15. JULI

Wendepunkt

Habe einen Job als Regieassistentin bei der Inszenierung eines neuen isländischen Stücks angenommen, die Proben beginnen im Herbst. Kann mir einfach nicht vorstellen, für Dreharbeiten so lange weg von zu Hause zu sein, während Ívar noch klein ist.

Diese Phase ist vorbei, ich habe diesen Filmtypen (kinoruepel.is) lange genug den Arsch hinterhergetragen und immer geglaubt, ich wäre diejenige, die das Sagen hat.

Bergur hat zur Feier des Tages ungarisches Gulasch gekocht. Ein guter Tag, der mit einem furchtbaren Streit endete, woraufhin Ívar anfing zu heulen. Warum? Weil Bergur kein Fleisch kochen kann?

Nein, weil wir uns zurzeit über alles streiten.

17. Juli

Das Ende

Stimmt es wirklich, dass man dasselbe chinesische Schriftzeichen für Katastrophe und Fortschritt benutzt?

13. August

Festgefahren

Der Lebensstil des modernen Menschen zerstört seine emotionalen Fähigkeiten.

Wenn Bergur nicht weg wäre, könnte ich ihm den Satz zuschustern, damit er ihn in einem Buch verwenden kann.

22. September

Chaos

Ívar übernachtet zum fünften Mal in der neuen Wohnung seines Vaters. Ich versuche, mir keine Sorgen um ihn zu machen, aber ich fühle mich noch beschissener als bei den letzten Malen. Er ist total erkältet. Was, wenn etwas passiert und Bergur es herunterspielt?

23. September

Paradies

Ívar hat die Nacht überlebt. Jetzt bleibt nur noch Samstagnacht! Habe versucht, das alles zu vergessen, und war mit Mama zur Enthaarung und Pediküre im Fußpflegesalon Paradies (sie wird total sexy aussehen, wenn sie im Winter im Hot Pot sitzt). War nett, bis Jóhanna bei Mama anrief und uns vorwarf, wir würden sie außen vor lassen.

Mama meinte, sie hätte sich längst damit abgefunden, dass ihr Erstling Äußerlichkeiten der Buße beim Seelenklempner opfern würde, meine Schwester könne es sich bestimmt nicht leisten, sowohl ihre Füße als auch ihren Geist verwöhnen zu lassen, sie für ihren Teil fände Pediküre aber wichtiger für das seelische Gleichgewicht.

Jetzt reden sie nicht mehr miteinander, rufen aber abwechselnd mich an, was mich nervt. Schließlich habe ich Mama nur chauffiert und dafür eine Pediküre bekommen. Weil ich frisch getrennt bin, wollte Mama mir eine Behandlung spendieren.

Warum kann man nicht mit seiner Familie Schluss machen?

»Das ist also dein Leben«, kommentiert Jóhanna, verständlicherweise eingeschnappt wegen des letzten Tagebucheintrags.

»Ja, sorry wegen der Sache mit der Pediküre.«

»Ach, spiel doch nicht immer Mamas Spielchen mit!«, sagt sie vieldeutig. »Ich habe ihr tausendmal gesagt, dass das nur ein Witz war, und sie hat so getan, als wäre ich total gekränkt.«

»Aber ich weiß noch, dass du angerufen hast, total gekränkt, und Mama …«

»Ach, verdammt«, sagt Jóhanna schnell.

»Was denn?«, frage ich irritiert.

»Nur so«, erwidert sie rätselhaft. »Wo ist sie denn, verdammt noch mal?«

Ich schweige schuldbewusst.

»Es ist nicht deine Schuld, Saga«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Meinst du wirklich?«

»Ja, natürlich, Liebes. Und weißt du, was?«

»Nein«, antworte ich dumpf.

