ABENDBROT

Es war kurz vor den Abendnachrichten, und die Familie saß wie immer am Küchentisch, jeder auf seinem Platz. Es herrschte nicht das übliche Durcheinander, Mamas Genörgel und Papas Gerede und unser Gequengel, jetzt war nichts.

Nur der Radiosprecher las alles vor, was an diesem Tag irgendwo passiert war und uns nichts mehr anging.

Guðni spielte unbehelligt mit seinem Essen, weil Mama ihn nicht mehr zur Ordnung rief. Er spritzte Milch über mein Schellfischpüree, während ich ganz darin versunken war, jeden Bissen anzustarren, bevor ich ihn in die Tomatensoße tunkte und mir in den Mund schob, als wollte ich überprüfen, ob er echt war. Draußen war es schon zu dunkel, um mich durchs Fenster ins Koma zu starren, erst am nächsten Tag würde ich dem Wachsein wieder entfliehen können. Für einen Augenblick, einen lang ersehnten Augenblick. Ich sehnte mich danach, mir selbst zu entkommen, obwohl ich gerade erst zu begreifen begann, wer ich eigentlich war: Saga, Jóhannas kleine Schwester, Guðnis große Schwester.

Ich verstand nicht, warum es so deprimierend war, ich zu sein, fand es nur schlimm, überhaupt zu existieren. Ich wollte etwas Nettes zu Mama sagen, spürte aber, dass sie nicht wollte, dass ich etwas sagte. Jóhanna kapierte das nicht, sie redete viel und laut mit offenem Mund, während sie schmatzend aß, aber niemand hörte ihr zu, wir hörten nicht, was sie sagte. Ich kaute meinen breiigen Fisch, leise, damit man mich auch ganz bestimmt nicht hören würde. Dabei wusste ich, dass Mama mich nicht zurechtweisen würde, selbst wenn sie mich hören würde. Ich hoffte sogar, dass sie irgendwann wieder mit mir schimpfen würde.

Auf einmal hörten wir doch, was Jóhanna sagte. So laut und deutlich, dass unsere Trommelfelle platzten. Sie sagte: »Du wirst nicht immer so traurig sein, Mama. Versprochen.«

Auf ihrer Wange klatschte es laut, als Mama sie blitzschnell ohrfeigte. Dann war alles wieder so, als wäre nichts geschehen. Mama versank in sich selbst und hantierte zitternd mit ihrem Besteck, darum bemüht, ihre unkontrollierten Bewegungen zu fokussieren. Alles, was vom Alltäglichen abwich, war dazu verurteilt, unsere Einbildung zu sein. Die Ohrfeige war unsere Einbildung, genau wie Jóhanna, die auf ihren Teller starrte, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

»Peng!«, rief Guðni und schlug mit der Kindergabel auf das Tischchen an seinem Kinderstuhl. Er lachte so schallend, dass Papa das Radio lauter drehte. Mama stand auf, gespielt gleichgültig, und sagte, sie sei müde. Ich hatte versucht, mir anzugewöhnen, mit derselben antrainierten Gleichgültigkeit zu sprechen, trotzdem schlug mein Herz schwer und schnell, als ich zu Jóhanna blickte und verkündete, ich sei auch müde.