SCHLÜSSELFIGUR
Andreas Vesalius (1514–1564)
FRÜHER
um 1600 v. Chr. Der Papyrus Edwin Smith aus dem alten Ägypten beschreibt zahlreiche menschliche Organe.
2. Jh. n. Chr. Galen begründet die Anatomie, indem er detaillierte Präparationen an Tieren durchführt.
SPÄTER
1817 Der französische Naturforscher Georges Cuvier teilt Tiere nach ihrem Körperbau in Gruppen ein.
1970er Die Erfindung von MRT (Magnetresonanztomografie) und CT (Computertomografie) erlaubt detallierte, nicht invasive Analysen der Anatomie von Menschen und Tieren mithilfe von Scannern.
Die grundlegenden Eigenschaften des menschlichen und des tierischen Körpers kennt man wohl schon seit prähistorischen Zeiten. Viele Ärzte im antiken Griechenland und Rom wussten, dass Anatomiekenntnisse entscheidend sind für eine wirksame Behandlung. Dennoch war es lang nicht klar, dass die menschliche Anatomie im Detail nur verstehen kann, wer den menschlichen Körper selbst studiert.
Heute erscheint das selbstverständlich. Doch als der flämische Arzt Andreas Vesalius im 16. Jahrhundert zum ersten Mal Leichen sezierte, um den menschlichen Körper zu studieren, war es revolutionär. Ärzte glaubten damals nicht an Sektionen. Sie dachten, sie könnten das meiste, was sie wissen mussten, den Werken des römischen Arztes Galen entnehmen. Aber Vesalius bestand auf soliden Beobachtungen des Originals. So veränderte er unser Wissen über den menschlichen Körper fundamental.
Vesalius hat im Detail die Unterschiede in der Anatomie von Menschen und Tieren herausgearbeitet, aber auch, was sie gemeinsam haben. Das Wissen um die anatomischen Variationen zwischen den Arten begründete die Wissenschaft der vergleichenden Anatomie. Tiere konnten nun in Gruppen verwandter Arten eingeteilt werden. Dies wiederum bereitete die Basis für die Evolutionstheorie des britischen Naturforschers Charles Darwin.
»Nichts wurde in unserer Zeit so zerstört und dann ganz wieder aufgebaut wie die Anatomie.«
Andreas Vesalius
Ein Problem für die frühen Anatomen war das Tabu, menschliche Leichen zu zerschneiden. Der griechische Anatom Alkmaion suchte einen Ausweg, indem er Tiere sezierte. Im folgenden Jahrhundert bildete die Stadt Alexandria eine Ausnahme: Die dortigen Anatomen durften menschliche Leichen sezieren. Einer von ihnen, Herophilos, machte viele Entdeckungen. Er behauptete zu Recht, dass das Gehirn und nicht das Herz der Sitz der menschlichen Intelligenz ist, und er identifizierte die Funktion der Nerven. Herophilos ging aber selbst für alexandrinische Vorstellungen zu weit, als er Sektionen an lebenden Kriminellen durchführte.
Galen stützte sich stark auf das Werk von Herophilos. In seine einflussreichen Werke Über die Verfahrensweise beim Sezieren und Über den Nutzen der Körperteile flossen aber auch eigene Resultate aus der Sektion und Vivisektion von Tieren ein. Eine seiner wichtigsten Entdeckungen war die Feststellung, dass Arterien mit fließendem Blut gefüllt sind, und nicht mit Luft, wie man zuvor geglaubt hatte. Seine Rolle als leitender Gladiatorenarzt erlaubte ihm tiefe Einblicke in schreckliche Kampfwunden.
Sein Werk war so detailliert und umfassend, dass Galens Ruf für die nächsten 1400 Jahre unantastbar blieb. Noch zu Vesalius’ Zeit lasen Dozenten aus den Werken von Galen vor, um Studenten zu unterrichten, während im Hintergrund Handwerkschirurgen die Leichen hingerichteter Verbrecher zerteilten und Assistenten auf die Merkmale deuteten, die der Dozent beschrieb. Dabei galt, dass Galen immer recht hat, auch wenn der Text nicht übereinzustimmen schien mit dem, was die Studenten an der Leiche sahen.
Vesalius bei der Sektion einer Frauenleiche an der Universität Padua (16. Jh.). Diese Sektionen zogen oft Scharen von Studenten und anderen Schaulustigen an.
