtigt, und kann mich gerade noch beherrschen, bevor mir eine weitere freche Bemerkung herausrutscht. Warum bin ich so arrogant gegenüber dieser harmlosen Frau, die mir auf formlose Weise helfen möchte?

»Was tut man nicht alles für Notfälle«, entgegnet sie bissig, deutlich gekränkt von meinem ironischen Unterton. Dann fügt sie hinzu, sie habe jetzt keine Zeit mehr, es seien noch Anrufer in der Warteschleife, ich könne nur hoffen, dass er ans Telefon geht.

Kurz darauf begrüßt mich eine jung klingende, müde Stimme, die dem besagten Þormar gehört. Ich erläutere ihm kurz mein Anliegen. Der Mann wirkt ziemlich genervt von der Störung, seine Tante in der Telefonzentrale hat ihm offenbar keinen Gefallen getan. Desinteressiert hört er sich an, dass ich innerhalb von zwei Tagen drei epileptische Anfälle hatte, nachdem ich über zehn Jahre anfallsfrei war.

Doch plötzlich wird er hellhörig, als ich die Erinnerungslücken erwähne, die umso merkwürdiger klingen, je genauer ich sie zu beschreiben versuche. Am Ende, als ich meine eigenen Erklärungen schon nicht mehr verstehe, sagt er: »Kommen Sie vorbei!«

»Äh, was? Wann denn?«

»Jetzt sofort«, antwortet er. »Ich habe in der Mittagspause ein paar Minuten Zeit, falls nichts dazwischenkommt.«

»Ich komme sofort!«

»Bis gleich – aber eine Bitte habe ich.«

»Ja?«

»Nehmen Sie ein Taxi oder lassen Sie sich von jemandem fahren.«

Jóhanna ist bereit, mich zu fahren, als ich ihr erzähle, dass ich einen Arzttermin bekommen habe. Sie schlüpft in ihre Jacke, bietet mir mehrmals an, mich ins Sprechzimmer zu begleiten, und entlockt mir schließlich das Versprechen, sie oder Mama anzurufen, sobald ich fertig bin, ich dürfe auf keinen Fall allein sein. Vor dem Krankenhaus entlässt sie mich mit der liebevollen Drohung, heute Abend wiederzukommen, scheint aber verdammt froh zu sein, endlich zur Arbeit fahren zu können.

Der Neffe wirkt jungenhaft, obwohl er die zwanzig um einiges überschritten haben muss, wenn er mit seinem anspruchsvollen Spezialstudium schon so weit ist. Er pustet sich den altmodischen, schräg fallenden Pony aus den schläfrigen Augen, seine Haare wirbeln hoch, kastanienbraun und weich über dem blassen, länglichen Gesicht.

Lächelnd erhebt er sich von seinem Schreibtischstuhl und schüttelt meine Hand: »Guten Tag. Saga, nicht wahr?«

»Ja, hallo«, entgegne ich verzagt. Bei dem, was ich dem Mann am Telefon erzählt habe, hält er mich bestimmt für psychisch krank. Ich konnte es selbst kaum glauben, als ich ihm erklärte, dass alles, was mir unangenehm sei, nur ganz kurz in meinem Bewusstsein aufblitzen und dann wieder im Vergessen versinken würde, dass ich regelrecht körperliche Schmerzen bekäme, wenn ich meine Gedanken auf bestimmte Dinge lenken würde, und mich deshalb unmöglich an sie erinnern könne. Ich erzählte ihm auch, dass ich manche Wörter zwar nicht aussprechen, aber durchaus denken könne, wie seltsam das auch klingen mochte. Wobei ich den Eindruck hätte, dass das schon besser geworden sei, ich hätte meine Sprechorgane wieder im Griff.

