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LEBEN IST KEIN WUNDER

LEBEN ERSCHAFFEN

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Stanley Miller (1930–2007), Harold Urey (1893–1981)

FRÜHER

1828 Friedrich Wöhler stellt Harnstoff her. Zum ersten Mal wird eine organische Chemikalie synthetisiert.

1859 Louis Pasteur zeigt, dass Leben nicht sponan aus Luft oder toter Materie entstehen kann.

1924, 1929 Alexander Oparin und J. B. S. Haldane sprechen sich für eine Abiogenese aus.

SPÄTER

1968 Leslie Orgel meint: Leben begann mit RNA.

1993 Michael Russells These: Leben begann rund um hydrothermale Schlote.

2010 Craig Venters Team erschafft einen synthetischen Organismus.

Leben ist das großartigste Phänomen auf Erden und vielleicht im Universum. Soweit wir wissen, entstand das Leben durch eine zufällige Verbindung komplexer Chemikalien. Dabei entstanden organische Strukturen, die nicht nur wachsen, sondern sich auch selbst reproduzieren konnten. Wissenschaftler haben lang gerätselt, wie dieses Ereignis geschehen konnte und ob es im Labor wiederholt werden kann. Dann könnte man Leben neu erschaffen.

In den 1920er-Jahren stellten Wissenschaftler Pasteurs Widerlegung der spontanen Entstehung von Leben wieder infrage. Der sowjetische Biochemiker Alexander Oparin und der britische Genetiker J. B. S. Haldane sprachen sich für eine Abiogenese aus – für die Idee, dass Leben aus unbelebter Materie entstanden ist. Konnten komplexe organische Chemikalien sich von selbst zusammenbauen?

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Organische Materie

In einem berühmten Experiment testeten die amerikanischen Chemiker Stanley Miller und Harold Urey 1953 die Oparin-Haldane-Theorie. Sie ahmten die »Ursuppe« nach, die nach damaliger Vorstellung in den Kindertagen der Erde die Atmosphäre bildete. Dann wollten sie testen, ob Blitze in einer so dichten Atmosphäre genügend Energie bereitstellen können, um die richtigen Moleküle zusammenzubringen.

Miller und Urey versiegelten eine Glasflasche mit all den Gasen, die die ursprüngliche Atmosphäre der Erde enthalten haben soll – Ammoniak, Methan, Wasserstoff – und fügten Wasserdampf hinzu. Dann schossen sie elektrische Funken in das Gasgemisch.

Nach einem Tag wurde das Wasser rosa. Nach einer Woche verwandelte es sich in ein tiefrotes, dickes Gebräu. Als er es analysierte, fand Miller fünf Aminosäuren – kohlenstoffbasierte Bausteine von Proteinen. Im Jahr 2007 zeigte eine erneute Analyse der Geräte des Originalexperiments mit modernen Techniken, dass Miller mindestens 13 Aminosäuren erzeugt hatte.

Miller und Urey hatten bewiesen, dass organische Chemikalien auf nicht organische Weise hergestellt werden können. Ähnliche Experimente brachten Kohlenhydrate hervor und sogar Proteine.

Die Erzeugung einfacher Chemikalien, die man für Leben braucht, ist also nichts Besonderes. Sie passiert vermutlich in diesem Moment vielerorts im Universum. Wissenschaftler schätzen, dass Kometen die frühe Erde mit Millionen Tonnen organischer Chemikalien eingestäubt haben. Doch es ist ein großer Sprung von Proteinen zu einem reproduktionsfähigen Molekül und ein Riesensprung zu einer lebenden Zelle.

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In der Theorie der RNA-Welt ist RNA das entscheidene Bindeglied zwischen Ursuppe und ersten Zellen. Wir wissen, dass RNA sich vervielfältigen, genetische Information tragen und chemische Reaktionen katalysieren kann. Herauszufinden, wie Membranen entstanden, wäre ein großer Durchbruch.

RNA und Replikation

DNA (Desoxiribonukleinsäure) ist das chemische Molekül in der Zelle, das den genetischen Code des Lebens trägt. 1963, im Jahr des Miller-Urey-Experiments, entdeckten der US-Amerikaner James Watson und der Brite Francis Crick die Doppelhelixstruktur der DNA. Im Verlauf der nächsten zehn Jahre wurde der genetische Code entschlüsselt.

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Interstellare Wolken aus Gas und Staub (hier beim Orion-Nebel) enthalten oft organische Chemikalien. Auch in Meteoriten, die auf der Erde landeten, wurden sie gefunden.

RNA (Ribonukleinsäure) ist eine einsträngige Variante der DNA. Diese kurzen Abschnitte lösen sich nach dem Kopieren vom DNA-Strang ab und übertragen die genetischen Anweisungen zu den Ribosomen – kleinen Fabriken, die aus Aminosäuren Proteine machen.

1968 äußerte der britische Chemiker Leslie Orgel die Idee, das Leben könnte mit einem einfachen RNA-Molekül begonnen haben, das sich vervielfältigen konnte. Orgel kooperierte mit Crick, um diese Idee weiterzuverfolgen. Enzyme sind wichtige Proteine, die in lebenden Organismen biochemische Reaktionen beschleunigen (katalysieren). Wenn RNA Enzyme produzieren könnte, so die Idee, könnte es diese benutzen, um Moleküle zu formen, die neue RNA-Stränge bilden können. 1982 entdeckte der amerikanische Biochemiker Thomas Cech RNA-Enzyme, sogenannte Ribozyme, die sich selbst aus dem RNA-Strang herausschneiden können, um ihre Funktionen zu erfüllen.