Vesalius stellte Galen schon zu Beginn seiner Karriere infrage. Er hatte seine medizinische Ausbildung in Paris begonnen, wo die Anatomen Galen alles glaubten, und der Mangel an praktischen Anatomiekursen frustrierte ihn. Um zu promovieren, ging er nach Padua. Dort sezierte er Leichen, um Anatomie aus erster Hand zu lernen. Er hatte ein scharfes Auge für Details und fertigte akkurate Zeichnungen des Blutgefäß- und des Nervensystems an.
Seine Streitschrift von 1539, die das Blutgefäßsystem im Detail zeigte, hatte unmittelbaren Nutzen für Ärzte, die wissen mussten, wie man einem Patienten Blut abnimmt. Damals stand der Aderlass im Herzen der medizinischen Praxis. Vesalius’ Ruhm wuchs, und er wurde nach der Promotion zum Professor der Chirurgie und Anatomie ernannt. Ein Richter der Stadt Padua garantierte ihm Nachschub an Leichen – die Körper gehängter Verbrecher. So verfügte Vesalius über genügend Sektionsmaterial für die Forschung und für Demonstrationen vor Studenten.
Insgesamt fand Vesalius mehr als 200 Fehler in Galens Texten – sehr zum Verdruss derjenigen, die ihn über jede Kritik erhaben wähnten. Er fand zum Beispiel heraus, dass das menschliche Sternum (Brustbein) drei Teile hat, nicht sieben, wie Galen behauptet hatte. Vesalius zeigte, dass die beiden Unterschenkelknochen Tibia und Fibula länger sind als der Humerus (Oberarmknochen), von dem Galen behauptet hatte, es sei der zweitlängste Knochen des Menschen (nach dem Oberschenkelknochen, dem Femur). Vesalius demonstrierte auch, dass der Unterkiefer aus einem einzigen Knochen besteht, nicht aus zweien, wie Galen geschrieben hatte. Galens Irrtümer rührten nicht von Schlamperei her, sondern waren der Tatsache geschuldet, dass er keine menschlichen Körper hatte präparieren dürfen. Er war gezwungen, auf Ochsen und Affen zurückzugreifen, was die meisten Fehler erklärt.
1542 fasste Vesalius seine Entdeckungen zu einem umfassenden Anatomie-Lehrbuch zusammen. Ein Jahr lang präparierte er Leichen, teils bei sich zu Hause, teils im Atelier eines Künstlers, und ließ von jedem Teil der menschlichen Anatomie Holzschnitte anfertigen. Seine Präparationen waren detailliert und präzise und er wollte, dass die Illustrationen diesem Standard entsprachen. Vesalius setzte die Schnitte so, dass man die Merkmale, auf die es ihm ankam, deutlich sah. Manchmal fixierte er die Leichen mithilfe von Schnüren, um sie im besten Winkel zeichnen zu lassen.
»Aus der Sektion eines lebenden Tiers [können wir] die Funktion jedes Teils herausfinden oder zumindest Informationen gewinnen, die uns helfen, diese Funktion zu erschließen.«
Andreas Vesalius
Niemand weiß, wer der Künstler oder die Künstler waren, die ihm halfen, aber die Illustrationen gelangen meisterhaft. Einige der ersten Skizzen mag Vesalius selbst angefertigt haben, er war ein begabter Zeichner. Historiker glaubten früher, dass der in Deutschland geborene Stephan von Kalkar der Illustrator war, aber er hat wahrscheinlich nur Vesalius’ erste Streitschrift Tabulae anatomicae (1538) illustriert. Die Illustrationen des Lehrbuchs sind wahre Meisterwerke der Renaissancekunst: Jede anatomische Figur posiert anmutig wie eine klassische Statue in einer klassischen Landschaft und wirkt dabei wie ein lebender Mensch. Vesalius präsentierte Anatomie nicht als Produkt grausamer Metzelei, sondern als edle Wissenschaft. Jeder, der diese Präparate betrachtet, kann die komplexe Schönheit der Körperstrukturen erkennen.
Ausgehend von den Zeichnungen, fertigten Kunsthandwerker reliefartige Druckplatten aus Birnenholz an. Vesalius schaffte die Blöcke 1543 von Venedig über die Alpen bis nach Basel in der Schweiz, um sein großes Werk druckfertig zu machen: De Humani Corporis Fabrica (Vom Aufbau des menschlichen Körpers), oft De Fabrica abgekürzt.
