MAMA UND PAPA

Mama richtete sich einen Zufluchtsort ein, das Zimmer, das Guðni hätte bekommen sollen, und anstatt dass es sich mit Kinderspielzeug füllte, sah es aus wie ein romantischer Traum mit einer hellrosa Überdecke aus leichter Wolle und den Gardinen, die Elínborg ihr geschenkt hatte, als sie noch miteinander redeten, und die sich vor dem offenen Fenster sanft im Wind bauschten. In dem Raum stand nur ein schmales Bett, ein Nachttisch für ein Wasserglas, einen Wecker und die neueste Vogue, die Mama nach wie vor im Ausland bestellte, denn der Akt des Bestellens verlieh ihr eine Sonderstellung, seit sie als Teenager mit dem ersten Modekatalog in Kontakt gekommen war.

In den ersten Jahren stand allerdings noch ein Gitterbettchen rechts neben dem Bett, weil Guðni bei ihr im Zimmer schlafen durfte, bis er vier Jahre alt war. Sie ließ ihn kaum je aus den Augen, nur ganz kurz über Nacht. Als er vier wurde, zog er in Jóhannas und mein Zimmer, was wir ziemlich blöd fanden.

Mama klammerte sich an ihr eigenes Zimmer, dort hielt sie sich am liebsten auf, sie sehnte sich nach Schlaf, sie musste schlafen, weil sie oft Schmerzen hatte, an allen möglichen Stellen im Körper, auf die schlimmsten Schmerzattacken reagierte sie so empfindlich, dass man sie kaum anfassen durfte, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und dann wussten wir, dass sie sich am besten ein paar Tage ausschlafen musste. Jóhanna erkannte das sehr gut und kümmerte sich um den Rest der Familie. Wir wussten auch, dass Mama sich immer hinlegen musste, wenn sie ausnahmsweise mal nicht arbeitete, den Haushalt machte – ihren unantastbaren Bereich – oder mit Guðni beschäftigt war. Ihre Töchter waren ihr im Weg; sie machte sich ständig Sorgen um uns, wollte aber gleichzeitig möglichst wenig mit uns zu tun haben, manchmal war es ihr schon zu viel, uns in ihrer Nähe zu haben. Aber sie bemühte sich, und wenn es ihr gelang, dann gab es niemanden, der so nett und so klug war wie sie, und niemanden, der uns besser verstand, weshalb wir alles taten, damit sie so viel Zeit wie möglich mit uns verbrachte. Jóhanna sorgte dafür, dass wir uns unauffällig in den perfekt organisierten Alltag einfügten, damit Mama möglichst wenig vom Leben behelligt wurde, während ich versuchte, ihr mit missglückten Ideen eine Freude zu bereiten; zum Beispiel klaute ich im Wartezimmer des Ärztezentrums für sie eine Modezeitschrift oder drapierte die Kissen in ihrem schönen Zimmer neu, bis sie mich bat, sie in Ruhe zu lassen. Das nahm ich so wörtlich, dass wir seitdem nur Kontakt hatten, wenn sie auf mich zukam. Ich war ihr gegenüber so stur, dass ich mich vor mir selbst ekele. Ich schnappe mir Bergurs altes Kissen und schleudere es in die Dunkelheit. Mann, bin ich erbärmlich! Die erbärmliche Saga!

Und Papa? Wo war der?

Am Anfang verschanzte er sich in einer Gruppe von Männern, die seine alten Freunde als Sekte bezeichneten, weil deren Mitglieder die Gemeinsamkeit hatten, getrunken und Tragödien ausgelöst zu haben, bis sie mit sich selbst nicht mehr leben konnten. Er ging nicht lange zu den Meetings, ich glaube, es fiel ihm schwer, sich den anderen anzuvertrauen, wobei es ihm auch nicht leichtfiel, sich sich selbst anzuvertrauen. Immerhin schaffte er es, trocken zu bleiben. Er wusste nicht mehr, was er getan hatte, die Nacht war ein schwarzes Loch, das alle Erinnerungen eingesaugt hatte, aber er machte sich Vorwürfe: Katríns Tod war seine Schuld. Meine Eltern vermieden es, darüber zu reden, ob sie Katrín überhaupt hätten retten können, und er war so niedergeschmettert, dass er die gesamte Verantwortung übernahm.

Sie mussten für die anderen Kinder da sein und wussten sich nicht anders zu helfen, als das gemeinsam zu tun, diese empfindsamen Seelen, die ein Liebespaar und zugleich wie Geschwister waren, seit sie auf dem Landschwof zusammengekommen waren.

Sie fühlten sich beide verloren in bäuerlichen Großfamilien, in denen der Mensch über die Arbeit definiert wurde. Papa bekam nie einen Draht zu den anderen Kindern auf dem Hof in Króksfjarðarnes, die meisten waren zwar herzensgut, aber viel jünger als er und hatten Anrecht auf Dinge, die er meinte sich erbetteln zu müssen. Manchmal dachte er an seine leiblichen Brüder, doch die lebten alle nicht mehr bei ihrer Mutter, die mit jedem Jahr verschrobener wurde und sich ihren Söhnen am Ende kaum noch verbunden fühlte, sodass sie sich fremd wurden. Er war einsam, als Mama sich auf ihn einließ, so einsam, dass er nur ein paar Schlucke Selbstgebrannten brauchte, um sie mit seiner eigenen Mutter zu verwechseln und rasend vor Wut zu werden.

