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KLEINERE ZELLEN SITZEN IN DEN GRÖSSEREN ZELLEN

KOMPLEXE ZELLEN

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUR

Lynn Margulis (1938–2011)

FRÜHER

1665 Robert Hooke prägt das Wort »Zelle« für kleine Strukturen in der Korkrinde.

1838 Matthias Schleiden und Theodor Schwann postulieren, dass alles Leben aus Zellen besteht.

1937 Der französische Biologe Edouard Chatton unterscheidet erstmals zwischen Prokaryoten und Eukaryoten.

SPÄTER

1977 Die Amerikaner Carl Woese und George Fox fordern eine neue, dritte Domäne von Organismen – die Archaeen.

2015 Beweise kommen zum Vorschein, die besagen, dass Eukaryoten (Organismen mit komplexen Zellen) höchstwahrscheinlich von Archaeen abstammen.

Leben ist selbst in seinen einfachsten Formen außerordentlich komplex und es waren wohl zahllose Evolutionsschritte nötig von den ersten Zellen bis zu dieser Komplexität. Vor ungefähr 4 Mrd. Jahren dürften die ersten Schritte in Richtung Leben gegangen worden sein, als einfache organische Moleküle sich zusammenfügten, um langkettige Makromoleküle (große Moleküle) zu bilden. Ein primäres Merkmal von Leben ist seine Fähigkeit, sich zu reproduzieren. Diese ersten Moleküle müssen sich reproduziert haben, indem sie eine Reihe von natürlich vorkommenden chemischen Reaktionen durchliefen. Die Moleküle, die sich am effektivsten replizieren konnten, siegten dann im Wettbewerb mit weniger fähigen Systemen. Die Evolution einer schützenden Membran rund um das genetische Material muss den ersten prokaryotischen Zellen (Zellen ohne membrangebundene Zellstrukturen oder Organellen) zur Existenz verholfen haben.

Die Atmosphäre der Erde enthielt damals wenig Sauerstoff. Diese ersten Organismen ernährten sich von einer Fülle organischer Moleküle und gewannen Energie durch Gärung, einen Prozess, der keinen Sauerstoff benötigt.

Typische prokaryote und eukaryote Zellen

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Prokaryoten sind kleine, einzellige Organismen wie Bakterien. Sie haben keine membrangebundenen Organellen. Statt in einem Kern findet man die DNA in einer Region namens Nukleoid, die frei im Zellplasma treibt.

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Eukaryoten sind höhere Organismen wie Tiere, Pflanzen und Pilze. Eukaryotische Zellen haben membrangebundene Organellen wie den Zellkern, der die DNA enthält. Sie sind viel größer als prokaryotische Zellen.

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Die Theorie der Endosymbiose besagt, dass eukaryotische Zellen sich aus frühen prokaryotischen entwickelten. Sie wurden von anderen Zellen verschluckt und gründeten mit diesen eine Symbiose. Mitochondrien entstanden, als aerobe Bakterien und Chloroplasten als Fotosynthese-Bakterien aufgenommen wurden.

Prokaryoten und Sauerstoff

Die frühen Prokaryoten teilten sich in zwei getrennte Linien, die man Bakterien und Archaeen nennt. Vor rund 3,5 Mrd. Jahren entwickelten einige Bakterien die Fähigkeit, Sonnenlicht in chemische Energie zu verwandeln. Sie waren die Ahnen der heutigen Cyanobakterien, einer Gruppe fotosynthetischer Bakterien (früher Blaualgen genannt). Während der nächsten Milliarde Jahre dominierten diese Wesen die lebende Welt und sonderten Sauerstoff als Abfallprodukt ab. Die Atmosphäre der Erde und ihre frühen, noch seichten Ozeane erlebten einen steilen Anstieg des Sauerstoffgehalts. Sauerstoff ist hochreaktiv und kann feine biologische Strukturen zerstören. Mehrere Prokaryoten entwickelten Mechanismen, um mit diesem Problem umzugehen. Der erfolgreichste davon war die Atmung – Energiegewinnung durch Verwandlung von Sauerstoff in Wassermoleküle.