Vielleicht erholt sich mein Gedächtnis ja bereits, und ich mache aus einer Mücke einen Elefanten, schießt es mir durch den Kopf, als mein Blick an einem knittrigen Taschenbuch hängen bleibt, das umgedreht neben einem Bündel bräunlicher Bananen liegt: On Anarchism von Noam Chomsky. Der Mann weiß seine kurze Mittagspause zu nutzen.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagt er in einem freundlichen Befehlston und scheint sich nicht im Geringsten über mein ramponiertes Gesicht zu wundern.

»Sie können sich also an Grundsätzliches erinnern, aber nach einer Reihe von Grand-mal-Anfällen fehlen Ihnen gewisse Einzelheiten? Ungefähr so scheint sich Ihre Wahrnehmung zu gestalten.«

»Ja, so in etwa«, antworte ich konzentriert.

»Sie wurden nicht genauer untersucht, als Sie im Krankenhaus lagen?«, möchte er wissen, um die Angaben im Computersystem bestätigt zu bekommen.

»Nein, soweit ich weiß, nicht. Meine Angehörigen haben natürlich gesagt, dass ich Epilepsie habe und Medikamente nehme, deshalb wurden die Anfälle wohl nicht als ungewöhnlich eingestuft. Aber man hat mir geraten, möglichst bald Kontakt zu einem Spezialisten aufzunehmen.«

»Nehmen Sie Ihre Medikamente regelmäßig?«, fragt er und beginnt, mit einem kleinen Gerät, das aussieht wie ein Hammer, sowie durch Tasten meine Koordinationsfähigkeit, die Reaktionen und Intensität meiner Muskeln zu überprüfen.

»Ja, Orfiril. Morgens dreihundert Milligramm und abends sechshundert.«

Ich leiere meine Krankheitsgeschichte herunter, während er an mir herumdrückt, das Beantworten solcher Fragen bin ich schon seit meiner Teenagerzeit gewohnt. In seinen Augen scheine ich eine der glücklichen Personen zu sein, die Epilepsie haben. Seinerzeit wurde meine Medikamentendosis schnell festgelegt, und ich hatte noch nie zweimal an einem Tag einen Anfall, höchstens zweimal im Jahr, als ich jünger war und ständig Partys feierte, und jedes Mal erhöhte mein Arzt die Dosis, völlig ahnungslos über den Lebenswandel seiner Patientin. Ich vermeide es, an die Vergangenheit zu denken, und belasse es dabei, über mein jetziges Leben zu reden. Dass ich Medikamente genommen hätte, als ich ungeplant schwanger geworden sei, diese dann bis zur Geburt ausgesetzt hätte, dass Elliði die Dosis dann aber nach der Geburt meines Sohnes erhöht hätte, weil Mütter mit Säuglingen unter chronischem Schlafmangel litten. Ich hätte es allerdings versäumt, ihn noch einmal zu konsultieren, als mein Sohn ein Jahr alt war, und die Dosis einfach eigenständig wieder heruntergesetzt.

»Was Sie nicht hätten machen sollen«, kommentiert er und legt das Gerät ab.

»Aber Elliði hätte mir garantiert dazu geraten. Ich hatte seit über zehn Jahren keinen Anfall mehr gehabt, ich dachte, das wäre vorbei.«

»Die Anfälle haben aufgehört, weil Sie diese Medikamente genommen haben. Sie wissen doch bestimmt, dass es nicht ratsam ist, dabei Alkohol zu trinken.«

»Ja«, antworte ich und fühle mich genötigt, ihm zu gestehen, dass ich ab und zu Wein zum Essen trinke oder, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch mal mit einem Glas Sekt anstoße. Das kam in den letzten zehn Jahren allerdings eher selten vor, was ich unerwähnt lasse, denn Bergur vermeidet es seit seiner Jugend, sich zu betrinken. Für ihn gibt es kaum etwas Unangenehmeres, als die Kontrolle über seine Gedanken zu verlieren, er bestellt sich höchstens mal ein Bier mit Schaumkrone, wenn er in Deutschland bei Lesungen ist, stößt zu Silvester mit mir an oder trinkt ein Glas guten Rotwein zum Steak.