»Wenn wir Mama gesund und munter finden, lade ich euch beide zur Epilation und Pediküre ein. Ist ja wieder an der Zeit, oder?«

»Willst du damit sagen, dass Mama mit behaarten Beinen und langen Zehennägeln da draußen im Schnee hockt?«, seufze ich, und Jóhanna gackert los. Dann verklingt ihr Lachen allmählich. Sie ist so voller Emotionen, dass sie einen breiteren Brustkorb braucht als wir anderen, damit alle hineinpassen. Jetzt verharrt sie in ihrer eigenen Umarmung, die Arme vor der Brust verschränkt und an sich gedrückt, lullt sich ein, bis mir zu meinem Entsetzen die Frage herausrutscht. Aber die Worte lassen sich nicht zurücknehmen. Die Worte: »Warum ist Mama abgehauen?«

Jóhanna löst sich aus ihrer Umarmung. »Fragst du mich das ernsthaft?« Ihre blauen Augen verdunkeln sich, als sie durch mich hindurchschaut, so angespannt, dass sie noch nicht einmal zu schlucken wagt.

Draußen auf der Wiese beim Kjarvalsstaðir-Museum kann ich die Umrisse der Bäume in der Dunkelheit erkennen. Da hinten, zwischen den Tannen und den kleinen Birken, schlittert ein menschliches Wesen im brausenden Schneesturm über die glatte Wiese, die heute vereist ist. Es muss geregnet haben, ohne dass ich es bemerkt habe. Die Bäume krümmen sich im Wind, ungeschützt auf der offenen Fläche. Ob die Vögel in der Düsternis zwischen ihnen hin und her gefegt werden?, überlege ich, wohl wissend, dass ich dieser großen Frage, die Jóhanna aufgegriffen hat, nicht entkommen kann.

»Du behauptest, dich an nichts Wichtiges zu erinnern, und trotzdem fragst du mich nach Dingen, die du nie wissen wolltest«, sagt sie argwöhnisch. Ich schaue wieder zu ihr. Mein Herz hämmert vor Angst, aber ich will unbedingt wissen, was sie mit dieser verschlüsselten Bemerkung meint.

»Saga, ich weiß doch, dass du weißt, dass Mama regelmäßig abgehauen ist.« Sie starrt mich unverwandt an, aber ich antworte nicht.

»Immer zu dieser Jahreszeit«, fügt sie hinzu, »wenn alles so war wie damals, als es passierte. Zu dieser Zeit war die Tiefkühltruhe immer voll mit frischem Fleisch, das Papa in Kjós gekauft hatte. Er konnte ja nichts anderes kochen als Lammfleischsuppe, und die hat er dann immer wieder für uns aufgewärmt, bis Mama gefunden wurde.«

Ich lächle bei der Erinnerung an die Suppe und sage: »Davon hat er vorhin sogar gesprochen. Merkwürdiger Zufall.«

»Ist das wirklich Zufall?«

»Warum sprichst du in Rätseln, Jóhanna?«, will ich aufgebracht wissen.

»Vertraust du mir denn genug, dass ich nicht in Rätseln sprechen muss?«

»Ich weiß echt nicht, worauf du hinauswillst. Aber ja, natürlich vertraue ich dir.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja«, antworte ich unsicher.

»Dann nimm meine Hand«, sagt sie und schließt die Augen. Ich gehorche, gegen meinen Willen, nehme die Hand meiner Schwester und schließe die Augen, während ich ihren hypnotischen Worten lausche. Lasse mich in eine Wolke aus Wörtern fallen, die um mich herumflattern und den Raum ausfüllen, sie erinnern an Schmetterlinge in einem schwül-heißen Tropenhaus, in dem ich mal in irgendeinem Zoo im Ausland war; ich fliege zusammen mit ihnen hinaus in die Nacht, wo eiskalte Luft in die Nase sticht und die schlafenden Vögel in die Schmetterlingswolke hineingeweht werden, drücke ihre Hand fester und rufe in den Sturm hinein: »Erzähl es mir!«