IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
William Harvey (1578–1657)
FRÜHER
2. Jh. n. Chr. Galen glaubt, Blut fließe von Herz und Leber aus durch den Körper und werde dort aufgebraucht.
13. Jh. v. Chr. Ibn an-Nafis behauptet, Blut zirkuliere zwischen Lungen und Herz.
SPÄTER
1658 Jan Swammerdam entdeckt unter dem Mikroskop rote Blutkörperchen.
1840 Hämoglobin wird als Transportvehikel für Sauerstoff im Blut erkannt.
1967 Die erste erfolgreiche Herztransplantation von Mensch zu Mensch gelingt dem Chirurgen Christiaan Barnard in Südafrika.
Im Jahr 1628 konnte der englische Arzt William Harvey bestätigen, dass Blut zirkuliert. Es fließt in einer doppelten Schleife vom Herzen zu den Lungen, zurück zum Herzen und dann durch den Rest des Körpers. Diese wichtige anatomische Eigenschaft von Menschen und Tieren war jahrhundertelang missdeutet worden. Die wissenschaftliche Untersuchung von Leichen war tabu, so blieben Form und Funktion menschlicher Organe ein Mysterium. Die besten Forschungsergebnisse kamen aus der Sektion von Tieren und von Einblicken ins Körperinnere bei der chirurgischen Versorgung von Wunden. Natürlich blieben die so gewonnenen Informationen unvollkommen und führten in manchen Fällen zu bedeutsamen Missverständnissen.
Zu Anfang des 17. Jahrhunderts basierte die westliche Medizin immer noch weitgehend auf dem Werk von Galen, der im 2. Jahrhundert n. Chr. in Rom gearbeitet hatte. Als Chirurg von Gladiatoren gewann er Einblicke in die Anatomie des Körperinneren, wenn er Verletzungen behandelte, die seine Patienten sich in der Arena zugezogen hatten.
Frühes medizinisches Denken im alten Ägypten hielt das Netz von Gefäßen im Körper für Luftkanäle. Man glaubte, Blut fülle diese Gefäße nur, wenn sie beschädigt seien. Galen lehnte diese Ansicht ab. Er stellte fest, dass diese Gefäße immer blutgefüllt sind. Er unterschied Venen und Arterien anhand verschiedener Eigenschaften: Arterien sind fester und liegen tiefer im Körper, Venen sind dünner und liegen eher an der Oberfläche. Galen meinte, venöses Blut entstehe in der Leber und nähre den Körper, während arterielles Blut mit Pneuma gefüllt sei, einem »Lebensgeist« aus der Luft. Pneuma, so argumentierte er, gehe durch winzige Poren in der Herzscheidewand, der Muskelwand zwischen linker und rechter Herzseite, aus dem arteriellen Blut in das venöse über. Arterielles Blut werde im Herzen gebildet und in die Gegenrichtung transportiert; es enthalte Abfallprodukte, die beim Ausatmen ausgeworfen werden.
Der persische Universalgelehrte Ibn Sina (im Westen als Avicenna bekannt) schrieb im 11. Jahrhundert wichtige Werke über Medizin, aber seine Behandlung des Blutkreislaufs reproduzierte die Irrtümer von Galens Modell. 1242 verfasste dann der syrische Arzt Ibn an-Nafis einen Kommentar zu Ibn Sinas Schriften über Anatomie. Als Erster beschrieb er den Lungenkreislauf richtig: Blut fließt von der rechten Seite des Herzens zur Lunge und dann zurück zum Herzen.
Vier Jahrhunderte nach Ibn an-Nafis veröffentlichte William Harvey sein Buch Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus (Eine anatomische Übung über die Bewegung des Herzens und des Bluts bei Tieren), allgemein bekannt als De Motu Cordis. Es war inspiriert von seinem medizinischen Lehrmeister, dem italienischen Anatomen Hieronymus Fabricius, der die Ventile in Venen beschrieben hatte: paarige Klappen, schräg angebracht an den Wänden der Venen, die das Blut nur in eine Richtung fließen lassen: in Richtung des Herzens. Für Harvey sah dieser gerichtete Fluss stark nach einem Kreislaufsystem aus.
Eine der zentralen Voraussetzungen von Galens Theorie ist, dass Blut vom Körper aufgebraucht wird. Harvey wies das zurück. Er rechnete aus, dass das Herz, das er für eine Muskelpumpe hielt, bei jeder Kontraktion 57 Milliliter Blut ausstößt. Bei rund 72 Schlägen pro Minute müsste also der Körper, vorausgesetzt Galen hätte recht, bis zu vier Liter Blut pro Minute produzieren – und aufbrauchen. Harvey unterschätzte die Menge: Das Herz pumpt in einer Minute das gesamte Blutvolumen, fünf Liter.
Harvey untersuchte die Anatomie der Blutgefäße genauer. Er sezierte lebendige Aale und andere Fische, um zu sehen, wie ihre Herzen in den letzten Lebensmomenten pumpten. Er band Venen und Arterien ab, um zu zeigen, wie das Blut ins Herz hinein- und hinausfließt. Wurden Arterien zugebunden, schwoll das Herz an, wurden Venen verschlossen, leerte sich das Herz.