De Fabrica löste eine wissenschaftliche Revolution aus. Es verschaffte Ärzten erstmals ein weithin akkurates und detailliertes Bild der menschlichen Anatomie. Anstelle von Buchweisheit und abstraktem Denken stellte es die Beobachtung in den Vordergrund. Mehr noch, es legte die Grundlage dafür, dass die Medizin eine Wissenschaft wurde.
Vesalius’ Techniken und die Details seiner Beobachtungen waren wegweisend für spätere Generationen von Anatomen. Sie trugen 80 Jahre später dazu bei, dass der englische Arzt William Harvey den Blutkreislauf entdeckte. Harvey studierte in Padua und ließ sich nicht nur von Vesalius’Abbildungen von Blutgefäßen inspirieren, sondern auch von der Idee, an echten Körpern zu experimentieren. Harvey stützte sich dabei auch auf den italienischen Tierarzt Carlo Ruini und seine Beschreibung der Einwegventile im Herzen eines Pferds, die 1598 in Ruinis Werk Anatomia di Cavallo (Anatomie des Pferdes) publiziert worden war.
Weitere Erkenntnisse brachte die Erfindung des Mikroskops, das winzige anatomische Details enthüllte. 1661 beschrieb der italienische Biologe Marcello Malpighi die Kapillargefäße, um dieselbe Zeit entdeckte der dänische Arzt Thomas Bartholin das lymphatische System. Weitere Fortschritte kamen mit bildgebenden Verfahren, die die anatomische Untersuchung lebender Personen möglich machen.
Technische Verbesserungen haben nach und nach den menschlichen Körper in ein Territorium verwandelt, das mit demselben Eifer kartiert werden kann, wie es Forschungsreisende bei der Ankunft in neuen Ländern tun.
Diese Illustration aus Vesalius’ De Humani Corporis Fabrica zeigt die großen äußeren Muskelgruppen des menschlichen Körpers. Solche Detailtreue war nur möglich, weil Vesalius menschliche Leichen sezierte.
Andreas Vesalius
Vesalius wurde 1514 als Andries van Wesel in Brüssel geboren, damals Teil des Heiligen Römischen Reichs. Sein Großvater war Leibarzt von Kaiser Maximilian. Vesalius studierte Kunst in Leuven (heute Belgien) und Medizin in Paris und im italienischen Padua. 1537 wurde er dort am Tag seiner Promotion zum Lehrstuhlinhaber für Chirurgie und Anatomie ernannt, gerade 23 Jahre alt. Seine Anatomievorlesungen wurden so berühmt, dass ein Richter der Stadt ihn mit Leichen gehängter Verbrecher versorgte. Vesalius tat sich mit den besten italienischen Künstlern zusammen, um 1543 De Fabrica zu veröffentlichen, sein siebenbändiges Anatomiebuch, das Mythen zertrümmerte. Bald danach gab er seine Professur auf und wurde Leibarzt von Kaiser Karl V., später von König Philip II. von Spanien. 1564 starb er auf der griechischen Insel Zakynthos auf dem Heimweg von einer Reise ins Heilige Land.
Hauptwerk
1543 De Humani Corporis Fabrica (Vom Aufbau des menschlichen Körpers)
Vergleichende Anatomie
Die anatomischen Zeichnungen eines Orang-Utans (links) und eines Menschen zeigen, wie ähnlich die Proportionen beider Arten sind.
Vesalius’ Einsichten in die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Menschen- und Tieranatomie führten zur Entwicklung der Vergleichenden Anatomie. Diese Disziplin beschrieb unerwartete Verwandtschaften zwischen Arten.
Der englische Arzt Edward Tyson (1651–1708) zum Beispiel, der oft als der Begründer der Vergleichenden Anatomie gilt, zeigte, dass Menschen mit Menschenaffen anatomisch mehr gemeinsam haben als mit anderen Affen. Mittels der Vergleichenden Anatomie wurden die Tiere in die Gruppen eingeteilt, die wir heute noch kennen. 1817 teilte Georges Cuvier die Tiere nach ihrem Körperbau in vier große Gruppen auf – Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere und Strahlentiere. 40 Jahre später zeigte Charles Darwin, dass anatomische Variationen den allmählichen Änderungsprozess enthüllen, der für seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion zentral ist. Menschen sind darin nur ein Teil eines großen tierischen Spektrums.