DIE RATGEBERIN

»Meine Mutter ist verschwunden.«

»Ich hab’s gehört«, sagt Lilja Dögg. Wir schauen uns kurz in die Augen, und ich sehe, dass sie merkt, dass ich völlig fertig bin. Ich habe mich immer für eine kluge Frau gehalten, für eine witzige Frau, die schnell denkt, die nie um eine schlagfertige Antwort verlegen ist, die immer für alles eine Lösung hat und alle Probleme an sich abprallen lässt, aber jetzt bin ich ratlos.

Jóhanna ist genauso schnell wieder gegangen, wie sie mit dieser bizarren Neuigkeit aufgetaucht ist, die mir endgültig jegliche Energie geraubt hat. Als treibender Motor in diffizilen Familienangelegenheiten hatte sie kaum Zeit, zu schauen, zu reden, zu sein; sie hatte es so eilig, ein Riesengeschiss zu machen, dass sie mich in der sicheren Obhut einer angeblichen Mitarbeiterin des Sozialamts zurückließ. Mamas plötzliches Verschwinden war verständlicherweise wichtiger als ich. Aber was soll ich jetzt tun? Eigentlich müsste ich hektisch telefonieren oder verzweifelt draußen nach ihr suchen oder einfach … Soll ich Bergur etwas sagen? Nein, wozu? Blödsinn! Mir ist das alles zu viel, und ich murmele nur: »Es kommt mir so vor, als wäre sie schon öfter verschwunden.«

»Wie meinen Sie das, es kommt Ihnen so vor?«, fragt das junge Mädchen sanft und verständnisvoll, ohne jegliche Vorwürfe. Vielleicht sieht es ja trotz allem mich und nicht irgendeine durchgeknallte Frau.

»Ich weiß nicht mehr, was ich weiß«, sage ich langsam genug, um meine eigenen Worte verstehen zu können, und erzähle Lilja Dögg dann, dass ich meinem Gedächtnis nicht mehr trauen und mich momentan an viele Dinge nur undeutlich erinnern könne.

»Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle«, gestehe ich verlegen. »Vielleicht weil ich es sonst niemandem sagen kann.«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum können Sie es niemandem sagen?«, fragt sie, objektiv wie eine Psychologin, während sie damit beschäftigt ist, eine Feuerwache für Ívar zu bauen, der gebannt mitverfolgt, wie sein Traum Wirklichkeit wird.

»Weil ich in meiner Familie keine Freunde habe. Außer ihm!«, antworte ich, und es gelingt mir, witzig zu klingen, als ich auf Ívar zeige.

»Er ist drei Jahre alt«, stellt Lilja Dögg fest und schaut mich mit ihren todernsten Bambi-Augen an.

»Bald dreieinhalb«, sage ich hoffnungsvoll.

Drei Jahre, und für ihn bin ich die Sonne. In seinem Alter war meine Schwester Jóhanna für mich der Mittelpunkt der Welt. Meine Schwester, meine Freundin, manchmal meine Mutter.

Sie wollte heute Abend wiederkommen, und ich habe nicht viel dazu gesagt, obwohl ich wusste, dass ich sie brauche. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, sie hierzuhaben. Nicht jetzt. Selbst wenn Mama verschwunden ist. Oder vielleicht genau deshalb. Ich weiß es nicht. Weiß gar nichts. Was zum Teufel meinte Jóhanna damit, Mama hätte sich mitten in der Nacht rausgeschlichen? Es ist Winter und alles voller Schnee, letzte Nacht war es eiskalt.

»Mach dir keine Sorgen«, meinte sie, sonderbar abgeklärt, und wiederholte, Guðni würde sich schon darum kümmern.

»Aber was kann ich tun?«, fragte ich verzweifelt.

»Du musst auf dich aufpassen, Saga. Da das Mädchen ja jetzt bei dir ist, nutze ich die Gelegenheit und fahre kurz nach Hause. Kümmere mich mal um meine Familie, ich brauche nicht lange.«

Sie blickte kurz, aber vorwurfsvoll zu Lilja Dögg, die damit beschäftigt war, Ívars knallrote Angry-Birds-Unterhose hochzuziehen, und tat so, als wäre ihre Anwesenheit eine Erleichterung, dabei sah ich in ihrem Gesicht Enttäuschung. Meine Schwester wäre am liebsten unersetzlich.

