IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Emil du Bois-Reymond (1818–1896)
FRÜHER
1791 Der italienische Arzt und Physiker Luigi Galvani stellt fest, dass elektrischer Strom Muskelkontraktionen bewirkt.
1830 Carlo Matteucci zeigt, dass Zellmembranen eine Potenzialdifferenz zwischen Innen- und Außenseite haben.
1837 Der Tscheche Jan Evangelista Purkinje identifiziert die ersten Nervenzellen.
SPÄTER
1862 Der französische Neurologe Duchenne de Boulogne löst bei Versuchspersonen gezielt Gesichtsausdrücke aus, indem er Elektroden an Nerven anlegt.
1952 Andrew Huxley, Alan Hodgkin und der britische Arzt Bernard Katz entschlüsseln den chemischen Prozess, der das Aktionspotenzial bewirkt.
Das Nervensystem ist ein Netzwerk von Milliarden langer Nervenzellen (Neurone), das alle Körperteile durchzieht. Entlang der Neurone und zwischen ihnen werden ständig Signale gesendet und empfangen. Die Signale, die an einem Neuron entlanglaufen, sind Pulse elektrischer Ladung – Aktionspotenziale. Einmal ausgelöst, läuft diese Alles-oder-nichts-Reaktion das ganze Neuron entlang. Das Phänomen wurde von dem deutschen Physiologen Emil du Bois-Reymond in den späten 1840er-Jahren entdeckt.
»Der Zoologe freut sich über die Unterschiede zwischen Tieren, wohingegen der Physiologe froh wäre, wenn alle Tiere im Grundsatz auf dieselbe Art funktionieren würden.«
Alan Hodgkin
Chance and Design, 1992
Du Bois-Reymond war eine Gründerfigur der Elektrophysiologie, einem Feld, das sich mit den elektrischen Eigenschaften biologischer Gewebe und der Messung elektrischer Ströme befasst. Es hat seinen Ursprung im Elektromagnetismus – einem Zweig der Physik, der 1820 aufkam, als man entdeckte, dass Elektrizität und Magnetismus Aspekte derselben physikalischen Kraft sind. Ein Ergebnis dieser Erkenntnis war die Erfindung des Galvanometers, eines Instruments, das mithilfe von Magneten elektrische Ströme und ihre Stärke misst. Frühe Forschungen betrieb der italienische Physiker Carlo Matteucci. Mit einem Galvanometer zeigte er, dass lebendes Gewebe elektrisch aktiv ist. Er baute einen Spannungsdetektor aus dem Beinmuskel eines Froschs und seinem Ischiasnerv. Der Muskel zuckte, wenn er einer elektrischen Ladung ausgesetzt wurde.
Das Aktionspotenzial ist ein Puls positiver Ladung, der ein Neuron entlangfließt. Er stimuliert spannungsgesteuerte Kanäle, sich zu öffnen, wodurch Natriumionen (Na+) in den nächsten Abschnitt des Nervs fließen. Nach 1 ms schließen sich die Kanäle, andere öffnen sich und lassen Kaliumionen (K+) aus der Zelle ausströmen.
Du Bois-Reymond baute Matteuccis »Froschelektroskop« nach und fand heraus, dass die Ladung im Nerv ansteigt, wenn er elektrifiziert wird, dass sie jedoch abnimmt, wenn die Ladung im Muskel zunimmt. Er interpretierte das als Beweis eines Ladungspulses, der am Nerv entlangläuft.
Ein früherer Student Bois-Reymonds, Julius Bernstein, stellte 1902 die Hypothese auf, dass der Mechanismus des elektrischen Pulses eine Änderung in der Konzentration der positiv geladenen Natrium- und Kaliumionen (Na+ und K+) quer zur Membran der Nervenzellen sein könnte. Es war jedoch nicht möglich, solche winzigen elektrischen Effekte zu messen.
In den 1940er-Jahren bestätigten die britischen Physiologen Alan Hodgkin und Andrew Huxley Bernsteins Hypothese mithilfe von Mikroelektroden. An Riesenneuronen eines Tintenfischs – dick genug, um Spannung über die Membran hinweg zu messen – fanden sie heraus, dass die Zelle im Ruhezustand ein Gleichgewicht geladener Teilchen aufrechterhält, das in einer negativen Ladung innerhalb der Zelle im Vergleich zu außen resultiert. Diese Ladungsdifferenz oder Polarisation ist das Membranpotenzial.
Wenn sie elektrisch stimuliert wird, öffnet die Zellmembran Poren (spannungsgesteuerte Kanäle), die Natriumionen in die Zelle fließen lassen, was die Zelle depolarisiert. Die innere Ladung wird kurz positiv, was benachbarte Na+-Kanäle dazu bringt, sich ebenfalls zu öffnen – so entsteht ein Stromstoß entlang des Nervs. Die Na+-Kanäle schließen sich dann und K+-Kanäle öffnen sich. Sie setzen Kaliumionen frei und stellen das Membranpotenzial wieder her.
Emil du Bois-Reymond
1818 in Berlin geboren, ging Emil du Bois-Reymond auf das französische Gymnasium und studierte dann Medizin an der Universität von Berlin. Johannes Peter Müller, Professor für Anatomie und Physiologie, erkannte sein Talent und ernannte den Studenten zu seinem Assistenten.
Müller führte seinen Protegé in die Arbeiten von Carlo Matteucci ein. Du Bois-Reymond war begeistert und wählte »Elektrische Fische« als Promotionsthema – der Beginn einer langen Karriere in der Bioelektrizität.
1858 wurde du Bois-Reymond Professor für Physiologie in Berlin, 1867 wurde er zum Sekretär der Akademie der Wissenschaften ernannt. Stets philosophisch, formulierte er in einer Rede an die Akademie 1880 sieben »Welträtsel«, die die Wissesnchaft sich vornehmen müsse; einige davon – wie die Frage des freien Willens – sind noch immer ungelöst. Du Bois-Reymond starb 1896 in seiner Geburtsstadt.
Hauptwerk
1848/84 Untersuchungen über tierische Elektrizität