DAS, WAS WAR, DAS IST

Die fernen Berge tragen ein eisblaues Kostüm, haben das gräuliche Veilchenblau abgelegt, das sie an Sommerabenden überirdisch erscheinen lässt; die Steinfrauen, die wir so gut kennen, mit den tiefen Schneegrübchen und den Schneewehen auf den drallen Bäuchen, sie blicken über ihr Lavafeld, bis hin zum Meer, das sich übel aufführt in den Winterstürmen und hinter der großen Aluminiumfabrik bedrohlich wogt, von der Jóhanna mich lange glauben lässt, sie sei ein gestrandetes Raumschiff, voll mit Wesen aus eitergrünem Schleim, die ungezogene Kinder entführen.

Wir tasten uns näher und näher, fort von der Wildnis, in Richtung Ort, zu unserem alten Zuhause; ein flaches Reihenhaus, das zur Lavafläche hin gelegen ist.

Die bläuliche Nachmittagsdämmerung des Wintertages umspielt uns, es ist ein stürmischer Tag. Im vergangenen Sommer begann unser Nachbar, eine Garage zu bauen, aber er wurde vor dem Herbst nicht fertig, deshalb froren Stahlträger und Bretter in den ersten Herbstfrösten am Boden fest, und Betonstücke zerbröckelten und wurden zu Sand. Der Wind weht einem den Sand in die Augen, er fegt gegen die Fensterscheiben, die bei einigen Häusern schon blind sind.

Durch die blitzsauberen Küchenfenster unseres Hauses schaut man hinaus in die Lava, algenbraun und mit grauen Eisplacken bedeckt; wenn ich lange genug hinstarre, verschwimmen die moosgrünen und lehmroten Töne zu einem wabernden Grau, das mir vorkommt, als entspränge es dem Meeresboden. In der Einfahrt steht ein Lada Sport mit rostigem Auspuff, aber der rote Lack glänzt, weil Papa den Wagen jedes Wochenende poliert. Das Licht im Küchenfenster ist gemütlich, eine Kerze in einem wasserfarbenen Kerzenständer erleuchtet die Fensterscheibe, genau zwischen den Rüschengardinen, die in der Mitte hochgerafft und aus einem Stoff aus einem edlen Geschäft in der Reykjavíker Innenstadt genäht sind. Elínborg hat sie Mama zum Einzug geschenkt, als sie noch miteinander sprachen, mit den Worten, sie dürfe ihr, die sich ja nie etwas leisten könne, wohl wenigstens noch menschenwürdige Gardinen für das Haus schenken. Die Fensterscheibe ist immer geputzt, man sieht nie Schmutz darauf, denn so sind Mama und Papa, sie kümmern sich um Ihres und die Ihrigen.

»Sollen wir reingehen?«, fragt Jóhanna mit klirrend heller Kinderstimme. Ich drücke ihre Hand noch fester. Wir treten näher, öffnen die Tür, atmen den Geruch unserer Kindheit ein. Ein Geruch aus diversen Putzmitteln, köchelndem Filterkaffee, süßer Kindercreme in einer hellrosafarbenen Plastikflasche, knirschend sauberer Wäsche in einem Wäschekorb, frisch gebackenem Sandkuchen, Rauch von Salem Lights, brutzelnden Koteletts in der Pfanne; all diese Düfte vermischen sich zu unserem Geruch.

»Wo sind sie denn alle?«, frage ich vorsichtig.

»Mama brät Koteletts, aber sie kann sich nicht vorstellen, sie zu essen. Sie ist ins Badezimmer gegangen, sie sitzt auf der Klobrille, schon so lange, dass ihr Steißbein wehtut und die Koteletts verkohlt sind«, sagt Jóhanna unbewegt.