»Fahr ruhig, mir geht es gut«, log ich.

»Ich beeile mich auch«, entgegnete sie, genau wie Mama, wenn sie mal kurz wegmusste, als wir klein waren.

»Lass dir ruhig Zeit.«

»Bist du dir sicher, dass mit Ívar und dir alles okay ist?«

»Wieso denn nicht?«

»Kann ich euch wirklich allein lassen?«

»Du siehst doch, dass alles okay ist.«

Sie schien zwar anderer Meinung zu sein, zuckte aber nur mit den Schultern und sagte: »Also dann, Liebes. Wir sehen uns später. Ich beeile mich. «

Ich beobachte, wie mein Sohn dem Mädchen einen roten Lego-Stein hinhält, während es mich immer noch fragend anschaut. Er scheint Lilja Dögg zu vertrauen – ob er grundsätzlich schnell Vertrauen zu Fremden fasst? Und wenn sie gar nicht vertrauenswürdig ist? Ich kenne sie doch überhaupt nicht.

»Sie haben echt viele Probleme«, sagt Lilja Dögg, nimmt den Lego-Stein und setzt ihn ganz oben auf die Feuerwache, sodass Ívar begeistert loskreischt.

»Kann man wohl sagen«, seufze ich.

»Jedenfalls sollten Sie noch mit anderen Leuten reden als mit dem hier, Mister-drei-Jahre-alt, und Ihrer abgedrehten Schwester.«

»Findest du sie abgedreht?«

»Haben Sie keine Freunde?«

Ich schaue sie resigniert an und murmele, ich könne ja Tedda anrufen und sie ausquetschen … über mich selbst. Wenn mir jemand etwas über mich erzählen kann, dann sie, meine Jugendfreundin, die seit meiner Kindheit mit mir durch dick und dünn gegangen ist. Das Eingeständnis meiner Gedächtnislücken scheint Lilja Dögg nicht im Geringsten zu irritieren, und sie zweifelt auch nicht an dessen Wahrheitsgehalt. Sie macht ein nachdenkliches Gesicht, als würde sie die möglichen Alternativen in der momentanen Lage abwägen, so vertieft in ihre eigenen Gedanken, dass unnötige Sentimentalität sie nur stören würde.

Schließlich fragt sie: »Haben Sie einen Computer?«

»Ja, klar. Einen Laptop.«

»Haben Sie da noch nicht reingeschaut?«

Ich überlege. War ich nicht im Internet, um die Telefonnummer vom Landeskrankenhaus rauszusuchen? Nein, die habe ich ausnahmsweise von der Auskunft bekommen. Wo ist der Computer? Vermutlich im Schlafzimmer.

»Sind Sie auf Facebook?«, fragt Lilja Dögg beiläufig.

»Ja, aber nicht sehr aktiv«, antworte ich, wobei mir das im selben Moment erst wieder einfällt.

»Vielleicht können Sie da oder halt im Computer sehen, was Sie arbeiten«, schlägt Lilja Dögg vor und knallt einen gelben Schornstein auf den roten Lego-Stein.

Da hätte ich auch selbst draufkommen können! Das Mädchen ist genial. Also schnell rauf ins Schlafzimmer, wo der Computer sich meistens versteckt. Die Gewohnheit siegt über mein Gedächtnis, ich finde den Laptop sofort und nehme ihn mit runter, so neugierig, dass ich ihn schon aufklappe, bevor ich mich wieder aufs Sofa pflanze. Ungeduldig warte ich, bis er hochgefahren ist, und überfliege dann schnell die Ordner auf dem Bildschirm. Es sind sieben:

Anträge und Finanzpläne

Wir vergessen nie

Presseinfos: Gedächtnis der Welt/unsere Rollen

Gesundheit

Ziele

Private Buchhaltung

Tagebuch

»Klicken Sie mal das Tagebuch an!«, fordert die Mädchenstimme mich erwartungsvoll auf, und erst da merke ich, dass die Babysitterin sich mit Ívar auf dem Schoß neben mich gesetzt hat. Der Kleine tastet nach dem Laptop, den er so gut wie nie anfassen darf, aber er weiß, dass sich darin jede Menge verbotener Spaß befindet. Ich befolge ihre Anweisung und seufze erleichtert auf, als ich den Rapport über mein Leben anklicke.

Sagas Handlung.