IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Claude Bernard (1813–1878)
FRÜHER
1614 Santorio Santorio erforscht die chemischen Prozesse, die Leben ermöglichen.
1849 Arnold Berthold entdeckt, dass nicht alle Körperaktivitäten vom Nervensystem kontrolliert werden.
SPÄTER
1910 Edward Sharpey-Schafer demonstriert die zentrale Rolle der Hormone bei der Regulation von Körperfunktionen.
1926 Walter Cannon benutzt als erster Physiologe den Begriff »Homöostase«.
Um Leben aufrechtzuerhalten, baden die Zellen, die einen Organismus ausmachen, in einer Flüssigkeit, die Nährstoffe bereitstellt und Abfall beseitigt. Ob ein Tier einfach oder komplex ist, sein Körper sorgt dafür, dass diese flüssige Umgebung stabil bleibt. Die Prozesse, die gemeinsam das innere Milieu eines lebenden Organismus erhalten und regulieren, werden Homöostase genannt.
Homöostase ist ein zentrales Konzept der Biologie. Struktur und Funktion der Tiere sind darauf ausgerichtet, die Homöostase zu erhalten. Einzelne Zellen agieren so, dass sie ihr Überleben sichern, und die Zellen, die in komplexen Organismen die Gewebe bilden, tragen zum Überleben des Organismus bei. Zusammen tragen Zellen, Gewebe und Organsysteme dazu bei, dass ein stabiles inneres Milieu erhalten bleibt, in dem die Zellen gedeihen.
Homöostatische Kontrollsysteme haben drei Hauptkomponenten: einen Rezeptor, ein integrierendes Kontrollzentrum und einen Effektor. Variablen können Körpertemperatur, Blutdruck und Herzfrequenz sein.
Der französische Physiologe Claude Bernard war einer der wichtigsten Forscher, die den Vorrang des Experimentierens in den Lebenswissenschaften festigten. Er unterstützte Theodor Schwanns Zelltheorie und nannte die Zelle »ein zentrales Atom«. Er sah auch die Beziehung zwischen Zellen und ihrer Umgebung als fundamental an für das Verständnis der Physiologie. 1854 führte Bernard das Konzept des milieu intérieur (inneres Milieu) ein, um die Mechanismen zu beschreiben, die die innere Umgebung eines Tiers im Gleichgewicht halten, auch wenn die äußere Umgebung sich ständig ändert.
Anfangs meinte Bernard mit innerer Umgebung vor allem das Blut, aber später dehnte er das Konzept auf die interstitielle Flüssigkeit aus, die die Zellen umgibt. Bernard wusste, dass die Temperatur des Bluts aktiv reguliert wird. Er spekulierte, dass dies wenigstens zum Teil dadurch kontrolliert wird, dass sich der Durchmesser der Blutgefäße verändert. Er hatte beobachtet, dass sich die Adern der Haut bei Kälte zusammenziehen und bei Hitze ausdehnen. Er entdeckte auch, dass der Blutzuckerspiegel konstant gehalten wird, indem Glykogen in der Leber eingelagert oder aus ihr freigesetzt wird, und er erforschte die Rolle der Bauchspeicheldrüse bei der Verdauung.
Diese Apparatur wurde von Claude Bernard entworfen und bei Studien über die Wirkung von Hitze auf Tiere benutzt – nur ein Aspekt seiner vielen Untersuchungen zur Hömoostase.
Gegen Ende seines Lebens fasste Bernard seine Forschung zu der These zusammen, Ziel und Zweck der körperlichen Prozesse sei es, eine konstante innere Umgebung aufrechtzuerhalten. Der Körper erreiche das durch unzählige miteinander verbundene Reaktionen, die die Änderungen der äußeren Umgebung kompensieren. Er schrieb: »Der lebende Organismus existiert nicht eigentlich im milieu extérieur, sondern im flüssigen milieu intérieur.«
Bernards Konzept des milieu intérieur (das durch physiologische Prozesse reguliert wird) stand in Widerspruch zum damals weitverbreiteten Glauben an eine »Lebenskraft« jenseits von Physik und Chemie. Bernard erklärte, die Prinzipien, die den Lebenswissenschaften zugrunde liegen, seien in nichts verschieden von denen der Physik und Chemie. Obwohl Bernard damals der berühmteste Wissenschaftler Frankreichs war, wurde seine Hypothese, dass die innere Umgebung unabhängig von den äußeren Bedingungen stabil bleibt, 50 Jahre lang weitgehend ignoriert.
Menschen und Tiere vertragen sehr unterschiedliche Umweltbedingungen – dank ihrer Fähigkeit, ihre Innentemperatur zu regulieren.
»Die Konstanz der inneren Umgebung ist die Voraussetzung für freies und unabhängiges Leben.«
Claude Bernard
(1830–1878)
Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bernards Konzept von Physiologen wie William Bayliss und Ernest Starling wieder aufgenommen, den Entdeckern des ersten Hormons, des Sekretins. Starling beschrieb die Regulation der inneren Umgebung als »die Weisheit des Körpers«. Das endokrine System, das die Hormone produziert, wird heute als zentraler Akteur der Homöostase angesehen. Die Bauchspeicheldrüse beispielsweise produziert das Hormon Insulin, das wesentlich den Blutzuckerspiegel reguliert.
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon entwickelte Bernards Ideen weiter. Cannon prägte 1926 den Begriff »Homöostase«, um den Prozess der Selbstregulation zu beschreiben, mit dem ein Organismus seine Körpertemperatur und andere wichtige Zustände konstant hält, etwa den Gehalt von Sauerstoff, Wasser, Salz, Zucker, Eiweiß und Fett im Blut. Das Präfix homöo-, das »ähnlich« bedeutet, anders als homo- für »gleich«, berücksichtigt Bernards Verständnis, dass innere Bedingungen innerhalb bestimmter Grenzen schwanken.
Eine von Cannons wichtigsten Entdeckungen war die Rolle des sympathischen Nervensystems – das für unwillkürliche Reaktionen zuständig ist – bei der Homöostase. Er nahm korrekterweise an, dass das sympathische Nervensystem in Notfällen in Abstimmung mit den Nebennierendrüsen agiert. Cannon begründete den Ausdruck »Kampf oder Flucht«, um die Reaktion des Körpers auf Stresssituationen zu beschreiben, bei denen das Hormon Adrenalin aus den Nebennieren ins Blut ausgeschüttet wird.
Eine Adrenalinausschüttung löst mehrere Effekte aus: Die Skelettmuskeln der Glieder werden stärker durchblutet, weil die Gefäße sich entspannen. Dadurch werden energiereiche Blutzucker bereitgestellt und Abfallstoffe werden effektiver abtransportiert. Gleichzeitig kontrahiert Adrenalin die Blutgefäße der Haut und fördert die Blutgerinnung – beide Effekte vermeiden Blutverlust bei Verletzung. Adrenalin sorgt auch für den Abbau von Glykogen und die Freisetzung von Glukose aus der Leber, zudem regt es die Atmung an, um die Sauerstoffversorgung durch die Lungen zu maximieren.
1946 identifizierte der schwedische Physiologe Uls von Euler den entscheidenden Neurotransmitter (Impulsgeber) des sympathischen Nervensystems bei Säugetieren: Es ist Noradrenalin, nicht Adrenalin, wie Cannon geglaubt hatte.
Um die stabilen Bedingungen der Homöostase aufrechtzuerhalten, braucht man ein System aus drei Komponenten: einem Rezeptor, einem Kontrollzentrum und einem Effektor. Diese arbeiten in einer negativen Rückkopplungsschleife zusammen, die dem Stimulus, der die Aktion auslöst, entgegenwirkt oder ihn zurücksetzt. Diese Idee wurde von Cannon eingeführt.
Sensorische Rezeptoren sind Zellen, die von Änderungen der Umwelt gereizt werden – etwa Zellen, die Variationen der Temperatur messen, oder Zellen in den Blutgefäßen, die Änderungen des Blutdrucks messen. Ein Reiz löst ein Signal aus, das vom Sensor zu einem Kontrollzentrum gesendet wird, welches eine geeignete Antwort festlegt. Eines der bedeutendsten Kontrollzentren ist der Hypothalamus, eine Gehirnregion, die alles überwacht: Körpertemperatur, Herzfrequenz, Blutdruck und den Schlaf-wach-Rhythmus. Wenn es angebracht ist, gibt das Kontrollzentrum einem Effektor ein Signal und dieser sorgt für die nötigen Änderungen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Effektoren können die Muskeln sein, die uns zittern lassen, wenn uns kalt ist, oder eine Drüse des endokrinen Systems, die ein Hormon zur Regulation des Calciumspiegels ausschüttet. Sobald das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, melden die sensorischen Zellen dies dem Hypothalamus, der die Effektoren dann deaktiviert.
Die Regulation des Blutzuckerspiegels, entdeckt von Bernard, ist ein gutes Beispiel einer negativen Rückkopplungsschleife. Glukose im Blut regt die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zur Ausschüttung von Insulin an, welches der Leber das Signal gibt, überschüssige Glukose als Glykogen zu speichern. Sobald die Blutzuckerkonzentration im Blut sinkt, hört das Pankreas mit der Insulinproduktion auf und die Leber bildet kein Glykogen mehr. Der Glukosespiegel im Blut wird so in einem Bereich gehalten, der für die Erfordernisse des Körpers notwendig ist. Der negative Rückkopplungsmechanismus wird von hohen Blutzuckerwerten angeschaltet und schaltet ab, wenn die Werte fallen.
Claude Bernard
1813 nahe Villefranche in Frankreich geboren, half Bernard als Kind seinem Vater im Weinberg. Nach seinem Studium der Medizin in Paris (1834–1843) arbeitete er zusammen mit François Magendie, dem damals führenden Experimentalphysiologen. 1854 wurde Bernard in die französische Akademie der Wissenschaften gewählt. Als Magendie im folgenden Jahr starb, wurde Bernard sein Nachfolger als Professor am Collège de France in Paris. Kaiser Napoleon III. ließ für ihn 1864 ein Labor am Museum für Naturgeschichte bauen. 1869 trennte sich Bernard von seiner Frau, da sie es stark missbilligte, dass er Vivisektionen durchführte.
Nach seinem Tod im Jahr 1878 erhielt Bernard ein Staatsbegräbnis. Es war das erste Mal, dass ein Wissenschaftler in Frankreich so geehrt wurde.
Hauptwerk
1865 Eine Einführung in das Studium der experimentellen Medizin