Ich brauchte ein paar wirre Sekunden, um das Telefon zu finden, das unter der Bettdecke penetrant klingelte.
Jóhanna meinte, sie habe mit dem Anrufen gewartet, sie habe mich nicht wecken wollen, klang aber trotzdem enttäuscht, als ich ihr erzählte, Guðni sei ihr schon zuvorgekommen. »Ach!«, sagte sie süßsäuerlich, bevor sie zurück zum Thema kam: Man hatte Mama gegen halb drei nachts gefunden. Die Männer waren bei Glatteis und Sturm nach Þingvellir gefahren, Guðni und zwei Kollegen. Sie hatten den Wagen an einer unpassierbaren Schotterstraße, die sich durch ein flaches Wäldchen schlängelte, stehen lassen.
Ich sah sie vor mir, wie sie in die tobende Ungewissheit fernab der Nationalstraße hinausstiefelten, in Richtung der Berge, die sich in riesenhafte Schatten verwandelt hatten, mit dem Gefühl, nur wegen der hirnrissigen Idee der durchgeknallten Schwester ihres Kameraden eine solche Schwachsinnsaktion zu starten. Sie mussten durch knietiefen Schnee waten, wenn auch nur ein kurzes Stück, bei peitschendem Schneesturm und Finsternis, bis sie zu einer dunklen Erhöhung kamen, einem Sommerhaus, das eigentlich tief eingeschneit hätte sein müssen, es aber nicht war, weil jemand, der sich mit Landarbeit auskannte, den Weg zur Tür frei geschaufelt und im Haus eine schummrige Lampe eingeschaltet hatte.
»Und da war sie wirklich!«, sagt Jóhanna, immer noch ganz perplex. »Zusammengekauert auf einem Feldbett, in einer Daunenjacke, ihren alten Winterschuhen und mit unserem Campingkocher, sie hätte das Haus in Brand stecken können. Ich bin heilfroh, dass sie nicht unterkühlt war.«
»Sie ist schlauer, als man denkt«, rutscht es mir heraus. »Wie ist sie hingekommen?«
»Die meiste Strecke getrampt, glaube ich. Ein Glück, dass sie da draußen nicht verunglückt ist, sie muss von der Nationalstraße aus zu Fuß gegangen sein«, sagt Jóhanna besorgt und schlägt dann einen leichteren Ton an: »Aber weißt du, was? Das Erste, was Mama gemacht hat, nachdem die Männer sie geweckt hatten, war, ihnen Nescafé und Haferplätzchen anzubieten. Sie wollte doch tatsächlich den Tisch decken.«
»Und haben sie die Einladung angenommen?«
»Das haben sie mir nicht erzählt«, antwortet Jóhanna und lacht in einem Wechselbad der Gefühle, wird dann wieder ernst und sagt plötzlich, wir dürften nicht vergessen, wie empfindlich Mama sei.
»Nein«, sage ich zögernd.
»Ich hätte wissen müssen, dass sie den Schock nicht verkraftet, als das mit Ívar und dir passiert ist. Weißt du noch, wie sie einmal verschwand, kurz nachdem du auf der Rolltreppe im Einkaufszentrum einen epileptischen Anfall hattest und im Krankenhaus landetest? War das nicht in deinem dritten Jahr auf dem Gymnasium? Oder bringe ich da was durcheinander?«
»Hm, kann sein. Und man fand sie im Hotel Borgarnes«, fällt mir wieder ein, glücklich über mein müheloses Gedächtnis, und wir freuen uns beide über diesen Wandel, wo ich mich doch sonst nie an etwas erinnere. Plötzlich ist es richtig nett, mit der eigenen Schwester zu plaudern, auch wenn das Thema ziemlich speziell ist.
»Guck mal einer an!«, sagt sie daraufhin.
»Was denn?«
»Ich glaube, du musstest dein Gedächtnis verlieren, um dich wieder an Sachen erinnern zu können.«
»Oder du hast es geschafft, mich zu resetten«, erwidere ich.
Mir geht meine medizinische Diagnose durch den Kopf, und ich verstumme abrupt.
Doch Jóhanna ignoriert meine Bemerkung und teilt mir beiläufig mit, sie würde mich am Mittag abholen, um zwölf, dann könnten wir kurz bei Mama vorbeifahren.
