Tedda wollte noch einmal zurückkommen, warum kam sie nicht? Ich war noch nie so einsam, dieser Moment mit Bergur und ihr ist in mein Gehirn gemeißelt, ich werde ihn nie wieder los. Mein Gehirn stottert, auf Repeat gestellt.
Sie stand plötzlich im Flur, auf dem persischen Teppich, den wir von Bergurs Onkel zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Ein Traum, den ich geträumt, aber vergessen hatte. Wusste ich überhaupt, was ich wusste?
Ich war eine Illusion meiner selbst, als ich wie ferngesteuert zu ihr in den Flur tappte und sie mich anlächelte, überaus freundlich, womit sie ihre Verwunderung überspielte. Dann schaute sie hilfesuchend zu Bergur, als bräuchte sie seinen Rat, wie man in dieser heiklen Situation am besten mit mir umgehen sollte, natürlich mit der pädagogisch geschulten Sensibilität einer Fachfrau.
Die Wolke der Erinnerungen ergießt sich schon wieder über mich. Natürlich kenne ich sie, sie war die Leiterin der Kleinkindgruppe in Ívars erstem Kindergarten. Ich weiß noch, wie dankbar ich ihr war, weil sie unseren Sohn so gut aufnahm, dass ich mich ohne Besorgnis von ihm trennen konnte.
Wir nannten sie die Kinderflüsterin, der Spitzname kam auf, als wir an Ívars erstem Kindergartentag ins Auto stiegen, überrascht, dass es uns gelungen war, unser Kind der Obhut einer fremden Person zu überlassen. Wir waren so übermütig, dass wir uns in einem Hafen-Café einen Vital-Brunch gönnten, die Augen auf unsere Handys geheftet, falls jemand vom Kindergarten anrufen sollte. Aber die Telefone klingelten nicht.
Ich dachte oft an sie, wenn ich während der ersten Eingewöhnungstage nervös wurde. Indem ich sie mir vorstellte, beruhigte ich mich selbst. Sie hatte ein hübsches Lächeln und einen lebhaften Blick, ihr dunkelbrauner Zopf wippte, wenn sie in ihrem hellblauen Skioverall über den Spielplatz schwebte, einen Pulk kreischender und plärrender Kleinkinder im Schlepptau. Wir waren uns einig, was für ein Riesenglück wir mit ihr hatten, und bedauerten es sofort, als sie uns mitteilte, sie habe einen Studienplatz in Kreativem Schreiben an der Uni bekommen, sie wolle ihren Traum verwirklichen und habe schon seit ewigen Zeiten ein Kinderbuch in der Schublade liegen. Sie hielt viel von Bergurs Büchern, was unsere Meinung von ihr noch steigerte. Wie hatte ich sie vergessen können?
»Ich muss euch ja nicht vorstellen«, sagte Bergur hastig, krampfhaft bemüht, normal zu klingen.
»Nein«, entgegnete ich und zwinkerte hektisch mit den Augen, um den Druck in meinem Kopf loszuwerden. Die Farben im Flur wirkten auf einmal so unwirklich, dass es mir vorkam, als würde ich mir das alles nur einbilden. Sie schauten mich beide an, mitfühlend, aber auch unsicher, wie sie mit mir umgehen sollten, obwohl sie gewusst hatten, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Sie suchten die Nähe des anderen auf dem persischen Läufer, auf dem Ívar krabbeln gelernt hatte, während ich auf den nackten Fußboden auswich und die Farben des Teppichs ineinanderfließen sah. Sie setzten beide übertrieben wohlwollende Mienen auf, waren auf mein Verständnis angewiesen, dachten aber, sie würden Verständnis für mich aufbringen.