»Wartet sie auf etwas?«

»Auf die Nacht. Sie sehnt sich danach, zu schlafen, aber sie kann es nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil sie uns hat. Dich, mich und Guðni.«

»Warum will sie denn immer schlafen?«

»Das weißt du doch.«

Mein Kopf ist so schwer, dass ich ihn kaum in ihre Richtung drehen kann. Ich kann mich nicht bewegen, stecke in mir selbst fest. An diesem schrecklichen Ort. Der trotzdem so wundervoll ist, dass ich den Tränen nah bin, dieser Ort ist wir. Ich muss weinen, aber ich kann es nicht. Der Wind wird stärker, er pfeift so laut, dass ich kein Wort verstehe, obwohl wir drinnen sind. Was hat sie gesagt?

»Was hast du gesagt, Jóhanna?«

»Das weißt du genau!«, ruft ein kleines Mädchen mit Jóhannas verzerrtem Gesicht. »Sonst bist du ein Dummkopf.«

»Aber ich weiß nichts«, jammere ich.

Da wirbelt sie mich im Kreis, bis wir im Schlafzimmer unserer Eltern sind. Das Ehebett ist breit, daneben stehen zwei orangefarbene Wäschekörbe mit sauberer Wäsche, hauptsächlich Kleidung von uns Kindern. Auf Papas Seite ist ein Nachttisch mit einem Radiowecker und zwei Büchern: Candide oder der Optimismus und ein Thriller von Alistair MacLean. Auf Mamas Seite steht ein Wickeltisch, beladen mit ordentlich gefalteter Babykleidung, Puder, Kinderöl und Cremes. Vor dem Fenster hängen ebenfalls Gardinen von Elínborg aus feinem Stoff, dunkelrosa mit weißen Streifen, sie sind nicht in der Mitte hochgerafft, sondern lang und zugezogen.

Ich sitze mit Guðni auf dem Arm unter einer Daunendecke mit einem grün gestreiften Bettbezug, der nach Mama und Baby riecht. Guðni kommt mir fast genauso groß vor wie ich, er ist schwer und lässt sich kaum ruhig halten, aber er ist erst ein Jahr alt, viel jünger als ich, ich bin gerade vier geworden und soll auf ihn aufpassen.

»Jóhanna, ich will nicht hier sein, ich kann das nicht«, flehe ich. »Bitte!«

»Du hast versprochen, mir zu vertrauen!«, erwidert sie eisern.

Plötzlich ertönt ein krachender Knall, und Mama schreit. Die Schallwellen pumpen Schleim in unsere Ohren, er verstopft frostig kalt die Adern. Mein Herz pocht, es schlägt mal zu schnell, mal zu langsam. Der Moment will nicht vorübergehen, er vergeht trotzdem, die Minuten kriechen vorwärts, ich will nicht existieren. Ich rufe nach Jóhanna, aber man hört mich nicht.

»Ich muss ihr helfen«, sagt Jóhanna hastig.

»Nein, bitte geh nicht!«

»Pass auf Guðni auf, ich muss Mama helfen, damit er sie nicht umbringt«, schärft sie mir leise und atemlos ein.

»Jóhanna, warte!«

»Was ist denn?«

»Woher soll ich wissen, dass es haargenau so war? Du warst noch ein Kind!«

»Ich weiß nun mal, was ich weiß, das kann dir kein anderer sagen. Keiner!« Die erwachsene Jóhanna herrscht mich von oben herab an, obwohl sie eigentlich nett sein möchte, weil ich trotz allem ihre kleine Schwester bin.

Sie scheint sich der Schwere ihrer Worte bewusst zu sein, als sie meine Hand loslässt und das Gesicht in den Händen vergräbt. Wir sitzen beide wortlos auf dem Rand meines alten Doppelbetts in der Miklabraut, von den Umständen gezwungen, zu zweit dort zu sitzen, trotzdem fühlt es sich so an, als wäre unser gesamtes Leben auf diesen Moment zugesteuert.

»Was ist dann passiert?«, frage ich nach langem Schweigen. Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich habe das Gefühl, sie nicht kontrollieren zu können, sie kleben an meiner Zunge, wie bei meinem letzten epileptischen Anfall.