Ich kann nichts dagegen machen, dass ich mich in meiner eigenen Wohnung wie ein Gast fühle, als ich die Treppe hinuntersteige. Ich muss mich überwinden, den Teenies Guten Tag zu sagen, peinlich berührt von den nächtlichen Ereignissen. Doch der Duft von gebratenen Eiern und frischem Kaffee zieht sich durch die untere Etage, und ich fühle mich sofort besser. Lilja Dögg steht mit einer blau gestreiften Schürze um die Taille am Herd und wendet das Omelett, während ihr Assistent dampfenden Kaffee in eine Thermoskanne gießt.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt die indische Tischdecke, auf einem butterblumengelben Teller brennt eine kieferngrüne Kerze, und auf dem Tisch stehen meine blau gepunkteten Tonbecher und verschiedenfarbige Teller; der gedeckte Tisch erinnert an ein gestelltes Foto in einem Lifestyle-Magazin. Ich wünsche dem Mädchen, dass es letzte Nacht einen multiplen Orgasmus hatte, sowohl wachend als auch im Schlaf. Man kann den beiden unmöglich ansehen, ob sie ein Paar oder nur Seelenverwandte sind, sie berühren sich unbefangen, aber herzlich und balgen sich zwischendurch wie verspielte Welpen, in ihrem Alter könnte das freundschaftlich gemeint sein, wobei es mir so vorkommt, als würde er sie mehr berühren als sie ihn.
Inzwischen ist es mir egal, ob sie letzte Nacht vor Lust oder im Traum gestöhnt haben. Vielleicht liebt er sie, aber sie ihn nicht. Das würde mich nicht überraschen, unabhängig davon, ob sie miteinander schlafen, denn sie wirkt so selbstbewusst, dass sie auch Sex ohne Verpflichtungen haben könnte. Ich weiß nur, dass ich sie beide mag, obwohl ich sie gar nicht kenne.
Ich setze mich an den Tisch, lege die Hände matt auf die Tischplatte, starre auf meine langen Finger und rötlichen Handflächen. Sie sind abgearbeitet, wie Mamas Hände, könnten aber auch geschwollen sein. Nein! Das bilde ich mir wirklich nur ein. Aber meine Einbildung ist das einzig Wahre. Eine böse Ahnung, die ich verdrängt habe, seit ich denken kann. Vorhin schien ein trüber Sonnenstrahl durchs Schlafzimmerfenster, und ich verspürte eine lang ersehnte Hoffnung, gerade aufgewacht, unausgeschlafen und wie gerädert von all dem, worüber wir Schwestern gestern Abend sprachen. Von der Schwere der eigenen Existenz erdrückt zu werden, und trotzdem, trotzdem brach Hoffnung aus dem morgendlichen Blau dieses Wintertages. Meine Gefühlswelt spielt mit den dunklen Wolken, weit entfernt, wie ein Luftballon, der einem Kind aus der Hand geflogen ist, ich spüre mich selbst kaum mehr. Bin ich selbst nur eine böse Ahnung? Diese Hände sind unwirklich, aber sie gehören mir. Niemand anderem. Ich betrachte sie, während Tränen schmelzen, die so alt sind wie ich, und winzige Eispartikel an meinem Inneren kratzen, trotzdem habe ich Appetit auf Omelett. Hunger ist bestimmt ein gutes Zeichen.
»Katrín, ich muss etwas essen«, sage ich leise zu mir selbst, als die Jugendlichen ins Wohnzimmer kommen. Lilja Dögg balanciert die Pfanne vorsichtig wie eine dreistöckige Hochzeitstorte und schneidet das Omelett konzentriert in zwei gleich große Stücke, während Óðinn sich mit Cocktailfrüchten aus der Dose begnügt. Sie kräuselt unbewusst den Mund, und mir fällt auf, wie weiß und pausbackig ihre Wangen sind, wie bei einem Kind, während ihre Augen eng zusammenstehen. Auf ihre Weise ist sie hübsch, der Ernst verleiht ihr eine gewisse Anmut.
Mit unsicherer Stimme erzähle ich ihnen, dass meine Mutter gefunden wurde.
»Echt?«, sagt Lilja Dögg und mustert mich neugierig.
»Ja«, murmele ich und merke dabei, wie schwer es mir fällt, über sie zu sprechen. »Sie ist wohl nur kurz ins Sommerhaus gefahren und hat vergessen, Bescheid zu sagen«, füge ich hinzu, bemüht, ganz beiläufig zu klingen, was mir misslingt, meine Stimme ist seltsam belegt.