Bergur klein, mit sanften, etwas schläfrigen Schokoaugen. Sie die Liebenswürdigkeit in Person, ein eher dunkler Typ und genauso klein wie er. Wie konnte er mit einer fast fremden Frau so vertraut umgehen? Mir war klar, dass sie am liebsten Händchen gehalten hätten, um sich gegenseitig zu bestärken, aber zu taktvoll waren, um sich das vor mir zu erlauben. Sie waren sich schon so nah, Liebende, die sich mit Gesten verständigten. Ob er ihr von unserem Kuss erzählen wird? Natürlich tut er das, als Mann der Wahrheit, mit seiner warmen, tiefen Bergur-Stimme, und dann wird sie ihm sanft über den Nacken streichen, sanft und zärtlich, und ihm sagen, sie verstehe das, es sei ganz normal, dass man mal seine Ex küsst, das müsse nichts, rein gar nichts bedeuten. Denn sie versteht ihn, im Gegensatz zu mir, die nie Lust hatte, über das zu reden, was ihn bewegte.
Aber sie darf nie so tun, als wäre sie Ívars Mutter. Kommt überhaupt nicht in Frage, dass sie sich in die Erziehung meines Sohnes einmischt, sie darf ihm nie mehr über den Kopf streichen, auch wenn er schon an ihr hing, bevor er sprechen konnte. Warum hatte ich nicht vorhergesehen, dass das passieren könnte, als ich auf der Trennung bestanden hatte, dass Bergur sich mit einer Frau zusammentun könnte, die für Ívar die Mutter spielen würde? Eine potenzielle Stiefmutter! Oder war mir das klar gewesen? Hier ist Bergur, bitte schön, nimm ihn, wenn ich ihn schon verloren habe, aber nie, niemals Ívar!
Ich zwang mich zu einem Lächeln, um mich wieder runterzuholen, stinksauer bei der Vorstellung, dass die nette Frau aus dem Kindergarten mit meinem Sohn und dem Mann, der immer mein Mann gewesen war, zusammenwohnen würde. Die sollten bloß nicht glauben, dass sie damit bei mir durchkämen. Stumm schrie es in mir: Warum hast du mir das nicht früher erzählt?
»Ich hab mich echt gewundert, wie gut du es aufgenommen hast, als ich dir letztens von uns erzählt habe. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass du das zu früh fändest«, sagte Bergur in diesem Moment. Er schien meine Gedanken gelesen zu haben, war aber furchtbar teilnahmslos, als wäre noch vor wenigen Augenblicken nichts zwischen uns geschehen, als hätte es uns beide nie gegeben, als hätte uns nie die ganze Welt gehört, unser Sohn, wir einander. »Weißt du das nicht mehr?«, insistierte er vorsichtig. »Ich habe dir an dem Tag vor deinen Anfällen von uns erzählt.«
Meine Haut sackte von meinen Knochen, die unter der Last knackten, und mein Gehirn verflüssigte sich zu Brei, der durch meinen zerschrammten Schädel floss, durch die dünnen Hautsäcke, es tropfte auf den persischen Läufer, ein fauliger, stinkender Fleck vor ihren Füßen, die winzigen Nerven geschwollen und zuckend, dort, wo alle sie sahen.
Da fiel es mir wieder ein. Sein Gesicht war angespannt gewesen, als er mir gesagt hatte, man würde manchmal von der Liebe überrumpelt, das müsse ich doch verstehen, und dann hatte er unerträglich nett hinzugefügt, dass ich bestimmt auch bald eine neue Liebe finden würde.
Das Haus zitterte in den Grundfesten, der Himmel prasselte feuerweiß. Damals und jetzt wieder. Ich brannte bei lebendigem Leib, sahen sie das nicht? Offensichtlich nicht, sie warteten auf eine Antwort.
»Hast du die Küchenmaschine mitgenommen?«, fragte ich schroff. »Ich wollte sie holen. Ich habe sie ja gekauft.«
»Die Küchenmaschine«, wiederholte Bergur mechanisch, besann sich aber sofort, froh über die Ausflucht. »Ja, klar, natürlich, warte!« Er machte auf dem Absatz kehrt, verschwand in der Küche und ließ mich in der Gegenwart der Frau zurück, die mir behutsam zulächelte wie einem Kind in der Eingewöhnungszeit, bis er mit einem Gerät aus Kunststoff wieder zurückkam, dessen Funktionsweise ich nie verstanden hatte. Er steckte es mit theatralischer Mimik in einen Stoffbeutel und sagte: »Bitte sehr!« Theatralisch, da jeglicher Kontakt zwischen uns von nun an ein Theaterspiel sein würde, das wussten wir beide.