»Sie haben nie einen Entzug irgendeiner Art gemacht?«

»Das weiß ich nicht mehr«, antworte ich und bringe ein missglücktes Lächeln zustande.

»Kann es sein, dass Sie in den letzten Tagen noch mehr Anfälle hatten?«

»Ich glaube nicht.« Ich merke, dass ich diese Frage eigentlich gar nicht beantworten kann, und füge hinzu, dass fast die ganze Zeit jemand bei mir war. Aber ich sei natürlich schlapp und auch verwirrt wegen dieser seltsamen Gedächtnislücken.

»Das Gedächtnis kann nach einer solchen Anstrengung durchaus geschwächt sein«, sagt er nachdenklich. »Aber Gedächtnislücken, wie Sie sie offenbar erleben, dass das Gedächtnis die Erinnerungen nach Schmerzfaktor sortiert, sind ungewöhnlich.«

»Ja«, pflichte ich ihm eifrig bei. »Ich kann das nicht besser beschreiben, als ich es schon am Telefon gemacht habe. Es ist, als würde mein Gedächtnis die Erinnerungen in erträgliche und unerträgliche einsortieren, wenn ich versuche, mein Leben zusammenzupuzzeln. Die unangenehmen Erinnerungen lösen schreckliche Kopfschmerzen aus.«

»War das früher anders?«

»Ja«, bestätige ich, mir relativ sicher, zumindest kann ich mich nicht an solche Schmerzen nach Anfällen in meiner Jugend erinnern.

»Woran versuchen Sie denn sich zu erinnern?«

»Na ja, an alles«, murmele ich. »Ich kriege Kopfschmerzen, wenn ich versuche, mich zu erinnern, warum mein Mann ausgezogen ist. Wenn ich mich an unsere Streitigkeiten erinnere, wenn ich daran denke … das ist kein Witz, jetzt fängt es an!«

»Warten Sie!« Schnell holt er einen nassen Waschlappen, legt ihn auf meine Stirn und wartet, bis das Pochen nachlässt.

»Das Gehirn ist ein Wunderwerk«, erklärt er dann, »aber die Wunder, die durch biologische Ursachen ausgelöst werden können, sind begrenzt. Ich erinnere mich allerdings an einen Mann, der einen Herzstillstand überlebt hat und seine Frau danach nicht mehr erkannte, aber ständig nach seiner Exfrau fragte.«

Er grinst verstohlen über diese Geschichte, legt den Waschlappen weg und stellt sich in Vortragspositur: »Epileptische Anfälle können dem Gehirn Schaden zufügen. Der Patient kann Atemprobleme bekommen, während das Gehirn und die Muskeln gleichzeitig viel Sauerstoff benötigen. Das führt womöglich zum Absterben von Gehirnzellen.« Er verstummt abrupt, als hätte er mehr gesagt, als er wollte, und mustert mich vorsichtig. In seinem Gesicht spiegelt sich Ernst, aber auch lebhaftes Interesse, als er fortfährt: »Mehrere Anfälle hintereinander können bestimmte Symptome auslösen: Gedächtnisstörungen, mangelndes Konzentrationsvermögen, andauernde Müdigkeit, impulsive Gefühlsäußerungen, Drang zu weinen oder Euphorie, verzögertes Reaktionsvermögen und …«

Die Worte umschwirren mich, ich versuche, sie zu erfassen und in meinem armen kleinen Gehirn abzuspeichern. Sie fliegen immer schneller, ich blinzle hektisch, um meinen Verstand zu schärfen.

