IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Korbinian Brodmann (1868–1918)
FRÜHER
1837 Der Tscheche Jan Purkinje beschreibt als Erster ein Neuron; Purkinjezellen findet man im Hinterhirn.
1861 Paul Broca identifziert einen Hirnteil, der einer spezifischen Funktion entspricht – der Sprachproduktion.
SPÄTER
1929 Die Psychologen Karl Lashley und Shepherd Franz zeigen die Äquipotenzialität des Gehirns: Gesunde Teile können die Rolle geschädigter Teile übernehmen.
1996 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) hilft Forschern, das Gehirn in Aktion zu beobachten und kognitive Aktivitäten spezfischen Arealen zuzuordnen.
Das Gehirn der Wirbeltiere – wie wir es vom Fisch bis zum Menschen antreffen – besteht aus drei Abschnitten: Vorderhirn, Mittelhirn und Hinterhirn. Hinter- und Mittelhirn sind die urtümlichsten Strukturen: Wir wissen das, weil sie die dominanten Teile von Gehirnen sind, die sich vor langer Zeit entwickelt haben, und weil sie grundlegenden Funktionen wie der Atmung gewidmet sind. Das Vorderhirn ist mit fortgeschritteneren, kognitiven Rollen verknüpft, etwa Intelligenz. Das menschliche Vorderhirn macht 90 Prozent des gesamten Organs aus und Tiere mit fortgeschrittenen Fähigkeiten wie Delfine und Primaten haben auch große Vorderhirne. Im frühen 20. Jahrhundert schuf der deutsche Neurologe Korbinian Brodmann die erste detaillierte funktionelle Landkarte des höchstentwickelten Teils des Vorderhirns: der Großhirnrinde.
Der größte Teil des Gehirns ist das Großhirn. Es ist in zwei Hälften geteilt. Seine äußere Schicht ist die Großhirnrinde. Sie bsteht aus vier Lappen, mit je unterschiedlicher Funktion.
Vom Volumen her besteht das Vorderhirn vor allem aus weißer Substanz – Bündel neuronaler Bahnen, die weiß aussehen, weil die Nerven in einer Fettschicht namens Myelin eingehüllt sind. Myelin wirkt ähnlich wie die Isolierschicht um einen elektrischen Draht; es erlaubt Nervensignalen, sich schneller über große Distanzen zu verbreiten. Die weiße Substanz hat Verbindungen zum Mittelhirn und darüber hinaus, sie verbindet auch einzelne Regionen des Vorderhirns. Das Vorderhirn umfasst das gesamte Großhirn sowie tiefere Strukturen wie Thalamus, Hypothalamus, die Hypophyse und das limbische System. Die äußere Schicht des Großhirns ist die Großhirnrinde (der Kortex). Sie besteht aus grauer Substanz; die Nervenzellen hier sind dichter gepackt und haben keine Myelinhüllen, erscheinen also grau. Im Kortex finden kognitive Funktionen wie Denken, Gedächtnis, Sprache und Vorstellung statt – all dies in einer Masse grauer Substanz, die etwa 2,5 mm dick ist. Die kortikalen Neurone erstrecken sich von der Oberfläche abwärts in unterschiedliche Tiefen, je nach den Hirnteilen, mit denen sie verbunden sind. Die tieferen Schichten sind mit dem Hinterhirn verbunden sowie mit dem Thalamus (der das Gehirn an das zentrale Nervensystem anschließt). Die Neurone, die in den Zwischenschichten verlaufen, verbinden einzelne Teile des Kortex.
Die Rechenleistung der Großhirnrinde wird von ihrer Oberfläche begrenzt. Zur Vergrößerung der Oberfläche ist deshalb der Kortex der Menschen und der meisten Säugetiere stark gefaltet. Die Kortexstruktur ist durch tiefe Furchen (Sulci) und Windungen (Gyri) gegliedert. Die tiefsten Sulci markieren die Grenzen zwischen den vier Großhirnlappen. Diese sind benannt nach den Schädelknochen, unter denen sie sitzen: Frontal-, Temporal-, Parietal- und Okzipitallappen. Zusätzlich ist das Großhirn in eine linke und eine rechte Hälfte geteilt, die in etwa spiegelbildlich zueinander sind. Die beiden Hälften kommunizieren über ein dickes Bündel weißer Substanz namens Corpus callosum (Balken). Heute ist weithin bekannt, dass der Frontallappen (Stirnlappen) mit dem Gedächtnis zu tun hat, der Okzipitallappen mit dem Sehen und der Temporallappen mit Sprache. Diese Idee der funktionalen Zonen ist im Wesentlichen richtig, aber die verschiedenen Zonen arbeiten auch eng zusammen.
Brodmanns Zeichnung eines Menschengehirns (in Seitenansicht) zeigt viele seiner nummerierten Areale. Diese wurden nach ihrer zellulären Struktur und ihrer Schichtung unterschieden.
Bis in die 1860er-Jahre beruhte die funktionelle Gliederung des Gehirns auf Vermutungen. Dann fand der französische Chirurg Paul Broca eine Region im Frontallappen, die die Artikulation der Sprache kontrolliert. Bei Autopsien identifizierte er, was heute Broca-Areal heißt, im Gehirn von Patienten mit Sprachverlust. Beobachtungen von Hirnschäden halfen, auch andere funktionelle Areale zu bestimmen.