»Ich hole Ívar gleich aus dem Kindergarten ab«, verkündete er zum Abschied, lässig an den Türrahmen gelehnt. Er hat sich in seinem neuen Alltag gut eingerichtet, schließlich ist er ein moderner Mann, der die Regeln der heutigen Zeit beherrscht, den Zeitgeist, der eine ständige Erneuerung von Herz und Hirn fordert. Der Mensch muss sich ständig aktualisieren, wie die schicken Apple-Geräte, sonst veraltet er in einer Gesellschaft, die auf Anpassungsfähigkeit ausgerichtet ist.
Mir gelang ein Nicken, dann wandte ich mich schnell ab, um die Flutwelle zu verstecken, die gegen meine Augäpfel drückte.
Irgendwo gibt es bestimmt eine Mülltonne, in der ich die Küchenmaschine entsorgen kann, ich will sie nie mehr sehen. Ich stelle das Gerät auf einer Treppenstufe vor dem Blumenladen ab, in angemessener Entfernung zu Bergurs Haus, und stürme dann weiter, kehre aber noch einmal um, weil sich in dem Gerät ein sehr scharfes Messer befindet, das nicht in die Hände von Kindern gelangen darf. Aber da hinten, drüben bei der Straße, da hängt ein Mülleimer an einer Straßenlaterne. Ich schmeiße die Maschine mit lautem Scheppern hinein, und dann laufe ich über die Hringbraut, an der Nationalbibliothek vorbei, ich weiß, dass ich das nicht darf, schon gar nicht allein, aber was soll ich denn machen? Ich muss mich wieder in den Griff kriegen, wegen Ívar! Ich stoße Dampfwölkchen aus, schneller, als ich einatme, ich brauche Sauerstoff, ich kriege keine Luft, ich muss atmen. Sofort!
Muss durchhalten. Klar denken!
Ich muss mit Lilja Dögg reden, sie fragen, ob sie weiter bei Ívar und mir übernachten kann, wenn wir schon beide kein richtiges Zuhause mehr haben. Ich müsste sie bezahlen können, vielleicht den Kredit erhöhen, das klappt schon irgendwie. Ich werde nicht aufgeben. Auf gar keinen Fall! Scheiß auf Bergur, scheiß auf alles!
Jóhanna hilft mir immer und … und bestimmt erreiche ich Elliði bald, es muss doch eine psychologische Erklärung dafür geben, dass ich mich nicht mehr an Bergur und die Kindergärtnerin erinnern konnte.
Vielleicht kann Elliði mir eine Psychologin empfehlen, ich muss noch mal mit ihm reden und ihm gestehen, dass ich mich doch an weniger erinnere, als ich heute Morgen noch dachte, dass ich irgendwie meine eigene Illusion bin, aber trotzdem alles im Griff habe – ja, das habe ich. Ich muss bei klarem Verstand bleiben.
Morgen holen Lilja Dögg und ich Ívar in dem neuen Kindergarten ab. Ich koche ihm Würstchen mit Kartoffelpüree, das liebt er über alles, und kaufe grünes Froscheis am Stiel mit Schokoüberzug. Und umarme und küsse und küsse ihn und höre ihn lachen. Mein geliebter Ívar.
