IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Eric Kandel (*1929)
FRÜHER
4. Jh. v. Chr. Plato vergleicht das Gehirn mit einer Wachstafel, die in »Größe, Sauberkeit und Konsistenz« variiere.
1949 Der Psychologe Donald Hebb entwirft die Idee der synaptischen Plastizität.
1959 Brenda Milner identifiziert den Hippocampus als den Ort, an dem Kurzzeiterinnerungen in Langzeiterinnerungen umgewandelt werden.
SPÄTER
1971 Am University College London entdecken John O’Keefe und sein Student Jonathan Dostrovsky »Ortszellen« (für Ortserinnerungen) im Hippocampus von Ratten.
2008 Der Mikrobiologe Nahum Sonenberg entdeckt die Bedeutung der Proteinsynthese für die Speicherung von Erinnerungen.
Bald nachdem der spanische Arzt und Neurowissenschaftler Santiago Ramón y Cajal die Synapsen entdeckt hatte, sagte er voraus, diese könnten wichtig sein für das Speichern von Erinnerungen. Das war in den 1890er Jahren. Doch es dauerte noch bis in die 1970er-Jahre, bis der österreichisch-amerikanische Neurobiologe Eric Kandel bei seinen Experimenten an Meeresschnecken zeigte, dass Synapsen in der Tat im Zentrum des Gedächtnisses stehen und Ramón y Cajal recht hatte.
Kandel bewies, dass Erinnerungen durch Veränderungen an den Synapsen entstehen und dass Lernvorgänge eine Kaskade von Neurotransmittern aktivieren, um Verbindungen zwischen Neuronen zu verstärken.
Kandels Forschung konzentrierte sich auf einfache erlernte Reaktionen: Die Meeresschnecken wurden konditioniert. Tiere zu konditionieren war nicht neu. 1902 hatte der russische Wissenschaftler Iwan Pawlow in einem berühmten Experiment gezeigt, dass Hunde darauf trainiert werden können, auf einen Reiz, etwa einen Glockenton, zu reagieren, wenn dieser mit Futter verbunden ist. Die Reaktion der Hunde beansprucht ihren ganzen Körper – wie kann ihr Nervensystem lernen, eine so komplexe Körperreaktion zu koordinieren?
1949 äußerte der kanadische Psychologe Donald Hebb die Idee, dass die Bildung einer neuen Erinnerung die Umleitung von Nervenfasern und die Veränderung von Synapsen erfordert – einen Prozess, den er synaptische Plastizität nannte. Neurowissenschaftler unterscheiden zwischen Kurzzeitgedächtnis (Erinnerungen, die höchstens ein paar Stunden halten) und Langzeitgedächtnis (Erinnerungen, die Wochen oder gar ein ganzes Leben halten). Eine Langzeiterinnerung zu erzeugen, so erklärte Hebb, benötigt Wiederholungen, die bestimmte synaptische Verbindungen festigen. Sein Ausspruch »Neurons that fire together wire together« (Nerven, die zusammen feuern, verbinden sich) wurde berühmt. Neurowissenschaftler unterscheiden auch zwischen deklarativem und prozeduralem Gedächtnis. Deklarative Erinnerungen sind Fakten oder bewusst erinnerte Ereignisse, etwa eine Lieblingsgeschichte. Prozedurale oder nicht deklarative Erinnerungen sind Fähigkeiten und Gewohnheiten, die so tief gelernt sind, dass sie unbewusst ablaufen – etwa, einen Ball zu schlagen.
1953 wurde der Epilepsiepatient »H. M.« am Gehirn operiert. Dabei wurde ein Teil entfernt, der Hippocampus heißt – ab da konnte er keine neuen Erinnerungen mehr bilden. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin Brenda Milner untersuchte H. M. und konnte beweisen, dass der Hippocampus der Ort ist, wo Kurzzeiterinnerungen in Langzeiterinnerungen überführt werden.
Als Kandel in den 1960er-Jahren mit seiner Arbeit begann, erkannte er, dass es unmöglich wäre, Synapsen im außerordentlich komplexen menschlichen Hippocampus zu untersuchen. Deshalb konzentrierte er seine Forschung auf das Gehirn der Meeresschnecke Aplysia, die nur ein paar Tausend Nervenzellen hat. Aplysia verfügt über einen Reflex, der bei Gefahr ihre Kiemen schließt. Kandel brachte der Schnecke bei, den Kiemenreflex als Reaktion auf einen Stromstoß auszuführen. Schwache Reize bewirkten bestimmte chemische Veränderungen in den Synapsen der Schnecke, die zu Kurzzeiterinnerungen führten, starke Reize riefen andere Veränderungen und damit Langzeiterinnerungen hervor.
» Das ganze Leben ist nichts als Erinnerung, bis auf den jeweils letzten Augenblick.«
Eric Kandel,
den amerikanischen Dramatiker Tennessee Williams zitierend
Kandel und andere arbeiteten heraus, dass das Speichern von Langzeiterinnerungen dauerhafte Veränderungen in den Synapsen erfordert. Ein typisches Neuron hat Verbindungen zu 1200 anderen, aber ein Neuron, das wiederholten Reizen ausgesetzt war, kann doppelt so viele Verbindungen haben. Das Gehirn hat einen hohen Grad synaptischer Plastizität: Es ist sehr offen dafür, Verbindungen herzustellen – vor allem in der Jugend.