»Solche Veränderungen sind manchmal unwiderruflich, wobei ich den Teufel nicht an die Wand malen möchte. Aber Ihre Empfindungen sind bemerkenswert. Und das Gehirn ist ein solches Wunderwerk, dass die Dinge manchmal …«, der junge Arzt hält inne, sucht nach der richtigen Formulierung und sagt dann, »… überhaupt keinen Sinn ergeben, falls ich das mal so salopp sagen darf, wenn ich schon Mittagspause habe.«

»Ja, bitte, selbstverständlich.«

Er lächelt verhalten: »Je mehr ich über das Gehirn lerne, desto weniger weiß ich. Ich schließe nichts mehr aus.«

»Verstehe«, sage ich, ohne irgendetwas zu verstehen, aber er weiß meine Auffassungsgabe zu schätzen, beugt sich vor und sagt verschmitzt: »Sie könnten eine unentdeckte Art sein.«

»Ach, inwiefern?«

»Ein im Regenwald verborgenes Insekt, wenn man so sagen kann«, antwortet er hintergründig. »Eine Art, die überlebt, indem sie alles Unangenehme vermeidet, die aber noch klassifiziert werden muss.«

»Sind Sie sicher?«

»Nein, keineswegs. Deswegen verbringe ich ja meine Mittagspause mit Ihnen«, gesteht er mit einem auffallend distanzierten Lächeln, bei dem seine Unterlippe noch weiter hinabsinkt. »Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Hirntätigkeit eingeschränkt ist. Es könnte sich auch um das handeln, was man manchmal als funktionelle Symptome bezeichnet, Wahrnehmungsstörungen im Nervensystem. Sie haben bestimmt schon mal von sogenannten dissoziativen Störungen gehört«, sagt er eher zu sich selbst als zu mir. »Konversionsstörungen, früher auch als Hysterie bezeichnet, oder als psychogene …«

Er verstummt, als Verständnislosigkeit von mir abperlt wie Schweiß bei vierzig Grad Celsius. Dennoch bringe ich es fertig zu sagen: »Davon habe ich noch nichts gehört, aber mir ist durchaus bekannt, dass wissenschaftliche Studien belegen, dass Ärzte dazu neigen, Frauen als hysterisch einzustufen. Kann es sein, dass solche Ärzte selbst unter dissoziativen Störungen leiden?«

»Bitte entschuldigen Sie«, lenkt er ein, »es war nicht meine Absicht, Ihren Zustand zu bagatellisieren. Ich sollte lieber nicht laut denken.«

»Sagen Sie ruhig, was Sie denken«, erwidere ich reuevoll lächelnd. Er schaut mich verständnisvoll an und sagt: »Man kann diese Symptome als heftig empfinden, sie aber trotzdem ganz gut kontrollieren. Sie können durch Angst und Stress ausgelöst werden. Trifft das bei Ihnen zu?«

Die Frage überrumpelt mich. Habe ich Stress? Ja, momentan schon. Aber vor den Anfällen, hatte ich da Stress? Das Stechen in meinem Kopf tut so höllisch weh, dass ich aufstöhne, und ich kann dem jungen Arzt ansehen, dass er mich nicht mehr im Verdacht hat zu übertreiben.

»Ich traue mir selbst nicht mehr«, schluchze ich fast. »Wie soll ich mir da zutrauen, auf meinen Sohn aufzupassen?«

»Sie dürfen mit dem Kind nicht allein sein«, erklärt er unmissverständlich und reicht mir wieder den Waschlappen.

»Wie soll ich das denn machen?«

»Jemand muss bei Ihnen bleiben. Das rate ich Ihnen dringend, bis wir, hoffentlich, eine Diagnose haben. Das kann alles Mögliche sein.«

»Was soll das heißen?«

Er setzt sich neben mich auf einen Hocker, um mir die Sache genauer zu erläutern. »Ich kann zu diesem Zeitpunkt nichts Konkretes sagen. Die schlechte Nachricht ist, dass Sie etwas Schlimmes haben könnten. Die gute Nachricht ist, dass es keinesfalls so sein muss.«