Ich muss nur die Kontrolle über meinen Körper kriegen, mein Körper ist ich. Niemand kann mich von ihm befreien. Ich muss meine Freiheit in ihm finden. Er ist ja auch nicht komplett schlecht, mein Sohn ist aus diesem Körper entstanden, aber ich muss die Freiheit in der Liebe zu meinem Sohn finden, so wie ich die Liebe zu seinem Vater vergessen muss. Mutterliebe ist mit den inneren Organen verwoben, ich bin nichts anderes mehr als diese Liebe, unbändige Liebe. »Verfluchte Liebe!«, brülle ich in den wirbelnden Schnee und stapfe an dem rücksichtslosen Verkehr entlang, die grellgelben Lichter schneiden in meine verheulten Augen, und der frostkalte Sturm beißt in meine Haut, und das ist gut. Gut!
Ich setze die Füße auf den Boden, abwechselnd einen vor den anderen, weiter! Ich schaffe das, ich darf nur keine Angst haben, darf nicht, muss weiterlaufen …
Ich fand immer, dass mein Körper zu mir gehört, in letzter Zeit gehöre ich zu ihm. Er gehört mir nicht, ich gehöre ihm. Und ich gelange nirgendwohin.
Jóhanna hat die Tür schon aufgerissen, ehe ich nach der Türklinke greifen kann. »Bergur hat angerufen und meinte, ich soll sofort herkommen. Er macht sich Sorgen um dich«, sagt sie, ganz ruppig vor Angst, mustert mich von oben bis unten, bevor sie mir in der hell erleuchteten Diele Platz macht. »Hast du geheult?«
»Warte, ich erzähle dir alles.« Ich lasse mich auf den Telefonsessel fallen, um meine Schuhe auszuziehen, völlig entkräftet.
»Du bist doch wohl nicht zu Fuß gegangen?«, fragt sie fassungslos.
»Doch. Hast du ein Glas Wasser für mich?«
»Ja, natürlich«, antwortet sie zögernd, »aber nur, dass du es weißt, da ist ein Gast im Wohnzimmer.«
»Wer denn?«
»Die Mutter von diesem Mädchen, von dieser Lilja.«
»Die wohnt doch in Oslo.«
»Anscheinend nicht, Saga.«
»Wie bitte?« Ich schaue meine Schwester verwundert an, die mich mitleidig mustert. »Die Frau hat Sturm geklingelt, als ich kam, und meinte, sie wäre die Mutter des Mädchens«, erzählt sie. »Ich hatte natürlich keinen Schlüssel, deshalb bin ich hinters Haus gelaufen, und da haben die beiden Teenies mich durchs Wohnzimmerfenster gesehen, Schiss bekommen und aufgemacht.«
»Und warum hatten sie ihr die Tür nicht aufgemacht?«
»Keine Ahnung«, seufzt sie. »Sie wussten wohl, wer davorstand.«
Mir wird mulmig – kann es sein, dass ich irgendwelche Betrüger zu Ívar gelassen habe, damit sie auf ihn aufpassen? Nein, nein, Unsinn, Lilja Dögg doch nicht! Die beiden sind total nett, ganz normale Teenager.
»Aber sie sind doch nur hier, um mir zu helfen«, protestiere ich. »Wussten sie nicht, dass ich auf dem Heimweg bin?«
»Doch, Saga, aber man kann dich im Moment ziemlich leicht täuschen. Du bist krank.«
»So krank nun auch wieder nicht.«
»Inzwischen glaube ich, dass du kränker bist, als du meinst«, sagt sie behutsam, nimmt sanft meinen Arm und macht Anstalten, mich ins Wohnzimmer zu führen. Ich entwinde mich ihrem Griff und erinnere sie an das Glas Wasser.
»Ach so, entschuldige«, sagt Jóhanna, lässt mich los und geht schnell in die Küche. Ich starre vor mich hin, bis die Streifen auf dem Parkett ineinanderfließen, und zwinge mich, woandershin zu schauen. Ich habe den Kids vertraut, Jóhanna und diese Mutter übertreiben doch wohl, ich kann das Missverständnis bestimmt aus dem Weg räumen.
Halt suchend greife ich nach dem Telefontisch, stemme mich vom Stuhl hoch und sehe mein fertiges Gesicht im Spiegel. Ich richte mein zerzaustes Haar, reiße die Augen weit auf, damit das Rot aus dem Weiß verschwindet, und achte darauf, mit möglichst geradem Rücken ins Wohnzimmer zu gehen.