»Er stürzte sich auf sie, wie immer, wenn er trank.«

»Immer?«

»Ja, aber er trank nicht oft«, sagt meine große Schwester, die noch so klein war, als sie Papa rüber zu dem Taxifahrer huschen sah, der direkt neben uns in einem kleinen, heruntergekommenen Einfamilienhaus wohnte, umgeben von rostigem Schrott, Holzbrettern und Radkappen, und Papa Selbstgebrannten verkaufte. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, was beim letzten Mal passiert war, als er sich wie ein räudiger Hund zum Nachbarhaus geschlichen hatte. Es war so viel passiert, dass sie gedacht hatte, er würde nie wieder dorthin gehen. Sie hatte sich gewünscht, dass der Taxifahrer einen schrecklichen Autounfall haben und einfach verschwinden würde. Doch wie sehr sie sich auch anstrengte, den Lauf der Dinge mit der Kraft ihrer Gedanken zu steuern, sie konnte ihn nicht aufhalten. Ihr Zuhause war ein kaputtes Flugzeug, das mit blinkenden Warnlampen abhob.

Papa war gut, so sanft und der Netteste von allen, wenn er gute Laune hatte und lustige Geschichten erzählte und mit seinen Kindern herumalberte wie ein kleiner Junge, sie liebte ihn genauso doll wie ihre Mama. Aber er war wie besessen, wenn er trank, das hatte Mama gesagt, und Jóhanna fand das auch. Mutter und Tochter waren sich einig, dass der Alkohol ihn gespenstisch machte. Deswegen dachte Jóhanna, er würde begreifen, dass er nie wieder trinken durfte, nachdem die Gespenster kurz nach Guðnis Geburt mit ihm durchgegangen waren.

Dann kam der besagte Tag. Sie hatte sich lange darauf gefreut, auf den Spielzeugtag, an dem alle Kinder ihr Lieblingsspielzeug mit in die Schule nehmen durften. Natürlich nahm sie Dísa mit, ihre Puppe. In echter Kinderkleidung. Einem lilafarbenen Baumwollstrampler mit einer Windel und rosafarbenen Schühchen. Früh am Morgen hatte schon die Sonne geschienen, Sonne und Schnee, was den Tag so leuchtend hell machte, dass er einfach schön werden musste. Doch dann dämmerte es.

Die Luft war frostig, und Papa stieß Atemwölkchen aus, als er in seinem dünnen Hemd nach drüben zu dem Taxifahrer huschte. In den letzten Wochen war er so übellaunig gewesen, dass sie ihm aus dem Weg gegangen war. Er schimpfte mit ihr, einfach so, oder wenn er selbst etwas falsch gemacht hatte, zum Beispiel seine Autoschlüssel verlegt oder vergessen hatte, den Käse in den Kühlschrank zu stellen.

Sie hatte längst geahnt, dass er sich bald wieder zum Nachbarhaus schleichen würde. Sie behielt ihn genau im Auge, wollte aber möglichst wenig mit ihm zu tun haben und versuchte lieber, ihrer Mutter mit Saga zu helfen. Die war von allen am frechsten und so zerstreut, dass es immer damit endete, dass Jóhanna ausgeschimpft wurde, dabei hatte sie doch nur auf die anderen aufgepasst.

Ihr innerer Seismograf sagte ihr, dass die Spannung kurz davor war, aus ihrem Vater herauszubrechen, obwohl er nett sein wollte – sie wusste, dass er das wollte.

Doch die Spannung stieg, bis sie ihn unter Kontrolle hatte und er nicht mehr zurechnungsfähig war.