»Und?«

»Ich würde gern ein EEG und ein MRT machen lassen. Es ist zwar eher unwahrscheinlich, aber wir sollten überprüfen, ob an irgendeiner Stelle in Ihrem Gehirn noch epileptische Tätigkeit stattfindet. Man sollte herausfinden, ob eine sogenannte fokale Epilepsieerkrankung vorliegt, die ausschließlich Symptome hervorruft, die sich auf diese punktuelle Region im Gehirn zurückführen lassen.«

»Welche Region?«, krächze ich, geplättet von seinem Fachchinesisch, aber mit gesteigertem Interesse. Elliði redet nie so viel, er deutet die Geheimnisse des Körpers wie ein Religionswissenschaftler alte Schriften, erklärt mir eher deren Bedeutung als deren inhaltliche Kriterien. Þormar befeuchtet den Waschlappen noch einmal, wringt ihn aus, reicht ihn mir und macht mich mit weiteren neuartigen Wörtern bekannt: »Wahrscheinlich ist es irreführend, über eine Region zu sprechen, weil man annimmt, dass das Langzeitgedächtnis über das gesamte Gehirn verteilt ist, es fluktuiert. Aber der Temporallappen des Gehirns, besonders jener Bereich, der sich Hippocampus nennt, ist eng mit der Erschaffung neuer Erinnerungen verknüpft. Das gilt auch für den Bereich, der epileptogene Zone heißt, dort entsteht Epilepsie nach einer Schädigung eher als in vielen anderen Regionen des Gehirns.«

»Aber ich hatte schon Epilepsie«, merke ich verwirrt an, »schon als Kind.«

Er mustert mich erschöpft. »Entschuldigen Sie«, lenkt er dann freundlich ein, »diese müdigkeitsbedingte Redesucht bringt mich manchmal um Kopf und Kragen.«

»Müdigkeitsbedingt?«

»Ja«, sagt er grinsend, wird aber sofort wieder ernst. »Sie könnten aber auch eine andere ursächliche Krankheit haben, die ebenfalls Gedächtnislücken verursacht und epileptische Anfälle fördert. Irgendetwas.«

»Machen Sie dann jetzt ein EEG und so weiter?«

»Wir warten auf Elliði. Er ist schließlich Ihr Arzt«, antwortet Þormar. »Er kennt Ihre Krankheitsgeschichte und hat hier die meiste Erfahrung.«

»Aber ich bin ein Notfall«, erinnere ich ihn, wenn ich schon zum ersten Mal in meinem Leben eine Sonderstellung erlangt habe. »Sie wissen schon, ein neues Insekt!«, füge ich hinzu, ein jämmerlicher Versuch, mein Anliegen durch einen blöden Spruch durchzusetzen, aber es bringt mir natürlich nichts, außer dass ich mich einem Fremden gegenüber lächerlich mache.

»Sie sind kein Notfall, wenn Sie in den nächsten zwei Tagen zu Hause bleiben und dafür sorgen, dass jemand bei Ihnen und dem Kind bleibt. Am besten die ganze Zeit, zumindest solange wir den Defekt im Kontrollzentrum untersuchen. Den wir hoffentlich finden werden. Bis dahin sollten Sie viel schlafen.«

»Kann man mich nicht ins Krankenhaus einweisen?«

»Fragen Sie mal den Fiskus«, spottet er mit unbewegter Miene. Dann schaut er grübelnd durchs Fenster, dreht eine Haarsträhne um den Zeigefinger, hängt seinen Gedanken nach und sagt schließlich: »Das EEG könnten Sie heute machen. Trauen Sie sich zu, hier zu warten? Es kann ein paar Stunden dauern.«

»Ja«, antworte ich ohne Zögern.

»Dann bleiben Sie noch einen Moment«, bittet er. »Ich muss erst ein paar Telefonate führen.« Er setzt sich wieder an den Schreibtisch, nimmt das Telefon und sagt grinsend: »Falls ich es hinkriege, dass Sie heute noch drankommen, werden Sie Zeugin eines Wunders, das sämtliche Vorstellungen der Menschheit über die wissenschaftlichen Gesetze des Universums widerlegt.«