Am Esstisch sitzt eine abgekämpfte Frau in einem silbergrauen Anorak und mit einem edlen graublauen Schal um den Hals. Sie blickt mich sofort eindringlich an, unverkennbar sauer, aber mit einem Hauch von Mitleid, als sähe sie ein verletztes Tier. Ihre dunklen Haare sind genauso zerzaust wie meine, aber akkurat geschnitten. Hängende Wangen, von der Kälte gerötet, sinken Richtung Kinn, die blauen Augen stehen eng beieinander, und sie hat auffallend rot geschminkte Lippen.
Sie muss einmal sehr hübsch gewesen sein, hat dasselbe Gesicht wie ihre Tochter, nur älter, mit mehr Falten und müder Opfermiene.
»Guten Tag, Saga«, sagt sie mit weicher, aber entschiedener Stimme, ziemlich abweisend.
»Hallo, Sie sind …«, setze ich an, und sie ergänzt meinen Satz höflich: »Heiðdís Ragnarsdóttir.«
»Hallo, Heiðdís«, sage ich und werfe Lilja Dögg, die dicht neben Óðinn auf dem Sofa am Fenster sitzt, einen fragenden Blick zu. Sie wird mich doch wohl nicht angelogen haben. Kann es sein, dass sie mir etwas erzählt hat, das ich vergessen oder durcheinandergebracht habe?
Mir bleibt keine Zeit zum Nachdenken, denn die Frau ist hier, um mich in die Mangel zu nehmen.
»Finden Sie es normal, wildfremde Teenager bei sich übernachten zu lassen, ohne vorher mit den Eltern zu sprechen?«, fragt sie trotzig, aber dennoch bemüht, nicht zu aggressiv zu klingen.
»Ihrer Tochter schien das gut zu passen«, sage ich und schaue ratlos zu Lilja Dögg, die eifrig nickt und mir gerade zustimmen will, als die Frau sie scharf mustert.
Óðinns Augen suchen Schutz bei der Aussicht durchs Fenster und sein hagerer Körper in den Armen seiner Freundin. Es fällt mir schwer zu glauben, dass die beiden Ärger machen, wobei, letztens in der Nacht … Vielleicht haben sie zwischen Ívars Spielsachen Drogen versteckt? Nein, völliger Quatsch, obwohl … Ich versuche vergeblich, Augenkontakt zu Lilja Dögg herzustellen.
»Sind Sie nicht mal auf die Idee gekommen, Ihre Eltern zu kontaktieren?«, fragt die Frau, eher verwundert als vorwurfsvoll.
»Lilja meinte, Sie wohnen in Oslo«, antworte ich kleinlaut. Ich habe nicht mehr viel Kraft, nur noch ein Quäntchen von der Wut, die mich hergetrieben hat; ich muss mit Jóhanna reden und schlafen und … Ívar!
»Ich arbeite dort manchmal für ein paar Wochen«, entgegnet die Frau knapp. »Glauben Sie immer alles, was Ihnen eine Sechzehnjährige erzählt, der Sie noch nie begegnet sind?«
»Ich bin siebzehn«, wirft Lilja Dögg bockig ein.
»Noch bist du sechzehn, meine Liebe«, berichtigt die Frau und schaut mich dann wieder mit mitleidigem Blick an.
»Also im ersten Jahr auf dem Gymnasium, oder?«, sage ich, erleichtert, wenigstens etwas richtig verstanden zu haben.
»Zur Schule geht sie schon lange nicht mehr«, schnaubt die Mutter. »Sie haben dich doch wegen deiner Schwänzerei rausgeworfen, oder, Lilja?«
»Aber als wir uns begegnet sind, war sie gerade auf dem Weg zur Schule, um Óðinn bei einem Aufsatz über Demokratie zu helfen«, erläutere ich, wobei mir klar wird, dass Jugendliche oft in einer Welt leben, die so ist, wie sie sie gern hätten, während sie von anderen völlig anders wahrgenommen wird – und da sind sie nicht die Einzigen.