Die Wirklichkeit war genauso unverrückbar wie unsere Schubkarren, die am Boden festgefroren waren, es gab keinen Weg hinaus. Das kleine Mädchen tut mir leid, aber ich frage trotzdem: »Hat er Mama wirklich geschlagen? Hat er nicht nur rumgeschrien?«

»Ich weiß noch, wie er drohend über ihr stand und sie anschrie und ich versuchte, ihn davon abzuhalten«, antwortet sie nervös. »Im Jahr davor habe ich Knochen brechen gehört, als er sie vorne im Flur schlug, glaube ich jedenfalls, ich war ja noch so klein. Manchmal glaube ich, dass er …«

»Was?«

Das kleine Mädchen verschwindet, und Jóhanna schaut mich an, als wäre ihr übel von ihren eigenen Worten. »Manchmal glaube ich, dass er sie vergewaltigt hat«, sagt sie schließlich, schnell, als ekele sie sich vor ihrer eigenen Aussage. Sie verstummt und fügt dann zögernd hinzu, sie habe immer noch die Geräusche im Ohr. Aber sie wisse es trotzdem nicht genau. Sie habe sich immer das Allerschlimmste ausgemalt, wenn sie den Lärm gehört habe, die Geräusche hätten widerwärtige Bilder in ihrem Kopf erzeugt.

»Ich weiß nicht, was ich wirklich gehört habe«, sagt sie, »nur was ich meine gehört zu haben. Aber ich glaube, dass ich mehr gesehen habe, als ich heute noch weiß.«

Eine unbändige Wut überkommt mich, so heftig, dass ich Jóhanna am liebsten treten würde. Sie wegstoßen würde! Sie soll diese schrecklichen Dinge nicht übertreiben, wenn sie noch nicht einmal weiß, ob sie tatsächlich geschehen sind. Doch Jóhanna ist in ihrer eigenen Welt und registriert meine Abwehrhaltung nicht. Oder vielleicht ist sie auch einfach nur fest entschlossen, alles loszuwerden. Sie erzählt, als sie Jahre später mit Mama darüber sprechen wollte, habe die ihr gesagt, sie solle nicht solchen Unsinn reden. Man habe das Thema nicht antasten dürfen. Papa habe aufgehört zu trinken, und Mama sei nicht in der Lage gewesen, über irgendetwas nachzudenken.

»Klar weiß ich, dass sie sich gestritten haben«, werfe ich ungeduldig ein, »aber es weiß doch keiner …«

»Doch«, erwidert Jóhanna barsch und behauptet, sie habe unserer Tante Elínborg alles erzählt. Außerdem habe unsere Mutter Elínborg einiges über Papa anvertraut, kurz bevor sie aufgehört hätten, miteinander zu reden, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber sie habe es bereut, wahrscheinlich könne Elínborg nichts für sich behalten.

Jóhanna lächelt zerknirscht und gibt zu, man könne unmöglich rekapitulieren, was Mama und was sie selbst Elínborg erzählt habe. Mama habe immer so getan, als würde Jóhanna sich das alles nur einbilden und Elínborg sie verspotten.

»Aber Elínborg hat mir dabei geholfen, mich an alles zu erinnern, und mir eingeschärft, ich dürfe die Gewalt nie vergessen«, verkündet Jóhanna feierlich.

»Hat sie dir geholfen, oder hat sie dir Bilder in den Kopf gesetzt?«, frage ich übertrieben schroff. »Du weißt ja, dass sie Papa nie leiden konnte, sie war immer eifersüchtig auf ihn.«

»Behauptet Mama.«

»Sie war es, Jóhanna. Sie hat immer nur schlecht über ihn geredet.«

»Behauptest du, dabei warst du gerade mal vier Jahre alt, als sie aufhörten, miteinander zu reden. Elínborg hätte sich gewünscht, dass Mama einen anderen Mann geheiratet hätte, weil sie sah, welche Wirkung der Alkohol auf ihn hatte.«

»Behauptest du, die noch gar nicht auf der Welt war, als sie sich kennenlernten«, entgegne ich und habe wieder dieses heftige Gefühl, das sich in meinen Gliedmaßen einnistet; den unerträglichen Drang, auf meine Schwester einzuprügeln.

»Dann schau doch hin!«, sagt sie plötzlich ungeduldig und reißt mich so brutal in ihre Erinnerung hinein, dass sie zu unserer gemeinsamen Erinnerung wird.

