»Können Sie mich hören, Saga?«
Saga, das bin ich! Ich bin zutiefst erleichtert, dass ich mich an meinen Namen erinnern kann.
»Ja, ich höre Sie«, murmele ich.
»Sie sind gerade noch mal glimpflich davongekommen«, sagt die tiefe Stimme, so warm und schmatzend, als wäre sie ein halbes Jahrhundert in Kaffee eingelegt gewesen – die duftend heiße Flüssigkeit tropft von jedem Wort. Die Stimme kommt von einem massigen Körper in einem weißen Kittel. Alle Möbel sind weiß, auch die Jalousien vor dem Fenster, die Luft flimmert wie in einem Hitzeschleier. Meine Hand tut weh, eine Nadel steckt in dem schmerzenden Handrücken, sorgfältig an der Haut befestigt. Eigentlich tut mein ganzer Körper weh, ich fühle mich total erschlagen, habe schwere Oberarme und ein unerträglich schmerzhaftes Stechen in der Hüfte. Ein Gerät misst meinen Herzschlag, gleichmäßig und konstant, bis mir dieser schreckliche Traum wieder einfällt, da beschleunigt er sich blitzartig. Ich bin über eine nicht enden wollende Schneefläche gerannt und habe »Ívar!« gerufen. Habe ich ihn wirklich gesucht, oder war das nur ein Traum? »Wo ist Ívar?«
»Ívar?«, fragt der Arzt irritiert.
Ich brauche einen Moment, um das richtige Wort zu finden. Mein Sohn. Ívar ist mein Sohn.
»Mein Sohn«, sage ich laut und spüre, wie die Worte in meinem Mund herumpoltern wie schwere Wäsche in einer Waschmaschine. »Er war bei mir. Und dann erinnere ich mich an nichts mehr.«
»Warten Sie einen Moment, ich spreche kurz mit den Polizisten draußen im Flur.«
»Warum ist die Polizei hier?«
»Bleiben Sie ganz ruhig. Regen Sie sich nicht auf.«
Die Zeit wirkt bleischwer. Die Sekunden vergehen kaum, sie schaffen es nicht, die Wirklichkeit voranzutreiben. Oder ist das etwa die Wirklichkeit, dieser zähflüssige Nebel? Was ist mit der anderen Wirklichkeit, bevor alles unbegreiflich wurde? Wir wollten einen Spaziergang machen, daran erinnere ich mich dunkel, oder bilde ich mir das nur ein?
Ich sehe diese eine Szene ganz deutlich vor mir, sie muss stattgefunden haben: Ívar wollte unbedingt rausgehen. »Komm, Mama«, quengelte er. »Nach draußen in den Schnee?«, fragte ich und schüttelte mich grinsend, bis er lachte. Überglücklich. Samstags ist kein Kindergarten, das sind unsere Tage, an denen wir gemeinsam vor uns hin trällern und die Welt erkunden. Was geschah dann?
Diese Gedanken sind unangenehm, ich unterdrücke sie, weil ein Schluchzen in meiner Brust rumort und ein Kloß in meinem Hals steckt. Jede Zelle eingefroren. Ein unwirkliches Bild taucht vor meinem inneren Auge auf: ein geschocktes Mädchen mit einer blau gestreiften Schürze, die Suppe des Tages in einem schwarzen Topf, Platten mit Schichttortenstücken und belegten Broten in einer Glasvitrine, da lag ein Fächer aus Krabben in einem Mayonnaise-Nest – und die junge Frau total konfus. Bilde ich mir das ein? Nein. Ich schrie – oder nicht? Ich glaube, ich stand schreiend im Museumscafé. Und, und dann, ich weiß nicht, was dann.
Alles schwarz.
Jetzt, alles weiß.
Wie kam es dazu? Ich muss einen Weg aus mir heraus finden. Aus dieser abartigen Wirklichkeit.
Ich muss Ívar finden.
Und ich reiße die Nadel aus meinem Handrücken, klettere aus dem Bett, mir wird schwindelig, ich drehe mich um die eigene Achse, halte mich am Bett fest. Das Gerät piept wie verrückt. Ich muss hier raus.
»Immer sachte, Schätzchen«, sagt eine andere Stimme, die jünger klingt als die erste.
Sie gehört einem Mann in einer schwarzen Uniform. Zum Glück ist sie laut. Wenn es schlechte Nachrichten gäbe, die allerschlimmsten Nachrichten, dann würde der Mann seine Stimme dämpfen. Ich glotze den stattlichen Polizisten flehend an.
Er blickt ernst, aber freundlich zurück. Dann sagt er: »Wenn ich die Ärzte richtig verstanden habe, hatten Sie zwei Grand-mal-Anfälle hintereinander. Das kann lebensgefährlich sein.«
»Wissen Sie, wo mein Sohn ist?«, höre ich mich mit schriller Stimme rufen.
»Wir haben ihn gesund und munter gefunden«, antwortet der Polizist. »Gott sei Dank, es war kurz vor knapp.«
Ich bin unfassbar erleichtert. Aber was meint er mit kurz vor knapp?
»Der Kleine war schon an der Snorrabraut«, erläutert der Polizeibeamte. »Er stand da und wollte die Straße überqueren. Hatte schon mehrere Straßen in dem Wohnviertel überquert. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn er auf die Hauptverkehrsstraße gelaufen wäre. Ein Riesenglück, dass der Mann so schnell reagiert hat.«
»Welcher Mann?«
»Der Passant, der uns angerufen hat. Er hat die Polizei gerufen. Kurz darauf hat sich auch eine Mitarbeiterin aus dem Kjarvalsstaðir-Museum gemeldet. Sie lagen bewusstlos im Café vor der Kuchentheke.«
Wir schauen uns in die Augen, während ich vergeblich versuche, mir den Ablauf der Ereignisse vorzustellen, undeutliche Blitze zucken durch meinen Kopf und verschwinden wieder, ich sehe mich selbst durch den Schnee rennen, weiß aber nicht, ob das Einbildung ist, obwohl mich die Angst packt, Ívar nie wiederzusehen. Der Polizist ist so jung, dass er mich an meinen Bruder Guðni erinnert, der bei der Arbeit dieselbe Uniform trägt. Seine Augen sind jungenhaft, gleichwohl von Erfahrung gezeichnet, als hätte er schon mehr gesehen, als einem Menschen guttut. Es kommt mir so vor, als wäre er erleichtert, weil er etwas Derartiges heute noch nicht sehen musste.
»Haben Sie ihn gefunden?«, frage ich vorsichtig, aber froh, eine normale Frage formulieren zu können.
»Wir beide, ich und Dröfn, meine Kollegin. Der Junge hat sich tapfer geschlagen. Er meinte, er wäre unterwegs, um einen Arzt für seine Mama zu holen. Ich glaube, er wollte rauf zum Ärztezentrum.«
»Was?«
»Ja, er war fest entschlossen, einen Arzt für seine Mama zu holen. Er hat einen ungewöhnlich guten Orientierungssinn für sein Alter und weiß sich zu helfen. Ich ziehe meinen Hut vor ihm«, sagt der Polizist aufrichtig lächelnd und schwenkt mit der rechten Hand seine Kappe.
»Wo ist er jetzt?«
»Bei seinem Vater.«
»Und es geht ihm gut?«
»Der Kleine hatte Spaß an der Fahrt im Polizeiauto, aber er wird froh sein, Sie zu sehen.«