Mama und Elínborg waren auf einem Hof in einem anderen Landkreis aufgewachsen, auf einem wohlhabenden Bauernhof in Strandir unter der Fuchtel einer arbeitsamen Mutter mit schriller Stimme, die in jeder Ecke Unordnung sah, und eines abwesenden Vaters, der seinen Töchtern nach Gutdünken Aufmerksamkeit schenkte, sodass sie sich darum schlugen. Genauso wetteiferten sie um die wenigen lobenden Worte ihrer Mutter, die diese mit pedantischem Geiz austeilte, und wenn sie sich ganz selten einmal erlaubte, ihre Kinder gernzuhaben, wurde sie merkwürdig gefühlsduselig. Der Vater neigte dazu, sich im Schneegestöber seines eigenen Kopfes zu verlieren und im dunklen Winter in Depressionen zu verfallen, so abgrundtief, dass er sich manchmal Erledigungen ausdachte, um für ein paar Tage in die Stadt abzuhauen, wo ihn niemand sah. Dann übernahmen die Kinder still seine Arbeit, darum bemüht, dass die Mutter seine Abwesenheit möglichst wenig bemerkte, damit ihre Stimme nicht noch schriller wurde, als sie es ohnehin schon war.

Die Schwestern hatten noch drei ältere Brüder, die sich ebenso wenig für sie interessierten wie umgekehrt. Jónas, der Einzige, der noch Weihnachtskarten schickt, stahl sich nach seinem Schulabschluss davon und ging auf See, gewöhnte sich aber früh an, Postkarten zu schreiben, wodurch er auf seine ferne Weise in ihrem Leben präsent blieb. Der zweitälteste Bruder zog in eine noch abgelegenere Gegend und mied jeden Kontakt, der jüngste widmete sich in Norwegen der Ziegen- und Lachszucht.

Elínborg besuchte Mama nur, um anschließend geradewegs zum Altenheim zu fahren und ihrer Mutter brühwarm von dem Stress und Ärger bei uns zu Hause zu erzählen. Sie ergötzte sich daran, wie furchtbar bei Mama alles sei, insbesondere unser Vater, denn obwohl die Schwestern nicht gut miteinander auskamen, mochte sie sich wohl nicht vorstellen, dass Mama mit irgendjemandem so gut auskam, dass sie ihr Leben mit ihm teilte.

Sie hassten sich vor Liebe, vermissten einander so sehnsüchtig, dass sie ganze Nachmittage damit zubrachten, sich über die Lebensumstände der anderen zu echauffieren. Als Katrín starb, wollte Elínborg unbedingt nett sein und alles für Mama tun, doch sie tat so viel, dass Mama sie mehr denn je hasste, denn sie musste ja ihre Familie schützen, die Elínborg durch ihr unerträgliches Gerede zu zerstören trachtete.

Mama konnte Papa mit Blicken dirigieren, so wie ihre Mutter mit den Augen das Wetter, einen auf wackeligen Beinen stehenden landwirtschaftlichen Betrieb und eine erloschene Liebe gesteuert hatte, wenn ihre schrille Stimme nicht mehr ausreichte. Er ließ es qualvoll über sich ergehen, von ihr herumkommandiert zu werden, zutiefst dankbar, dass es überhaupt jemand mit ihm aushielt.

In einem alten Fotoalbum im Bücherregal gibt es ein paar wenige Bilder von ihnen, wie sie am Anfang waren und ihr Leben lang hätten sein können. Blutjung lehnen sie an einem Ford Bronco mit roten Streifen, und er hat stolz den Arm um sie gelegt. Sie trägt ein zitronengelbes Kleid, das sich im Wind bauscht und ihre langen Beine und dünnen Knie entblößt, das sommersprossige Gesicht gerötet von der Sonne und die wirbelnden Haare offen über den Schultern. Sie hält einen Bastkorb mit Stricksachen und einer Thermoskanne im Arm und ist barfuß. Er trägt ein grün kariertes Arbeitshemd, Anglerweste und kniehohe Watstrümpfe, so wunderbar jungenhaft, die Augen erwartungsvoll auf die Zukunft mit seiner Frau gerichtet, die auf eine Weise lächelt, die mir zu erkennen gibt, dass sie alles wollte, nur nicht so werden wie ihre Mutter, sie wollte diesen Mann mit dem lebenshungrigen Blick lieben und nie, nie mit ihm streiten. Und er wollte die Welt bereisen und ferne Länder sehen, sagte er, doch dann lächelte sie nur unergründlich, ohne näher darauf einzugehen, denn sie wollte lieber einen guten Job, ein schönes Zuhause, wo überall Sachen herumliegen durften, und viele Kinder, das hatte sie sich schon gewünscht, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, eine einäugige Puppe in einem Kleid aus einem alten Kopfkissenbezug im Arm. Ganz viele Kinder wollte sie mit dem jungen Mann bekommen, den sie von dem Moment an geliebt hatte, als er sie mit sehnsüchtigen Augen auf dem Landschwof angesprochen und gesagt hatte, sie wäre die Seine.

Sie waren Singles mit vier gemeinsamen Kindern, von denen eins starb, sie sahen keinen anderen Ausweg als die eigenen vier Wände, in denen sie sich mit ihrer Kinderschar eingerichtet hatten, jeder mit zwei Jobs. Mama war tagsüber Sekretärin und putzte abends Büros, hart im Nehmen, nachdem sie mit einem Säugling an der Brust die Höhere Handelsschule geschafft hatte. Papa war der allseits beliebte Elektriker, der seinen Kunden am Wochenende unter die Arme griff, manchmal nur für einen Kaffee, wenn die Leute so aussahen, als könnten sie nichts entbehren, wie er es ausdrückte.

Mitten in der Nacht erscheinen sie mir in einem neuen Licht, ich sehe sie zum ersten Mal in der Dunkelheit.