»Ach so«, sagt Lilja Dögg skeptisch, ist aber so rücksichtsvoll, keine weiteren Fragen zu stellen.
Ich bin froh über ihr Verständnis und lächle. Da wendet sich Óðinn plötzlich an mich und sagt höflich: »Saga, ich hab da was im Internet entdeckt, das Sie interessieren könnte.«
»Ja, gib’s ihr ruhig«, sagt Lilja Dögg bemutternd, während sie die Portionen auf den Tellern verteilt, woraufhin Óðinn kurz den Raum verlässt, mit ein paar zusammengefalteten Blättern zurückkommt und sich mir gegenübersetzt. Erleichtert über das neue Gesprächsthema, falte ich die Blätter auseinander wie ein kleines Päckchen und sehe den Ausdruck einer Meldung von der Wissenschaftsseite BBC.com.
Ich streiche die Blätter neben meinen Teller glatt und beuge mich über den Artikel:
»Das menschliche Gedächtnis ist ein kompliziertes und unvollkommenes Organ, das beim Einkaufen im Supermarkt unpraktisch und bei Zeugenaussagen geradezu gefährlich sein kann. Manchmal meinen wir sogar, uns an Ereignisse zu erinnern, die nie passiert sind. Jetzt hat eine Arbeitsgruppe des Nobelpreisträgers und Neurowissenschaftlers Susumu Tonegawa am Massachusetts Institute of Technology Versuche mit Mäusen gemacht, die beweisen, dass es durch die Manipulation von Neuronen möglich ist, negative Erinnerungen in positive Erinnerungen umzuwandeln und sogar neue Erinnerungen zu generieren.
Erinnerungen an den Ort eines Ereignisses befinden sich in einem Gehirnteil namens Hippocampus und Erinnerungen an die mit dem Ereignis verbundenen Emotionen, positive wie negative, in einem Gehirnteil namens Amygdala oder Mandelkern. Bei Tonegawas Versuchen wurden bei Mäusen Erinnerungen an bestimmte Bereiche in ihrem Käfig erzeugt. An manchen Stellen bekamen sie Futter, was positive Erinnerungen hervorrief, während ihnen an anderen Stellen leichte Stromstöße versetzt wurden, was negative Erinnerungen hervorrief.
Infolgedessen suchten die Mäuse natürlich die Stellen auf, die sie mit Futter in Verbindung brachten, und mieden die Stellen, an denen sie Schmerzen empfunden hatten.
Durch die Aktivierung von Nervenzellen im Hippocampus, verbunden mit einer positiven Stimulation, gelang es dem Forschungsteam, die Mäuse dazu zu bringen, sich angstfrei an Stellen aufzuhalten, an denen sie Stromstöße bekommen und die sie zuvor gemieden hatten. Dieselben Mäuse waren starr vor Angst, wenn sie in einen Bereich des Käfigs gesetzt wurden, an dem sie nie Schmerzen empfunden hatten. Wenn die Mäuse in einen dritten Bereich des Käfigs gesetzt wurden, an dem sie noch nie gewesen waren, verhielten sie sich unbekümmert, was nach Ansicht der Forscher beweist, dass ihre panische Reaktion durch die Erinnerung an den Ort hervorgerufen wurde.
Howard Eichenbaum, Neurowissenschaftler an der Universität Boston, bezeichnet die Versuche als bahnbrechend für die Forschung: »Die Versuche bestätigen, was Neurowissenschaftler und Psychologen seit langem vermuten, nämlich dass das Gehirn Erinnerungen verändern und sogar falsche Erinnerungen generieren kann.«
Die jungen Leute strahlen mich erwartungsvoll an, als ich von dem Artikel aufschaue.
»Also, wir dachten, wenn Sie Ihrem Gehirn klarmachen können, dass alles Schlechte gut ist, dann können Sie sich bestimmt besser erinnern«, sagt Lilja Dögg und blickt zu Óðinn, der zustimmend nickt.
»Ja, genau«, pflichtet er ihr oberlehrerhaft bei. »Sie dürfen keine Angst vor Ihren Erinnerungen haben. Wenn Sie zum Beispiel an etwas denken, das Ihnen so unangenehm ist, dass es Sie beunruhigt, dann versuchen Sie einfach, es in einem positiven Licht zu sehen, und überlisten dadurch das System.«
»Das System?«, äffe ich ihn nach, hin- und hergerissen, ob ich lachen oder weinen soll. Wenn sie nur wüssten!