»Mama, ist dir schlecht?«, heult sie, aber ich kann mich nicht rühren. Starre die beiden nur reglos an, während die dumpfen Schläge gegen die Tür hämmern. Er wird sie aufbrechen, um zu uns zu gelangen. Mama sagt »Schsch, schsch, schsch, meine Süße« zu Jóhanna, die sich nicht beruhigen lässt. Es knallt laut, als die Tür nachgibt und ein Stück Holz aus dem Türrahmen bricht. Wir schreien alle auf. Guðni schluchzt, winzig klein, an Mamas Brüste gepresst, die schwer von Milch sind und ihr Nachthemd durchnässen. »Hau ab!«, brüllt Mama. »Siehst du deine Kinder nicht?«

Aber er sieht uns nicht. Er packt Mama so brutal, dass er erst zwei Monate nach der Geburt des nächsten Kindes – Katrín Bjarnadóttir – wieder Alkohol trinkt. Da hat Mama dann nicht mehr versucht, sich mit uns Kindern einzuschließen, sondern sich in die Höhle des Löwen geworfen, in der Hoffnung, dass wir nicht mit ansehen müssen, wie er sie misshandelt.

War es so? Ich versuche, mir aus Jóhannas Worten ein Bild zusammenzureimen. Spüre die sich nähernde Bedrohung, die Angst frisst mich von innen auf, dreißig Jahre später. Seltsamerweise finde ich meine Reaktion in dieser Situation genau passend, als hätte ich an einem Schauspielkurs teilgenommen und gelernt, wie ich mich fühlen soll, wenn mir jemand eine solche Geschichte erzählt wie jetzt Jóhanna.

Aber eine Sache ist präsenter als alles andere, und an die habe ich immer vermieden zu denken. Ich presse die Augen zu und öffne sie dann wieder, schaue hin, ohne mich wegzudrehen. Zappelnde Kinderbeine in hellrosafarbenen Schühchen. Mama hat die Schühchen gehäkelt, ich darf die kleinen Füße darin betasten, und dabei lächelt etwas Uraltes und Verlorenes in mir.

Ich zähle die Zehen in den Schühchen, zehn kleine Zehen, ich lache laut und atme ihren Duft ein, den süßlichen Geruch nach Säugling und Babypuder. Ich sehe nur den Fuß, aber nicht ihr Gesicht. Katrín, meine neue Schwester.

Mir schwindet die Kraft, ich kann nicht mehr hinschauen und senke den Blick.

»Du erinnerst dich an sie, oder?«, flüstert Jóhanna, stille Trauer leuchtet in ihren dunklen Augen. »Sie war so schön, ganz klein mit vielen Haaren und winzigen Händen, fast zwei Monate alt. Wir haben sie gedrückt, bis Mama mit uns geschimpft hat. Wir hatten sie so lieb. Ich weiß noch, wie du gesagt hast: Ich liebe Katrín. Wir haben so viel gelacht, damals. Mama und wir. Und Mama hat dir erlaubt, sie zu halten, wir haben dir geholfen, ihren Kopf zu stützen. Wir fanden, dass sie so gut roch, weißt du noch?«

»Nein«, sage ich, obwohl ich es noch weiß.

»Weißt du das wirklich nicht mehr?«

Tränen pressen gegen meine Augäpfel, meine Augen brennen, meine schwere Brusthöhle tut wahnsinnig weh.

Papa beugt sich mit rot unterlaufenen Augen wutschäumend über Mama, die zusammengekrümmt auf dem Boden liegt, um sie herum sind steingraue Wände, er ist im Begriff, sie zu treten. »Nein!«, brülle ich. Jemand umfasst mich. Ist es Jóhanna? Ein Baby mit gesichtslosem Kopf lallt mich an. Ist das Katrín oder meine Einbildung?

Jóhanna soll auf ihre kleine Schwester aufpassen, die in der Wiege liegt und eine verstopfte Nase hat, weshalb man ihren Kopf stützen muss, indem man ein Kissen unter die Matratze schiebt.