Herkunft der Eukaryoten

Die Evolution der Atmung vor rund 2,5 Mrd. Jahren könnte die Entwicklung eukaryotischer Zellen angestoßen haben. Alle fortgeschrittenen Lebensformen enthalten eukaryotische Zellen, die eine komplexe innere Struktur aufweisen und membrangebundene Organellen enthalten. Dazu gehören der Zellkern, der das genetische Material enthält, die Mitochondrien, in denen Zellatmung stattfindet, und die Chloroplasten in Pflanzenzellen, in denen die Fotosynthese abläuft. Die Existenz von Eukaryoten zu erklären ist eine große Herausforderung für Biologen. Die Komplexität der eukaryotischen Zelle übertrifft die der höchstentwickelten prokaryotischen bei Weitem und eine eukaryotische Zelle ist etwa 1000-mal größer ale eine prokaryotische.

»Das Leben ist bakteriell und Organismen, die keine Bakterien sind, haben sich aus Bakterien entwickelt.«

Lynn Margulis

»Ich halte meine Ideen nicht für strittig. Ich halte sie für richtig.«

Lynn Margulis

Endosymbiontentheorie

1883 beobachte der französische Botaniker Andreas Schimper, dass sich die Chloroplasten in Pflanzen auf eine Weise teilen und reproduzieren, die der Reproduktion frei lebender Cyanobakterien sehr ähnelt. Er äußerte die Idee, grüne Pflanzen könnten sich aus einer engen Beziehung oder Symbiose zweier Organismen entwickelt haben.

Der russische Biologe Konstantin Mereschkowski – einer der Ersten, der strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Pflanzen-Chloroplasten und Cyanobakterien bemerkte – kannte Schimpers Arbeiten. Inspiriert von dessen Studien über die Symbiose von Pilzen und Algen bei Flechten, entwickelte Mereschkowski die Idee, dass komplexe Organismen aus Partnerschaften weniger komplexer Organismen entstehen könnten. 1905 publizierte er seine Hypothese, dass Chloroplasten von Cyanobakterien abstammen. Demnach verdanken Pflanzen ihre Fähigkeit zur Fotosynthese diesen Cyanobakterien. Die Theorie, dass komplexe Organismen aus der Vereinigung weniger komplexer hervorgehen, nennt man Endosymbiose.

Während der 1920er-Jahre schlug der amerikanische Biologe Ivan Wallin eine endosymbiotische Herkunft für Mitochrondrien vor (die Organellen, die für die Energiegewinnung verantwortlich sind). Er meinte, Mitochondrien seien anfangs aerobe Bakterien gewesen (die Sauerstoff zum Überleben brauchten).

Diese Theorien wurden in den kommenden Jahrzehnten weitgehend abgelehnt. 1959 entdeckten die amerikanischen Botaniker Ralph Stocking und Ernest Gifford jedoch, dass Chloroplasten und Mitochondrien ihre eigene DNA besitzen, die sich von der DNA im Zellkern unterscheidet. Das war der erste konkrete Hinweis darauf, dass die Ahnen dieser Organellen frei lebende Zellen gewesen sein könnten.

Unorthodoxe Ideen

DNA-Forschung war in den 1960er-Jahren noch neu und die Entdeckung von DNA in Chloroplasten und Mitochondrien wurde bestritten. 1965 griff die amerikanische Biologin Lynn Margulis die Frage in ihrer Doktorarbeit auf und wies überzeugend DNA in den Chloroplasten von einzelligen Algen nach. 1967 publizierte sie im Journal of Theoretical Biology ihre Idee, dass wichtige Organellen eukaryotischer Zellen, darunter Mitochondrien und Chloroplasten, früher frei lebende Prokaryoten waren. Margulis hatte damit nicht nur eine Theorie zum Ursprung der Organellen formuliert, sondern auch zur Evolution der Eukaryoten.

Als Margulis 1970 ihr erstes Buch, Der Ursprung der eukaryotischen Zellen, publizierte, war die Endosymbiose noch weit davon entfernt, akzeptiert zu werden. Es herrschte die Auffassung, dass Evolution in kleinen Schritten passiert, die Endosymbiose wäre ein großer evolutionärer Sprung gewesen. Viele Biologen fanden zudem die Idee, DNA komme außerhalb des Zellkerns vor, ausgesprochen unorthodox, auch wenn die Evidenz für DNA in Chloroplasten und Mitochondrien kontinuierlich stieg.

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Lynn Margulis präsentierte Beweise für die Theorie der Endosymbiose. Richard Dawkins nannte diese »eine der großen Errungenschaften der Biologie des 20. Jahrhunderts«.