»Ja, genau«, bestätigt er und betastet konzentriert ein langes Haar, das aus seinem jugendlichen Kinn sprießt. Die Kids meinen, sie hätten die Lösung für mich gefunden, dass es nur eines klugen Teenagers wie Óðinn bedürfe, der die Antworten auf die Verwicklungen in meinem Leben schnell mal googelt. Ich will ihnen diese Überzeugung nicht nehmen, wir sollten alle noch mal siebzehn sein dürfen und glauben, dass das wenige, was wir nicht wissen, zum Greifen nah ist. Ganz kurz erinnern sie mich an Bergur mit seinem ewigen Drang, allen Dingen auf den Grund zu gehen, als wäre es seine Aufgabe, alles, was die Menschheit sich bisher nicht erklären konnte, zu entwirren.
Ein Schriftsteller auf einer eintönigen Insel rühmt sich damit, ein paar kürzere oder längere Reisen unternommen zu haben, vergisst aber, seinem Sohn die Windel zu wechseln, sodass er einen wunden Hintern bekommt, weil sein Vater unbedingt die Debatte des Tages über die vermeintliche egoman-autobiografische Literatur skandinavischer Autoren auf DR1 verfolgen und darüber sinnieren muss, wie er selbst dazu steht, aber nicht begreift, dass man am Ende nichts weiß, vor allem nicht über die eigenen Erlebnisse, geschweige denn über die anderer, denn unser ganzes Leben ist nichts anderes als ein Roman. Oder? Stimmt das etwa nicht? Ich weiß noch, wie er mich nach einem folgenschweren organisatorischen Debakel in meinem Job, für das ich die Verantwortung trug, damit trösten wollte, das Ich sei nur eine Fiktion des eigenen Geistes.
»Wessen Fiktion?«, fragte ich verwirrt. »Bin ich denn nicht mein eigener Geist?«
»Du bist deine eigene Illusion«, entgegnete er, tief in Gedanken über seine Verallgemeinerung, gab aber schließlich zu, dass diese widersprüchliche Pseudotheorie ihm im Lauf der Jahre zumindest immer geholfen habe, ärgerliche Buchkritiken zu vergessen.
Ich weiß auch noch, dass er irgendwo mal schrieb, wir seien alle schuldig, weil wir dazu verdammt seien zu vergessen, und somit dazu verdammt, schuldig zu sein. Damals lachte ich über die Gestelztheit dieses Satzes. Jetzt weiß ich, dass alles, was ich je vergessen habe, mich zu dem macht, was ich bin – ich bin die Summe meiner eigenen Gedächtnislücken. Und ich vergesse weiter, es dauert nicht mehr lange, dann vergesse ich mich selbst. Dabei kann Gedächtnisverlust nie auslöschen, was passiert ist, ein Ereignis lebt weiter in seinem Nachklang und in der Liebe, die einmal war – sie war, und das, was war, wird sein. Die Sehnsucht ist der Beweis dafür. Dann muss meine Welt doch mehr sein als Fiktion?, sage ich mir gebetsmühlenartig und balle die Fäuste, bis meine Hände wehtun, von demselben Gefühl übermannt, das ich als Kind hatte, wenn ich verängstigt durchs Haus lief, mit der unangenehmen Gewissheit, dass alles real war, außer mir selbst.
Bin ich wütend auf Bergur? Dabei vermisse ich ihn doch so sehr. Trotzdem wurde ich richtig sauer, als die Teenies mit dem Artikel ankamen, nur um mir zu helfen, und das haben sie doch verdammt noch mal auch schon reichlich getan. Geht es mir so gegen den Strich, mit einer Maus verglichen zu werden, dass der Ballon vor lauter leerer Luft platzt und die Fetzen auf den Boden segeln? Nein, ich bin nur wütend. Ich bin sogar stinksauer, und das ist mein gutes Recht!
Bergur hätte die komische Seite daran gesehen, er war schon immer ein Meister darin, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Wie an dem Abend, als ich total gestresst mit Ívar auf dem Arm ein Drehbuch am Computer bearbeitete und er mich fragte, was ich da machen würde. »Szenen ausrechnen, wie viele Tage man braucht, um den Film zu drehen«, antwortete ich müde. »Du hast einen ganzen Film in deinem hübschen Kopf, während du stillst«, entgegnete er und lächelte mich unwiderstehlich an, als er sich neben uns setzte. »Bist du jetzt poetisch genug, um zum nächsten Literatur-Symposium ins Kulturzentrum Gerðuberg eingeladen zu werden?«, kicherte ich und bekam so gute Laune, dass ich die Abgabefrist schaffte.