1986 prägte der amerikanische Physiker Walter Gilbert den Begriff »RNA-Welt«, um die frühe Welt zu beschreiben, in der RNA-Moleküle sich selbst zerschnitten und zusammenklebten, um mit der Zeit immer nützlichere Sequenzen zu bilden. 2000 bestätigte der amerikanische Molekularbiologe Thomas Steitz, dass RNA Ribosomen kontrolliert und aktiviert. Dies schien zu bestätigen, dass Leben mit RNA begonnen hat. Aber noch gab es keinen Beweis, dass RNA – oder DNA – sich außerhalb einer lebenden Zelle reproduzieren kann.

Seit den 1980er-Jahren versuchen Forscher, RNA zu produzieren, die sich selbst replizieren kann. 2011 schaffte es Philipp Holliger, ein britischer Molekularbiologe, einen RNA-Strang zu bauen, der 48 Prozent seiner Gesamtlänge kopieren kann. Andere haben mit der Synthese einfacher Nukleinsäuren experimentiert, etwa PNA (Peptid-Nukleinsäure), für den Fall, dass diese am Anfang des Lebens gestanden haben könnten. Aber bisher wurden diese Substanzen in der Natur noch nicht gefunden.

Energie, die Leben schafft

Eine rivalisierende Idee besagt, dass am Anfang des Lebens der Stoffwechsel stand, also die Fähigkeit, Energie zu nutzen. Die Entdeckung hydrothermaler Schlote im Jahr 1977 half dieser Idee auf die Sprünge. Aus diesen vulkanischen Schloten auf dem Meeresboden treten Mineralien und eine Menge Hitze aus – vielleicht ein Abbild der vulkanischen frühen Erde. 1993 meinte der britische Geologe Michael Russell, die ersten komplexen organischen Moleküle könnten sich an diesen Hotspots gebildet haben, im Innern kleiner Trichter aus Eisenpyrit rund um die Schlote.

Stanley Miller hatte 1968 darauf hingewiesen, dass hydrothermale Schlote für lebende Organismen zu heiß sind. Aber im Jahr 2000 entdeckte die amerikanische Ozeanografin Deborah Kelley kühlere Schlote. Die Theorie lautete nun, dass das Leben an Orten wie diesen begann, wo Hitze und Energie die Entstehung organischer Moleküle innerhalb von Steinporen anfeuern können. Am Ende hätten die Moleküle ihre eigenen Membranen bauen und aus dem porösen Gestein ins offene Wasser entkommen können.

»Der Beginn des Lebens scheint nahezu ein Wunder zu sein, so viele Bedingungen mussten erfüllt sein, um es in Gang zu bringen.«

Francis Crick

(1916–2004)

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Hitzeliebende Bakterien leben im Wasser rund um vulkanische Schlote, hier im Grand Prismatic Spring im Yellowstone National Park, USA. Sah es so auch in der Frühzeit der Erde aus?

Leben codieren

Während Wissenschaftler weltweit in den 1990er-Jahren den genetischen Code des Menschen katalogisierten, versuchte ein Team rund um den US-Biotechnologen Craig Venter, nicht nur organische Chemikalien, sondern ganze lebende Organismen zu erschaffen. Ihre Idee war, mit gentechnischen Methoden von der RNA nach und nach jedes Gen zu entfernen, das nicht notwendig für die Replikation ist.

Zunächst erzeugten sie künstlich das Genom eines Bakteriums namens Mycoplasma mycoides. 2010 inserierten sie das Genom erfolgreich in ein verwandtes Bakterium. Das neue Bakterium reproduzierte sich, ganz wie andere lebende Bakterien. Es hieß, Venters Team habe die erste synthetische Lebensform der Welt geschaffen. Sie nannten sie Sythia 1.0.

2016 entfernte Venters Team weitere Gene und schuf Synthia 3.0, das Lebewesen mit dem kleinsten Genom überhaupt. Mit nur 473 Genen überlebt es nicht nur, sondern reproduziert sich. Dennoch ist Synthia 3.0 keine wirklich synthetische Lebensform, da sein Genom mithilfe lebender Bakterien repliziert wurde.

Trotzdem gab Venters Projekt der synthetischen Biologie einen Schub. Wissenschaftler versuchen jetzt, künstliche Membranen herzustellen, andere wollen Gene maßschneidern. Ihre Vision besteht in der Erschaffung von Organismen, die Umweltverschmutzungen beseitigen oder umweltfreundliche Kunststoffe herstellen können. Dennoch: Es ist noch ein langer Weg, bis der Beginn des Lebens genau verstanden ist, ganz abgesehen von der Neuschaffung von Leben. image

Stanley Miller

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Geboren 1930 in Oakland, USA, machte Stanley Miller 1961 seinen Abschluss in Chemie in Berkeley. Im selben Jahr hörte er Nobelpreisträger Harold Urey über die Anfänge des Sonnensystems und die ersten organischen Chemikalien auf der Erde sprechen. Fasziniert überredete Miller Urey zu ihrem berühmten Experiment von 1953.

Miller lehrte Chemie am California Institute of Technology (Caltech), an der Columbia University und ab 1960 an der University of California, San Diego. Er forschte weiter an der Synthese organischer Chemikalien. 1973 wiederholte er sein Experiment von 1953 und stellte 33 Aminosäuren her. Miller ist ein Pionier der Exobiologie (Biologie im Weltraum) und regte die Suche nach Leben auf dem Mars an. Er erhoffte sich davon Bestätigungen für seine Theorien über die frühe Erde. Miller starb 2007.

Hauptwerke

1953 Produktion von Aminosäuren unter möglichen Bedingungen der frühen Erde

1986 Präbiotische Synthese kleiner Moleküle – der aktuelle Stand