»Ich bezweifle, dass dieser Schlaumeier Hilfe von meiner Tochter benötigt«, sagt die Frau. »Bist du nicht schon im dritten Jahr, Óðinn?«
»Stimmt«, nuschelt der Junge und strafft sich.
»Oh?«, sage ich so dümmlich, dass die Frau trotz ihrer Verbissenheit grinsen muss. Ich muss jetzt mal etwas Vernünftiges von mir geben. »Aber die beiden sind ziemlich belesen«, murmele ich.
»Lilja liest viel, nur nicht die richtigen Bücher«, erwidert die Mutter resigniert und zieht seufzend den Reißverschluss ihres Anoraks auf: »Ihr seid echt unmöglich! Was soll ich nur mit dir machen, Lilja Dögg? Ich bin wirklich ratlos. Wie kannst du so was tun! Weißt du, dass ich kurz davor war, dich als vermisst zu melden? Hättest du das gewollt? Ein Foto von dir überall in der Presse?«
»Ich hab Saga doch nur geholfen«, erklärt ihre Tochter laut und deutlich.
»Schön wär’s«, meint die Frau skeptisch. »Habt ihr nicht nur einen Ort gesucht, an dem ihr miteinander schlafen könnt? Habt ihr wenigstens Kondome benutzt?«
»Mama! Spinnst du?«
»Führ dich bei fremden Leuten nicht auf wie ein Flittchen!«
»Tue ich gar nicht! Du sagst nur so absurde Sachen, weil du Saga was einreden willst, wovon du keine Ahnung hast. Weil du eine Spießerin bist und dich immer für andere schämst. Glaubst du, ich weiß das nicht?«
»Du weißt ja wohl ziemlich viel, meine Liebe«, entgegnet ihre Mutter ironisch. »Wenn ich also in Oslo wohne, wo wohnt denn dann dein Vater, Lilja?«
Da Lilja Dögg nicht antwortet, komme ich ihr zu Hilfe: »Ist der nicht obdachlos?«
Daraufhin lacht die Frau so schallend, dass ich mir wie eine Idiotin vorkomme. Ihr Lachen ist herzlich, aber laut und hallt durchs ganze Wohnzimmer. Die Müdigkeit lastet auf mir wie ein Albtraum, ich habe kaum die Energie, mir einen Stuhl zu suchen, und stütze mich auf dem Tisch ab, während die Frau ihr Lachen auskostet. Ich freue mich für sie, dass sie sich für einen Moment darin verlieren kann, obwohl sie ein Kind mit Epilepsie hat und ein weiteres, das ganz eindeutig in der Pubertät ist.
»Jón Breki!«, japst sie schließlich. »Der ist ein hohes Tier bei der Island-Bank, Spezialist für Auslandsgeschäfte, genau wie seine Frau, die schwimmen in Geld, kann ich Ihnen sagen. Was hat meine Tochter Ihnen denn noch alles erzählt?«
»Ich weiß nicht mehr genau«, antworte ich verwirrt. »Äh, warte mal, hast du nicht gesagt, er kommt mit dem Leben nicht klar?«
Lilja zuckt leicht mit dem Kopf; unmöglich zu sagen, ob sie zustimmend nickt oder den Kopf schüttelt.