»Danke, interessanter Artikel«, sage ich hastig und setze ein steifes Lächeln auf, um ihnen eine Freude zu machen. Sie lächeln betrübt zurück, weil sie sich eine euphorischere Reaktion erhofft hatten, und ich lächle einfach weiter, um mich zu beruhigen, nehme einen Bissen von dem Omelett und schlucke ihn, immer noch breit lächelnd, hinunter.
»Óðinn hat ihn gestern gefunden«, sagt Lilja Dögg.
»Du bist echt gut, Óðinn«, entgegne ich und glaube es fast. Der Knabe dehnt die Mundwinkel, und etwas, das annähernd an ein Lächeln erinnert, zieht sich über sein schmales Gesicht. Ich stecke mir noch einen Happen in den Mund, um nichts sagen zu müssen. Beunruhigenderweise scheinen sie mein Verhalten richtig zu deuten, wenden sich der Mahlzeit zu und essen schweigend. Kaum auszuhalten, diese Stille!
Ich schlucke schnell und schenke mir Kaffee ein, nippe daran und fühle mich sofort besser. »Habt ihr euren Eltern Bescheid gesagt, wo ihr seid?«, höre ich mich übertrieben streng fragen.
Meine impulsive Frage überrascht mich selbst, weil ich bei dem ganzen Chaos noch gar nicht darüber nachgedacht hatte. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, als Lilja Dögg leise antwortet, ihre Mutter sei für längere Zeit in Oslo, sie sei Krankenschwester und könne überall arbeiten. Außerdem habe sie einen norwegischen Freund, der sei Krankenpfleger im selben Krankenhaus.
Ich habe das Gefühl, als wäre ihr nicht ganz wohl in ihrer Haut, vielleicht verletzt es sie, dass sie allein in Island zurückgelassen wurde. Ihre Mutter muss für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten, und das auch noch mit einem Kind mit Epilepsie. Ich gehe automatisch davon aus, dass die Mutter das norwegische Gesundheitssystem besser für ihr Kind findet, möchte Lilja Dögg aber nicht weiter bedrängen und frage sie stattdessen nach ihrem Vater.
»Der zieht um die Welt«, antwortet das Mädchen großmütterlich. »Wie ein einsamer Wolf. Er ist nie mit dem Leben klargekommen.«
Sie klingt so altbacken, dass ich sprachlos bin. Mit Mühe und Not bringe ich heraus: »Und wo wohnst du?«
»Meine Mutter hat eine Souterrainwohnung in Grenimelur. Aber ich bin meistens bei meiner Oma, hier nebenan, die lebt aber so ziemlich in ihrer eigenen Welt. Ich kann trotzdem immer bei ihr essen.«
»Und was ist mit dir?«, frage ich den Jungen, obwohl ich immer noch damit beschäftigt bin, die Antworten des Mädchens zu verdauen. Sachlich antwortet er: »Ich wohne in der Weststadt.«
»Und deine Eltern?«
»Die sind okay«, sagt er und zieht die Nase hoch. Schaut Lilja Dögg eindringlich an, die routiniert das Wort ergreift: »Saga, wir haben uns was überlegt.«
»Ja?«
»Also, wenn meine Schwester einen schlimmen Anfall hat, dann bekommt sie immer Essen mit guten Fetten für das Gehirn. Sie wissen schon, Lachs mit Pinienkernen und Avocadosalat und so. Wir würden heute Abend gern so was für Sie kochen.«
Ihr Vorschlag erweicht mir das Herz. »Wollt ihr denn noch so lange hierbleiben?«, frage ich zaghaft.
»Wenn Sie möchten«, antwortet sie und hebt lächelnd die Augenbrauen.
»Hm, das wäre vielleicht wirklich das Beste«, sage ich und ahme instinktiv ihren Gesichtsausdruck nach.
»Óðinn kann Ihnen auch alles darüber erzählen«, erklärt sie und betrachtet ihren Freund mit dem Blick einer zartfühlenden Ehefrau.
