IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Paul Broca (1824–1880)
FRÜHER
1664 Der englische Arzt Thomas Willis schreibt in Cerebri Anatome (Anatomie des Gehirns) verschiedene Fähigkeiten verschiedenen Teilen des Gehirns zu.
1796 Der deutsche Anatom Franz Joseph Gall stellt die Schädellehre (Phrenologie) auf, nach der Persönlichkeitsmerkmale an Wölbungen des Schädels abzulesen sind.
SPÄTER
1874 Carl Wernicke ordnet neurologische Störungen spezifischen Hirnarealen zu.
1909 Der Neurologe Korbinian Brodmann kartiert 52 Regionen der Großhirnrinde.
1981 Der US-Psychologe Roger Sperry bekommt den Medizin-Nobelpreis für seine Forschung über die funktionelle Spezialisierung der Hirnhälften.
Jahrhundertelang war das Studium des Gehirns von der Intuition beherrscht, verschiedene Teile des Organs seien für verschiedene Fähigkeiten verantwortlich, etwa Emotion, Intelligenz und Sprache. Diese Annahme beruhte lange Zeit auf reinen Vermutungen. Ende des 19. Jahrhunderts dominierte die Phrenologie, die Gehirnfunktionen auf den Schädel kartierte und davon ausging, dass Intellekt, Begabungen und sogar Laster einer Person durch sorgfältige Vermessung ihrer Schädelform festgestellt werden könnten. Die Idee kam allmählich aus der Mode, da es keinerlei klinische Evidenz gab. Dann aber, 1861, erbrachte der französische Arzt Paul Broca den ersten Beweis, dass Hirnfunktionen tatsächlich lokalisiert sind. Er entdeckte, dass eine spezifische Fähigkeit – die Sprache – von einem speziellen Gehirnteil kontrolliert wird.
Broca-Areal und Wernicke-Areal sitzen bei 95 Prozent aller Menschen auf der linken Seite des Gehirns, weil diese Seite bei den meisten dominant ist.
Die Region, die Broca identifizierte, liegt im Stirnlappen. Broca entdeckte sie in Paris beim Studium zweier Patienten, die infolge schwerer neurologischer Probleme an Aphasie litten – Problemen beim Formulieren von Sprache. Der erste war Louis Victor Leborgne, ein 51-jähriger Mann, der seine Sprachfähigkeit mit 30 verloren hatte. Alles, was er sagen konnte, war »tan«, so nannte man ihn schließlich auch. Tan konnte perfekt hören, und er konnte sich verständlich machen, indem er seine Intonation veränderte und Handgesten benutzte. Damit war klar, dass sein Denken nicht betroffen war.
»Die Ausprägung des Symptoms der Aphemie [Aphasie] hing nicht von der Ausprägung der Krankheit ab, sondern nur von ihrer Lokalisation.«
Paul Broca, 1861
Tan ging es sehr schlecht und er starb nur wenige Tage, nachdem Broca ihn kennengelernt hatte. Broca nahm eine Autopsie vor und fand eine Verletzung in Tans Gehirn – in der Region, die inzwischen Broca-Areal heißt.
Wenig später traf Broca Lazare Lelong, einen 84-Jährigen, der einen Schlaganfall erlitten hatte. Er konnte nur fünf Wörter sprechen: »oui«, »non«, »trois«, »toujours« und »lelo« (für Lelong). Als er starb, sah Broca, dass Lelong einen Schaden in derselben Hirnregion hatte wie Tan. Heute würden beide Patienten die Diagnose Broca-Aphasie (oder expressive Aphasie) erhalten. Wer darunter leidet, kann Sprache verstehen, aber nur kurze Sätze im Telegrammstil sprechen.
1874 identifizierte der deutsche Arzt Carl Wernicke ein weiteres Sprachzentrum im Gehirn. Ein Schaden in diesem Areal führt zur Wernicke-Aphasie (oder rezeptive Aphasie), charakterisiert durch »Wortsalat«: Die Betroffenen sprechen flüssig, aber nicht in sinnvollen Sätzen. Sie haben auch Schwierigkeiten zu verstehen, was man zu ihnen sagt.
Frauen haben wegen ihrer geringeren Körpergröße ein kleineres Gehirn als Männer, aber ein größeres Broca-Areal – im Gegensatz zu den sexistischen Annahmen, die Paul Broca vertrat.
In den 1960er-Jahren wurde entdeckt, dass jede Hirnhälfte die Welt unterschiedlich erlebt. Während die linke Hälfte abstrakt und analytisch ist, ist die rechte visuell-räumlich. Bei den meisten Menschen liegt die Sprachfunktion links, bei einzelnen jedoch rechts oder beidseitig.
Paul Broca
Geboren 1824 in Sainte-Foy-la-Grande bei Bordeaux, war Paul Broca eine Art Wunderkind: Sein Abitur hatte er mit 16, mit 20 war er Arzt. Er machte Karriere als Mediziner und übte seinen Einfluss in vielen Medizinerverbänden aus. Außer für die Neurowissenschaften interessierte er sich für Anthropologie und gründete 1859 die Société d’Anthropologie de Paris.
Broca glaubte, die menschlichen Rassen seien verschiedene Arten von verschiedener Herkunft. Sein Interesse am Gehirn rührte von seiner Suche nach einer Verbindung zwischen Intelligenz, Herkunft und Schädelgröße her. Ohne seine anthropologischen Arbeiten hätte er die Patienten, die zu seiner berühmten Entdeckung führten, nicht getroffen. Doch diese Arbeiten waren von zeitgenössischem Sexismus und Rassismus geprägt. Broca war später Mitglied des französischen Senats. Er starb 1880.
Hauptwerk
1861 Bemerkungen über den Sitz der Artikulationsfähigkeit anhand eines Falls von Aphemie (Sprachverlust)