Im späten 19. Jahrhundert stritten sich zwei Riesen der Neurowissenschaft um die Frage, wie die Neurone des Gehirns verbunden sind. Der italienische Pathologe Camillo Golgi behauptete, das Gehirn bestehe aus einem kontinuierlichen »Nervennetz«, in dem jeder Teil mit jedem anderen verbunden ist, wohingegen der spanische Arzt Santiago Ramón y Cajal erklärte, es gebe keine physische Verbindung zwischen den Zellen.
Diese entgegengesetzten Anschauungen spiegelten die politischen Positionen der Männer wider. Golgi, der während der Einigung Italiens ein junger Mann war, war der Idee verhaftet, das Gehirn sei in einem Bündnis von Einheiten organisiert. Ramón y Cajals Politik war auf die Kraft des Individuums fokussiert. Er nannte das Neuron einen »autonomen Kanton«, der wählen könne, wann und wie er mit Nachbarn zusammenarbeitet.
»Die spezifische … Differenzierung von Rindenarealen beweist unwiderlegbar deren spezfische funktionelle Differenzierung.«
Korbinian Brodmann
In den 1870er-Jahren entdeckte Golgi »die schwarze Reaktion« – eine Färbemethode für Neuronen. 14 Jahre später benutzte Ramón y Cajal die Reaktion mit einem stärkeren Mikroskop und einem besseren Mikrotom (einem Instrument, das Gewebe in dünne Scheiben schneidet). Nun konnte er sehen, dass die Neurone durch einen winzigen Spalt (die Synapse) getrennt sind. Dies legte nahe, dass das Gehirn aus diskreten Nervenschaltkreisen konstruiert ist, die gegenüber den umliegenden isoliert sind. Etliche Forscher, darunter Korbinian Brodmann, begannen nun, diese Areale zu kartieren.
Brodmann benutzte Färbungen, die anzeigten, wo in den Zellen Proteine gebildet werden. Er war so in der Lage, 52 Areale im Kortex zu identifizieren, in denen die Zellen getrennte physische Netzwerke bilden. Beim Vergleich von Makaken- und Menschengehirnen fand er nur wenige Unterschiede in der Organisation. Einige der Areale, genannt Brodmann-Areale, waren schon bekannt – die Areale 44 und 45 beispielsweise stimmen mit dem Broca-Areal überein. Brodmanns Organisationskarte und vergleichbare Karten bedeuteten, dass Neurowissenschaftler Funktionen mit kortikalen Lokalisationen verknüpfen konnten. Dies bestimmt die Neurowissenschaften bis heute.
Seit den 1970er-Jahren ermöglichen sichere medizinische Bildgebungsverfahren Neurowissenschaftlern einen noch genaueren Blick auf das lebende Gehirn in Aktion. Das Hauptwerkzeug ist heute der fMRT-Scanner (funktionelle Magnetresonanztomografie). Dabei werden Wasserstoffatome mit einem kraftvollen Magneten angeregt und ihre Lage mit Radiowellen ermittelt. Das Gehirn wird dabei in feinen Scheiben durchmustert und ein detailliertes dreidimensionales Bild aufgebaut. Außer für die Diagnose von Hirnschäden ist fMRT auch für die psychologische Forschung wertvoll, etwa bei der Analyse von Lernprozessen.
Rote Areale im fMRT-Scan (Sicht von oben) zeigen an, welche Hirnteile aktiv sind, während die Versuchsperson Gedächtnisaufgaben erledigt.
Motorkortex, sensorischer und visueller Kortex
In den 1870er-Jahren wusste man schon, dass man Muskelbewegungen auslösen kann, wenn man elektrische Ströme an bestimmte Teile des Kortex anlegt. In den 1880er-Jahren fand der schottische Neurologe David Ferrier bei Tierversuchen, dass Willkürbewegungen von einem Band des Frontallappens an der Grenze zum Parietellappen ausgelöst werden. Es wurde später als Brodmann-Areal 4 identifiziert. Weitere Forschung ergab, dass die Körperteile den Arealen dieses primären Motorkortex wie auf einer Karte zugeordnet sind – die Kontrolle der Zehen beispielsweise ist tief in der Längsspalte zwischen den Hirnhälften lokalisiert.
Der primäre somatosensorische Kortex im Parietallappen (Brodmann-Areale 1, 2 und 3) verarbeitet sensorische Informationen wie Berührung und Schmerz, der primäre visuelle Kortex (Brodmann-Areal 17) deutet die Informationen der Netzhaut.
Korbinian Brodmann
Geboren 1868 in Süddeutschland, studierte Brodmann Medizin an verschiedenen deutschen Hochschulen und erhielt seine Approbation mit 27. Nach einer kurzen Phase als praktischer Arzt spezialisierte er sich in seinen 30ern auf Psychiatrie und Neurologie und hatte Kontakt mit Alois Alzheimer (dem Entdecker der nach ihm benannten Demenz). Alzheimer ermutigte ihn zur Hirnforschung. Seine Landkarte des menschlichen Kortex produzierte Brodmann 1909, während er an einem privaten Forschungsinstitut in Berlin arbeitete. Das Institut wurde von den Neurologen Oskar und Cécile Vogt geleitet.
Brodmann nahm 1910 eine Stelle an der psychiatrischen Klinik der Universität Tübingen an und wude dort 1913 Professor. Von 1916 an arbeitete er am Landeskrankenhaus in Halle, dann zog er nach München, um dort zu forschen. 1918, kurz nach seinem Umzug nach München, starb er an einer Sepsis.
Hauptwerk
1909 Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde