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DIE CHEMIEMEISTER IN UNSEREM INNEREN

NIEREN UND AUSSCHEIDUNG

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUR

Arthur Cushny (1866–1926)

FRÜHER

4. Jh. v. Chr. Aristoteles ist der Meinung, die Niere sei nicht wichtig für die Abfallentsorgung, die Blase sei wichtiger.

1628 Der englische Arzt William Harvey belegt, dass Blut kontinuierlich durch den Körper zirkuliert.

1666 Marcello Malpighi enhüllt einige Feinstrukturen der Niere.

SPÄTER

1945 Willem Kolff zeigt, dass Patienten mit Nierenversagen durch Dialyse am Leben erhalten werden können.

1958 Der dänische Forscher Hans Ussing untersucht die Funktion der Niere auf der Ebene individueller Zellen.

Eine Hauptfunktion der Niere ist die Beseitigung von Abfallprodukten und überschüssiger Flüssigkeit aus dem Blut – in einem Prozess der Ausscheidung und Reabsorption.

1666 beschrieb der italienische Anatom Marcello Malpighi als Erster die mikroskopische Struktur einer Niere. Die Instrumente, die ihm zur Verfügung standen, vergrößerten nur 20- bis 30-fach, aber sie enthüllten Strukturen, die Malpighi für Drüsen hielt. Er beschrieb sie als »Äpfel auf einem schönen Baum«. Er glaubte, die Trennung des Urins vom Blut beginne in diesen Drüsen, eine Vorstellung, die sich als korrekt herausstellte und ihrer Zeit weit voraus war.

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Eine menschliche Niere enthält mehrere Hunderttausend blutfilternde Einheiten namens Nephron. Jedes davon hat einen Glomerulus – ein Bündel Gefäße, umhüllt von einer Kapsel –, der Abfall und Wasser ausscheidet.

Strittige Ideen

1842 beschrieb der britische Anatom William Bowman die Nieren im Detail. Ihm fiel auf, dass die Malpighi-Körperchen aus einer Menge winziger Kapillaren (dem Glomerulus) bestehen, die in einer Kapsel sitzen. Sie wurde später zu seinen Ehren Bowman-Kapsel genannt. Bowman entdeckte, dass die Kapsel Teil des Nierengangs ist, der Urin in die Blase entleert. Er glaubte, jeder Glomerulus scheide Wasser aus, um Harnstoff den kleinen Kanal hinabzuspülen, der von der Kapsel ausgeht.

Bowmans Theorie wurde von dem deutschen Arzt Carl Ludwig bestritten. Dieser meinte, es finde ein Filterprozess statt, in dem Bestandteile des Blutplasmas durch die Wände der Glomeruluskapillaren dringen, größere Moleküle wie Fett oder Proteine jedoch nicht. Da das Volumen des Filtrats viel größer sei als die Menge ausgeschiedenen Urins, meinte Ludwig, müsse der größte Teil des Filtrats von den Kanälchen resorbiert werden.

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William Bowman benutzte zum Studium der Nieren ein Mikroskop, das zehnmal so stark war wie das von Malpighi. Er fertigte sehr detaillierte Zeichnungen an, wie die hier gezeigte.

»Extrem winzige Teile [sind] so geformt und angeordnet, dass sie ein wunderbares Organ bilden.«

Marcello Malpighi

(1628–1694)

Der deutsche Physiologe Rudolph Heidenhain war anderer Meinung. 1863 veröffentliche er eine Berechnung, nach der die Niere eines durchschnittlichen Erwachsenen 70 Liter Flüssigkeit pro Tag filtern müsste, um auf den täglichen Output an Harnstoff zu kommen. Dazu müsse mindestens das doppelte Volumen an Blut durch die Nieren fließen. Heidenhain hielt das für so unwahrscheinlich, dass er glaubte, der Urin werde ganz und gar durch Sekretion produziert, nicht durch Filtration.

Moderne Theorie

1917 veröffentlichte der schottische Arzt Arthur Cushny das Buch Die Absonderung des Harns, in dem er Ludwigs Filtrations-Resorptions-Theorie verteidigte. Cushny widerlegte experimentell Heidenhains Behauptung, die Kanälchen seien nicht in der Lage, Wasser in den erforderlichen Mengen zu resorbieren, und er widersprach der These, dass Urin durch Sekretion gebildet wird. Stattdessen legte er nach eigenen Worten eine »moderne Theorie« der Nierenfunktion vor.

Cushny sagte, die Menge an resorbierter Flüssigkeit bedeute, dass zusammen mit Wasser nahezu sämtliche gefilterte Glukose, Aminosäuren und Salze von den Kanälchen resorbiert werden müssen. Die wechselnde Konzentration dieser Substanzen bedeutet, dass sie zu unterschiedlichen Graden resorbiert werden. So werden zum Beispiel Aminosäuren komplett resorbiert, wohingegen Kreatinin aus dem Stoffwechsel der Muskeln kaum resorbiert wird. image

Dialyse

Vor der Mitte des 20. Jahrhunderts war Nierenversagen ein Todesurteil. In den 1920er-Jahren versuchte der deutsche Arzt Georg Haas zum ersten Mal eine Dialysebehandlung (die künstliche Entfernung von Abfallprodukten) am Menschen, bei der er Röhren aus einer Zellulosemembran mit semipermeablen Eigenschaften einsetzte. Keiner seiner Patienten überlebte jedoch, vor allem weil die Prozedur nicht lang genug durchgeführt wurde. Ein Durchbruch kam 1945, als der holländische Arzt Willem Kolff eine einwöchige Dialyse bei einem Patienten mit Nierenversagen durchführte.

Kolff benutzte eine künstliche Niere aus Zellophanröhren, die um eine hölzerne Trommel gewickelt waren. Das Blut des Patienten floss durch die Röhren und die Trommel rotierte durch eine Lösung von Elektrolyten, Dialysat genannt. Bei der Rotation wurden durch Osmose Schadstoffe aus dem Blut in die Lösung gezogen.