»Tja, das ist wenigstens nicht ganz falsch«, kontert die Frau tadelnd, aber nicht unfreundlich, ohne den Blick von ihrer Tochter abzuwenden. »Er ist nie mit dem Leben klargekommen, das wissen wir beide am allerbesten.« Sie betrachtet ihre Tochter mit einem gewissen Stolz, darum bemüht, die Zuneigung in ihrem Blick herunterzuschrauben, schaut dann wieder zu mir und sagt mit dem Hauch eines schlechten Gewissens: »Ihre Schwester hat mir erzählt, dass Sie sich gerade erst von Ihrem Mann getrennt haben und einen epileptischen Anfall hatten. Lilja Dögg hatte Mitleid mit Ihnen, sie ist ja ein aufgewecktes Kind.«
»Ja«, sage ich, »das denke ich auch. Sie hat mir von Ihrer anderen Tochter erzählt. Tut mir leid, dass sie so krank ist.«
»Ich habe keine kranke Tochter, nur Lilja Dögg und Hilmar, ihren älteren Bruder«, antwortet die Frau so energisch, dass ich erschrecke und mich selbst eine dämliche Frage stellen höre: »War sie wegen ihrer Schwester denn nicht bei einem Erste-Hilfe-Kurs?«
Im selben Moment überkommt mich ein starkes Ohnmachtsgefühl.
»Ihr Vater hat noch eine kleine Tochter«, erklärt die Frau leicht irritiert. »Liljas Halbschwester hat schlimme Epilepsie, wahrscheinlich meinen Sie die.«
»Ja, wahrscheinlich«, sage ich, und plötzlich dreht sich alles vor meinen Augen. »Sie wollten für mich Lachs mit Avocado und Pinienkernen kochen«, erzähle ich, weit weg von mir selbst. »Sie meinten, das wäre nach den Anfällen gesund für mich.«
»Ach ja, meinten sie das? Ich weiß wirklich nicht, was die beiden Ihnen vorgeflunkert haben. Sie haben einen Ort für ihr Pärchenspiel gesucht und sich ausgemalt, sie würden Ihnen helfen. Oder was auch immer sie sich dabei gedacht haben. Vielleicht wollte Lilja Ihnen wirklich helfen, aber Óðinn, dir hätte ich so einen Schwachsinn nicht zugetraut!«
Da macht der Junge endlich den Mund auf: »Wir haben geholfen, das hat Lilja Dögg ja schon gesagt. Glaubst du wirklich, dass sie dich immer nur anlügt?«
»Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll«, entgegnet die Frau, dreht sich dann wieder zu mir und sagt: »Meine Tochter geht oft zu Jón Brekis Mutter, die ihr meistens etwas Gutes zusteckt, aber eigentlich längst in einer öffentlichen Einrichtung sein sollte. Deshalb kam ich auf die Idee, bei ihr zu suchen, und zuerst dachte ich, ihre Großmutter würde sich etwas zusammenspinnen, als sie meinte, sie hätte Lilja Dögg in Ihre Wohnung gehen sehen.«
»Verständlicherweise«, sage ich mechanisch. »Alles, was geschieht, hinterlässt Spuren.«
»Wie meinen Sie das?«, fragt die Frau, verwundert über meine Entgegnung. Aber diese Worte sind richtiger als alle anderen Worte, denke ich und halte mir die Hände vor die Augen. Die Farben um mich herum verschmelzen zu einer brennend weißen Farbe, die zweifellos richtiger ist als alle anderen Farben. »Die absolute Farbe«, sage ich und lächle die Frau an, die ratlos zu Jóhanna schaut. Die Jugendlichen entziehen sich nicht mehr, sondern mustern mich. Ich lächle auch sie an, sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Mein Atem geht furchtbar schnell, ich atme schneller, als ich kann, spähe hilfesuchend zu Jóhanna und zwinkere, die grelle Farbe brennt in meinen Pupillen. Da ist sie! Meine Schwester! Mit einem Glas Wasser und meinen Medikamenten, ich nehme sie artig entgegen, obwohl ich sie jetzt gar nicht einnehmen sollte, glaube ich. Jóhanna baut sich neben mir auf und sagt vorwurfsvoll zu der Frau: »Ich hatte Sie doch gebeten, vorsichtig mit ihr umzugehen, sie ist krank.« Dann dreht sie sich zu mir und wispert: »Traust du dir zu, mit ihr zu reden?«
»Klar doch«, lache ich auf. In meinem Bauch kitzelt es, mein Kopf ist leichter als die Luft. Lilja und Óðinn sind schön, so jung und dynamisch, und sie blicken mich erschrocken an, meinen unkontrollierten Körper in einer unkontrollierten Welt, eine Mutter ohne Kind, eine verheiratete Frau ohne Ehemann, eine Hausbesitzerin, die nirgendwo zu Hause ist.