Tafel 1 von Harveys De Motu Cordis et Sanguinis illustriert das Netzwerk der Venen im Unterarm. Abbildung 2, unten, zeigt, dass Blut sich aus der Vene entleert, wenn sein Weg zum Herzen lang blockiert wird.
»Das Herz der Tiere ist die Quelle ihres Lebens, der Herrscher über alles, was in ihnen ist … das, wovon alles Wachstum abhängt.«
William Harvey
Über die Bewegung des Herzens und des Bluts, 1628
Am Ende kam Harvey zu dem Schluss, dass das Blutvolumen konstant ist und dass es den Körper in einem geschlossenen System durchläuft, das aus zwei Abschnitten besteht: Arterien bringen das Blut weg vom Herzen, Venen bringen es zurück. Der Abschnitt, den wir heute Lungenkreislauf nennen, ist eine Schleife, die das Herz mit der Lunge verbindet.
Harvey wusste nicht, dass das Blut Gase transportiert, aber bis zum 19. Jahrhundert wurde klar, dass der Körper Sauerstoff aus der Luft aufnimmt und ihn im Blutstrom transportiert, während das Kohlendioxid, welches das Blut auf seinem Kreislauf durch den Körper ansammelt, ausgeschieden wird. Diese Prozesse finden in der Lunge statt und werden Gasaustausch genannt. Zurück im Herzen, tritt das mit Sauerstoff angereicherte Blut seine Reise durch den Rest des Körpers an – der Abschnitt heißt Körperkreislauf oder systemische Zirkulation. Das Blut wird bei der Kontraktion des linken Ventrikels, der größten Herzkammer, ausgestoßen und in die Aorta, die größte Arterie, gedrückt. Arterien (mit Ausnahme der Lungenarterien) befördern immer sauerstoffhaltiges Blut. Sie haben eine steife Struktur, die eine Schicht glatter Muskulatur enthält, sodass sie den hohen Druck aushalten können. Die Gesamtlänge aller Gefäße beträgt dabei nicht weniger als 100 000 Kilometer.
Harvey beschrieb, dass die Arterien Blut direkt in die Gewebe des Körpers einspeisen. Dort werde es von den Venen eingesammelt und zurück zur rechten Seite des Herzens gebracht, wo der Lungenkreislauf beginnt. Allerdings konnte er nicht erklären, wie genau das Blut aus dem arteriellen ins venöse System gelangt. 1661 entdeckte der italienische Biologie Marcello Malpighi komplexe Netze winziger Gefäße unter dem Mikroskop – Kapillaren, die die Verbindung zwischen Arterien und Venen bilden. Jedes dieser Netze wird Kapillarbett genannt.
»[Blut] bewegt sich im Kreise von der Mitte zu den Extremitäten und zurück von den Extremitäten zur Mitte.«
William Harvey
Über die Bewegung des Herzens und des Bluts, 1628
Venen sind dünnere Gefäße als Arterien, das Blut darin steht weniger unter Druck. Während arterielles Blut durch den pulsierenden Herzschlag angetrieben wird, helfen beim Rücktransport des venösen Bluts Skelettmuskeln, indem sie bei normalen Körperbewegungen die Gefäße quetschen. Harveys Beschreibung des Kreislaufsystems mit zwei Schleifen hatte weitreichende Folgen. Sie half bei medizinischen Eingriffen, etwa dem Abbinden von Arterien, um Blutungen zu stoppen. Sie zeigte auch, dass Wissenschaftler medizinische Dogmen verändern können, die jahrhundertelang für Stillstand gesorgt hatten.
Der Lungenkreislauf bewegt sauerstoffreiches und sauerstoffarmes Blut zwischen Herz und Lunge. Der Körperkreislauf bewegt sauerstoffreiches Blut vom Herzen durch den Körper und sauerstoffarmes (kohlendioxidhaltiges) Blut zurück zum Herzen.
William Harvey
Geboren 1578 in Kent, England, wurde William Harvey mit 15 an der Universität Cambridge promoviert. Dann studierte er im Ausland, hauptsächlich in Padua, Italien, wo er Medizin bei dem Anatomen Hieronymus Fabricius lernte. 1609, mit gerade 31 Jahren, wurde Harvey Chefarzt am St Bartholomew’s Hospital in London. Sechs Jahre später wurde er Dozent am Royal College of Physicians und 1618 Leibarzt des Königs James I. Nach der Publikation seines berühmtesten Werks im Jahr 1628 nahm seine Beliebtheit ab, denn das medizinische Establishment akzeptierte seine radikale Theorie des Herzens nur zögerlich. Erst 1661, vier Jahre nach seinem Tod, wurde er rehabilitiert.
Hauptwerke
1628 Eine anatomische Übung über die Bewegung des Herzens und des Bluts bei Tieren
1651 Über die Entwicklung der Tiere