»Worüber?«
»Über Fette, die gut für das Gehirn sind. Er hat schon so viel über das Gehirn gelesen.«
»Aha.« Ich schaue Óðinn verwundert an, der schüchtern nickt und verkündet, gute Fette seien Benzin für das Gehirn, das habe er gelesen, er könne mir Artikel darüber ausdrucken, wenn ich wollte.
»Okay, warum nicht«, entgegne ich dankbar, warum sollte ich dieses nette Angebot auch ablehnen, sie sind wirklich beide furchtbar nett zu mir.
»Äh, Saga, haben Sie vielleicht ein bisschen Geld, Sie wissen schon, damit wir Essen einkaufen können?«, fragt das Mädchen vorsichtig.
»Ich habe nur meine Kreditkarte«, antworte ich. »Da müsste ich erst mal zum Geldautomaten.«
»Das können wir doch auch für Sie machen«, bietet sie mir hilfsbereit an.
»Ja, mal sehen«, sage ich und wende mich wieder dem Omelett zu, verschlinge es schmatzend, als das Telefon klingelt. Ich schaffe es gerade noch, mir einen weiteren Bissen in den Mund zu schieben, bevor ich hinlaufe.
»Ist das Saga?«
»Ja«, bestätige ich.
»Guten Tag, hier ist Elliði Tómasson.«
Meine Situation ist anscheinend so ungewöhnlich, dass der Arzt mich bittet, schnellstmöglich zu ihm zu kommen. Schaffe ich das überhaupt?
Jóhanna ist auf der Arbeit, doch nach einiger Überlegung stellt sich heraus, dass Óðinn einen Führerschein hat. Er erzählt, er habe ihn seit ein paar Wochen und würde sich freuen, mich mit meiner Schrottkarre durch die Gegend kutschieren zu dürfen, solange es die Straßenverhältnisse zuließen. Jóhanna sitzt an ihrem vollgeladenen Schreibtisch auf der Arbeit und protestiert vehement, ich höre sie während des Telefonats auf dem Computer herumtippen, aber sie sieht keine Möglichkeit, vor der Mittagspause wegzukommen, und so lange kann der Arzt nicht warten. »Fahr ruhig mit dem Knaben, wenn du noch vor der Untersuchung dein Leben riskieren willst«, sagt sie und lacht über ihren eigenen unlustigen Witz. Sie ist richtig gut drauf, seit Mama gefunden wurde. »Wir sehen uns dann heute Mittag bei Mama und Papa«, ergänzt sie. »Dahin chauffiert er dich doch bestimmt auch, oder?«
»Ich denke schon«, antworte ich und mustere den Jungen in seiner kurzen Jacke, den kleinen Kopf unter einer der vielen übertrieben bunten Wollmützen versteckt, die Mama im Lauf der Jahre gestrickt hat. Er klimpert mit den Schlüsseln und schaut zu Lilja Dögg, die in ihre übergroßen Schuhe schlüpft, mit dem stolz-lüsternen Blick eines echten Kerls, der sich etwas auf sich einbildet. Der Blick verwandelt sich in ratlosen Trotz, als der Wagen auf dem Glatteis losstottert, und ich habe alle Hände voll damit zu tun, dem vor Stress zitternden Jungen Anweisungen zu geben, und so bahnen wir uns mit ruckelndem Motor den Weg zum Krankenhaus. Lilja Dögg beobachtet die Aktion verträumt vom Rücksitz. Sie teilt meine Sorge über unser Verkehrsverhalten nicht, sondern lehnt sich stoisch ans Fenster, das Palästinensertuch ins Gesicht gezogen, ohne auch nur zusammenzuzucken, als Óðinn einen missglückten Versuch macht, die Fahrspur zu wechseln, und ich ihm hektisch ins Lenkrad greife, woraufhin wir beide einen entsetzten Schrei ausstoßen.
»Scheiße, sorry!«, rufe ich, als er aufschreit. Seine tiefe Jungmännerstimme dehnt sich bis zum hohen C: »Man darf dem Fahrer nie ins Lenkrad greifen!«
»Nein, ich weiß, ich weiß«, keuche ich. »Ich mache manchmal Sachen, ohne vorher nachzudenken.«
Ich lächle entschuldigend, wohl wissend, dass ich diesmal wahre Worte spreche. Was die Teenies allerdings unmöglich wissen können. Lilja Dögg kichert gutmütig, und der Fahrer konzentriert sich so stark aufs Fahren, dass der Zwischenfall sofort verpufft.