»Alles wird gut«, höre ich mich selbst sagen. Niemand widerspricht Saga. Ich betrachte die Frau, die einmal ich war. In einer nassen Jeans und einem langen Pulli aus weicher Wolle mit V-Ausschnitt, ein dünnes Goldkettchen um den Hals, denn heute Morgen wollte sie ihren Mann verführen. »Sie ist clever, sie wollte gern clever sein«, flüstere ich mit tiefer Zuneigung, während ich mich von ihr wegbewege, ans andere Ende des Wohnzimmers. Sie redet weiter, mit geradem Rücken, nervös, ohne es sich anmerken zu lassen. Gleich verlässt sie die Bühne, noch ein, zwei Worte und dann geht das Licht aus.
Da sitzt Jóhanna in ihrem weißen Islandpullover, aufgewühlt, anstelle ihrer Schwester. Meine Zuneigung sickert durch die schneidend dicke Atmosphäre zu ihr. Und zu ihm – der neben ihr sitzt.
Da sitzen sie beide, Jóhanna und Ívar, Seite an Seite. Wo ist er hergekommen? Wollte Bergur ihn nicht im Kindergarten abholen? Ich denke nicht weiter darüber nach. Meine Familie, denke ich nur, federleicht und laut lachend, als sich der Raum mit ihnen füllt: Ívar, Jóhanna, Ívar, Jóhanna, Ívar.
»Sie besetzen alle Plätze, sind immer bei mir«, höre ich eine helle, aber kräftige Stimme sagen, der Inhalt der Worte lullt mich ein, falls es überhaupt Worte sind. Und die Sonnen lodern, sie verbrennen langsam zu kalter Kohle. Die Kohlestücke pechschwarz wie die Röhre, die urplötzlich auftaucht, sie zerrinnt kochend heiß und wird schließlich zu nichts. Das war also letztendlich der Trick, sie einfach schmelzen zu lassen. Wer schreit denn da?
Ívar und Jóhanna lächeln mich liebevoll an, beide so sanft und auch stolz, sie lassen sich von den Schreien nicht stören, und auch nicht von der Hektik all dieser aufgeregten Leute, während ich über ihnen aufsteige.
Ívar lacht aufrichtig vor Freude, so stolz auf seine Mama, sein blondes Haar ist zerwühlt, dabei sieht er schick aus in seiner weinroten Weste über dem weißen Hemd, in seiner Geburtstagskleidung, und seine braunen Augen leuchten, seine milchweißen Zähne blitzen, und ich rieche den süßen, frischen Duft meines Sohnes, wie immer, wenn er in meinen Armen schläft.
Ich strecke die Arme nach Ívar aus und taste nach ihm, spreize die Finger, so weit ich kann. Stelle mich auf die Zehenspitzen, lehne mich in seine Richtung und berühre ihn. Breche aus mir heraus, hoch oben am Rand, und erblicke die Schönheit, so gewaltig, dass mir schwindelt, spüre, wie der Sand unter meinen Fußsohlen zusammengepresst wird.
Du lachst, und deshalb stehe ich hoch oben am Klippenrand, ganz vorn, wo das Geröll in den Abgrund bröckelt, und betrachte die Schönheit, wie sie in tiefen Tälern unter steilen Bergen in der Sonne glitzert, schau, die lodernde Helligkeit, sie badet die ganze Welt, und ich sehe, ich sehe alles, so unbeschreiblich schön, dass meine Augen brennen.
Doch ich
kann nicht abstürzen
niemals
du wirst bei mir sein
immer und bis in alle Ewigkeit, wohin ich auch gehe
wart’s nur ab, mein Schatz
kann ich dich nie verlieren.
Denn wir berühren uns.