Mama hat Jóhanna beigebracht, ihr den Rotz aus der Nase zu saugen, nicht kräftig, aber kräftig genug, und sie findet das nicht eklig. Wir finden es beide lustig. Manchmal saugen wir Guðni auch Rotz aus der Nase, der ist nur ein gutes Jahr älter als Katrín. »Unmöglich, fast wie irische Zwillinge!«, schimpft Mama im Scherz, wenn die Nachbarin Gurra und sie ausnahmsweise einmal Zeit haben, bei Salem Lights und einer Tasse Kaffee zusammenzusitzen.

Jetzt sind die Geräusche aus Katríns Nase so laut, dass Jóhanna sie andauernd freisaugen muss. Aber es ist nicht lustig. Guðni weint, und ich weine auch. So ist es immer, wenn Mama und Papa sich streiten.

Das Entsetzen kratzt an den Eingeweiden. Ich will es trotzdem sehen, alles. Ich spüre diesen unerträglichen Schmerz, aber der Auslöser ist ganz weit weg. Warum sehe ich nicht dasselbe wie Jóhanna?

Jóhanna streicht mir über die Wange. »Weil wir vergessen mussten, um weiterleben zu können«, sagt sie liebevoll. »Und wir haben es sogar geschafft. Alle außer Mama. Sie verschwand immer im Herbst, wenn es dunkler wurde. Das weißt du doch.«

»Ja«, sage ich und spüre, dass ich es weiß. Ich möchte mich an sie lehnen, aber ich kann mich nicht bewegen.

»Es war genau diese Zeit im Jahr«, fährt Jóhanna fort. Sie zögert kurz, reißt sich dann zusammen und erzählt von dem Moment, an dem sie Papa zum Haus des Taxifahrers gehen sah und sofort wusste, dass die Nacht schlimm werden würde, obwohl er so etwas lange nicht mehr gemacht hatte, während der gesamten Zeit nicht, als Mama Katrín im Bauch trug.

Sie verstummt und reibt sich die Augen. Lächelt verständnisvoll, als ich es wage zu fragen: »Inwiefern war die Nacht schlimm?«

»Du hast auf die beiden aufgepasst, weil ich aus dem Zimmer gelaufen war«, sagt sie eindringlich. »Du hast versucht, alles genau so zu machen wie ich, hast du mir später erzählt, weil ich die Einzige war, die dich verstand. Du hast dich auf das Bett neben die Wiege gekniet und dich bemüht, nicht runterzufallen, während du versuchtest, ihr den Rotz aus der Nase zu saugen, genau so, wie ich es gemacht hatte, obwohl du selbst noch so klein warst. Ängstlich, wenn versehentlich Spucke in ihre Nase kam, ängstlich, unserer kleinen Schwester wehzutun. Aber die Geräusche kamen nicht aus ihrer Nase. Woher sollten wir das denn wissen?

Guðni lag weinend im Ehebett, und du hast überlegt, wie du ihn in das Gitterbettchen bugsieren könntest, hast dann aber gesehen, dass du dafür zu klein warst, also hast du dich wieder Katrín zugewandt und versucht, sie zum regelmäßigen Atmen zu animieren, du wurdest laut, aber es brachte nichts, und dann hast du nach uns gerufen, als ihr Atem japsend wurde wie Hundegebell.

Aber niemand hörte dich. Ich hatte dich angewiesen, im Schlafzimmer zu bleiben, während ich Mama retten wollte. Sie rettete uns alle, weil Papa verloren war, ganz tief in seinem dämonischen Innenleben. Katrín versuchte verzweifelt, Sauerstoff einzusaugen, sie bekam keine Luft, völlig entkräftet, aber wie solltest du verstehen, was passierte? Du versuchtest, sie zu beruhigen, so wie du dich selbst am liebsten beruhigen ließest. Guðni brüllte, während du dich bemühtest, ihren Kopf richtig zu halten, damit du sie auf den Arm nehmen konntest. Ihre Lippen wurden blau, du riefst, niemand hörte dich.«