DIE ANARCHIE DES KÖRPERS

Ein dunkelblauer Benz mit Taxi-Schild wartet vor dem Krankenhaus, nicht weit vom Eingang der Kinderstation, durch den ich nach einem Abstecher in die Apotheke endlich herauskomme. Durch dieselbe automatische Tür, die sich an den fünf Tagen, als Ívar damals auf der Intensivstation lag, geräuschlos für uns öffnete.

Er schlummerte im Brutkasten, winzig klein, mit einer Infektion und verwandte all seine Kraft auf seine schnellen Atemzüge, aber das Merkwürdige war, dass ich nie Angst hatte, mich nur wunderte, dass wir beide die Stunden der Geburt überlebt hatten, in denen ich der Gewalt meines Körpers vollkommen ausgeliefert gewesen war. Meine Dankbarkeit für dieses Wunder war so groß, dass die Angst mich nicht zu fassen bekam. Im Gegenteil, ich war froh, Ívar während der ersten Tage seines Lebens in die Obhut erfahrener Kinderärzte geben zu können, denn es hätte mich überfordert, ihn nur wenige Stunden nach der Geburt mit nach Hause zu nehmen. Ich bekam erst Angst, als wir tatsächlich nach Hause kamen – wie konnte das Krankenhauspersonal nur auf die Idee kommen, Bergur und mir ein hilfloses Kind anzuvertrauen?

Seit jener Zeit ist dieses alte weiße Gebäude mit dem imposanten Dach mein Glaubenstempel. Meine Kirche. Dort prallen Leben und Tod tagtäglich aufeinander, während man im abendlichen Berufsverkehr daran vorbeirauscht, meist auf dem Weg zum Fitnessstudio in Seltjarnarnes.

Der Wagen riecht nach neuem Leder und leicht nach Urin, und ich rümpfe instinktiv die Nase, als ich die Tür zuziehe.

»Wohin soll’s gehen?«, fragt der Taxifahrer, ohne mich anzuschauen.

»Zur Miklabraut 38«, sage ich, und er stutzt: »Miklabraut 38? Das ist ja quasi gegenüber.«

»Ja«, antworte ich todmüde.

Endlich hebt er den Blick und mustert mich verächtlich. »Sie sehen aber aus, als könnten Sie noch laufen.«

»Und wo holen Sie mich gerade ab? Im Krankenhaus vielleicht?«, entgegne ich absichtlich herablassend. Er streicht sich mit der Hand durch das sorgfältig frisierte Haar, das mit altmodischem Haargel zurückgekämmt ist, und verdreht dabei die Augen. Aber er hält den Mund und fährt los.

Reykjavík ist mit schmutzigem Schnee bedeckt, die Stadt könnte eine anständige Dusche gebrauchen, genau wie der Taxifahrer. Ein alter Mann mit einem Rollkoffer, der mit Bónus-Tüten vollgestopft ist, stapft durch das Schneegestöber. Kinder werfen Schneebälle gegen ein Bushäuschen. Ein Auto mit kaputtem Auspuff spuckt Rauch an einer roten Ampel. Der Nebel, der über Südisland hängt, hüllt die Berge ein, der Horizont wird vom Inlandsflughafen und vom Hotel Loftleiðir begrenzt.

»Epilepsie ist die ausgeprägteste Form von Anarchie«, sagte Þormar, meine ich, nachdem er den wissenschaftlichen Gang der Welt widerlegt und mich in die Warteschlange eingeschoben hatte, bei zwei Frauen, die mir Glibber in die Haare schmierten und meine Sinne mit wild blinkenden Lichtern ärgerten, um die Wellen in meinem Gehirn zu untersuchen; das Erscheinungsbild jeglicher Wirklichkeit, diese hauchzarten Wellen auf einem Blatt Papier.

»Die Anarchie der Welt beruht auf der Anarchie des Körpers, wir können überhaupt nichts beeinflussen, versuchen aber krampfhaft, bis zum unvermeidlichen Tod über unser Schicksal zu bestimmen. Menschen mit Epilepsie nehmen diesen Widerspruch besser wahr als andere«, dozierte er, jungenhaft und altersweise zugleich, verstummte jedoch, als er merkte, dass ich die Konzentration verloren hatte. Dann sagte er: »Sie befinden sich in einem Körper, den Sie nicht beherrschen können, seien Sie sich dieser Anarchie bewusst.«

Ich starrte ihn verzagt an, nachdem ich ihm meine Ohnmacht gerade erst eingestanden hatte. »Ist das der richtige Ort für Punk-Predigten?«, fragte ich dann, ironischer als beabsichtigt, aber er lächelte nur müde.

»Punk ergibt Sinn«, sagte er keck, als wollte er seine Müdigkeit mit witzigen Sprüchen kaschieren. »Versuchen Sie mal, ihm Sinn zu geben!«

»Nichts ergibt Sinn, aber warten wir mal ab, wohin die Anarchie mich führt.« Etwas in der Art meine ich, gesagt zu haben, zu schlapp, um meinen Sarkasmus zu unterdrücken. Meine Beine zitterten.

Er merkte es, gab mir eine Banane, schenkte mir Wasser in einen Plastikbecher und schärfte mir ein, ich dürfe nicht vergessen zu essen, ich müsse regelmäßig essen und schlafen, sonst könne ich einen weiteren Anfall bekommen. Wir vereinbarten, dass Elliði mich anrufen würde, hoffentlich bald, mit den Ergebnissen der Untersuchungen, aber Þormar erhöhte meine Morgenration sicherheitshalber schon einmal um dreihundert Milligramm – unter der Bedingung, dass ich nicht vor lauter Panik eigenmächtig mit Medikamenten herumspielen und noch mehr Tabletten nehmen würde, ohne vorher Rücksprache mit einem Arzt zu halten.

Dabei hatte ich erst am Morgen die dreifache Ration genommen, um einem Anfall vorzubeugen. Er durchschaute mich und meinte, so würde ich meinen Körper nur verwirren, schlimmstenfalls sogar einen weiteren Anfall provozieren. Dann brachte er mich in einen leeren Raum mit einem alten Sessel, wo ich die nächsten Stunden warten konnte. Seine Mittagspause war längst vorbei.