Serielle Endosymbiose

Margulis’ Theorie der Evolution eukaryotischer Zellen wird auch als serielle Endosymbiose-Theorie (SET) bezeichnet. Sie postuliert, dass eukaryotische Zellen durch die Verschmelzung mehrerer verschiedener Arten prokaryotischer Zellen zustande kamen. Margulis zufolge parasitierten kleine, zu aerober Atmung fähige Bakterien größere anaerobe (nicht sauerstoffbasierte) prokaryotische Zellen, indem sie deren Zellwände durchbrachen. In den meisten Fällen führte das zum Tod der angegriffenen Zellen, aber oft genug überlebten beide und blieben zusammen. Der Parasit, der mit Sauerstoff umgehen konnte, erlaubte es dem Wirt, in vorher unbewohnbaren Umgebungen zu überleben. Der Wirt lieferte den Kraftstoff für die Atmung. Mit der Zeit wurden beide immer abhängiger voneinander und die kleinen atmenden Parasiten entwickelten sich zu Mitochondrien – den ersten eukaryotischen Organellen.

Während fast alle eukaryotischen Zellen Mitochondrien besitzen, enthalten nur Pflanzen und einige Einzeller Chloroplasten. Das legt nahe, dass sie sich erst entwickelten, nachdem die Mitochondrien schon etabliert waren. Margulis glaubte, dass einige der neuen Mitochondrienbesitzer Cyanobakterien gefressen haben. Manche davon entkamen dem Verdauungsprozess und wurden zu Chloroplasten.

Unterstützende Evidenz

1967 erschien ein Aufsatz, der Margulis’ Endosymbiontentheorie untermauerte. Der koreanisch-amerikanische Mikrobiologe Kwang Jeon hatte eine Kolonie einzelliger Amöben untersucht. Diese zogen sich eine Bakterieninfektion zu, die die meisten von ihnen tötete. Doch nach einigen Monaten beobachtete der Forscher, dass die überlebenden Bakterien gesund blieben, obwohl die Bakterien noch in ihnen lebten. Setzte er Antibiotika ein, um die Bakterien zu töten, starben zu seiner Überraschung die Wirtsamöben ebenfalls. Sie waren von ihren Invasoren abhängig geworden. Jeon fand heraus, dass die Bakterien ein Protein herstellen, das die Amöben jetzt zum Überleben benötigten. Die beiden Spezies waren eine Symbiose eingegangen und hatten sich in eine neue Art von Amöben verwandelt. image

Der Zellkern

Der fundamentale Unterschied zwischen Prokaryoten und Eukaryoten: Eukaryotische Zellen haben einen Zellkern und andere membrangebundene Organellen, prokaryotische nicht. Tatsächlich ist das Vorhandensein eines Zellkerns – eines Behälters für die Gene der Zelle, die in Form von DNA-Molekülen codiert sind – das entscheidende Merkmal eukaryotischer Zellen.

Wie der Kern entstand, ist umstritten. Biologen sind sich nicht einig, ob zuerst der Kern kam oder die Mitochondrien. Einige Forscher argumentieren, dass der Besitz von Mitochondrien, die für die Energieversorgung verantwortlich sind, für die Evolution der Eurkaryoten entscheidend war.

Lynn Margulis glaubte, der Kern in seiner aktuellen Form habe sich erst entwickelt, nachdem die anderen Organellen schon da waren. Andere Theorien besagen, dass der Kern sich zuerst entwickelt hat und dass er es ermöglichte, mit den Bakterien zu fusionieren, die später zu Mitochondrien wurden.

Archaeen als Ahnen

2015 wurde eine neue Gruppe von Archaeen in Tiefseesedimenten des Atlantiks entdeckt. Diese Lokiarchaeota, abgekürzt »Loki«, scheinen die nächsten Verwandten der Eukaryoten zu sein, die man je entdeckt hat. (Eukaryoten sind komplexe Organismen, deren Zellen einen membrangebundenen Kern haben.) Lokis Genom (genetisches Material) enthält eine Menge Gene, die man zuvor nur aus Eukaryoten kannte. Darunter sind Gene, die eine essenzielle Rolle bei eukaryotischen Funktionen spielen, beispielsweise solche, die mit dem Zytoskelett zu tun haben – einer Struktur, die der Zelle hilft, ihre Form zu bewahren.

Welche Rolle diese Gene in Loki spielen, ist rätselhaft. Aber die Beobachtung stimmt überein mit der umstrittenen Theorie, dass Eukaryoten von Archaeen abstammen. Loki wurde von Evolutionsbiologen als Missing Link zwischen Eukaryoten und urtümlichen Prokaryoten beschrieben.