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ES WIRD KEINE POCKEN MEHR GEBEN

IMPFUNG ZUR VORBEUGUNG

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUR

Jonas Salk (1914–1995)

FRÜHER

1796 Edward Jenner verimpft Kuhpocken gegen die hochansteckenden, tödlichen Pocken.

1854 In seiner Arbeit über Cholera verknüpft der italienische Arzt Filippo Pacini zum ersten Mal eine Krankheit mit einem speziellen Bakterium.

1885 Louis Pasteur erfindet einen Impfstoff gegen Tollwut.

SPÄTER

1962 Der erste Polioimpfstoff, der oral verabreicht werden kann, wird zugelassen.

1968 Ein Masernimpfstoff, entwickelt von Maurice Hilleman, ist erhältlich.

1980 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündet, dass die Pocken global ausgerottet sind.

Eine Impfung verleiht eine aktive Immunität gegenüber einer Krankheit. Der große Beitrag des amerikanischen Virologen Jonas Salk bestand darin, die erste effektive Impfung gegen Poliomyelitis (Polio) einzuführen, eine Krankheit, die eine Lähmung des Rückenmarks und der Atemmuskulatur bewirkt und oft tödlich ist. Die Krankheit existiert seit Tausenden von Jahren, größere Ausbrüche gab es in Europa und den USA im späten 19. Jahrhundert. 1952 erlebten die USA einen Ausbruch mit 58 000 Fällen; 3000 Menschen starben und 21 000 behielten eine Lähmung zurück. Salk wollte Immunität erzeugen, indem er das Poliovirus abtötete und es in den Blutstrom gesunder Menschen injizierte. Er argumentierte, das harmlose tote Virus würde das Immunsystem des Körpers stimulieren, Antikörper zu produzieren, die ihn gegen künftige Poliovirus-Attacken immunisieren. Salk behielt Recht und 1954 wurde ein Immunisierungsversuch an Kindern in Kanada, den USA und Finnland gestartet. Sein Impfstoff, ein sogenannter Totimpfstoff, wurde im Jahr darauf in den USA eingesetzt. 1961 gab es in den USA nur noch 161 Poliofälle.

Ebenfalls in den 1950er-Jahren kam der polnisch-amerikanische Virologe Albert Sabin zu der Überzeugung, das Poliovirus lebe zunächst im Darm, bevor es das zentrale Nervensystem attackiert. Er isolierte eine mutierte Form des Virus, die nicht in der Lage war, die Krankheit auszulösen, und verabreichte sie Freunden, Verwandten, Arbeitskollegen und sich selbst. Sein Impfstoff nutzte eine abgeschwächte, nicht tödliche Form des Virus, die Schutz vor der tödlichen Form verleiht. Diese Methode nennt man einen abgeschwächten (attenuierten) Impfstoff. Er kann oral verabreicht werden, was es leichter und billiger macht, viele Menschen zu impfen. 1962 in den USA zugelassen, wurde der Impfstoff weltweit Millionen Menschen verabreicht. 2020 verkündete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Poliovirus komme nur noch in zwei Ländern vor: Pakistan und Afghanistan.

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Massenhafte Impfungen gegen Polio begannen in den 1950er-Jahren. Kinder sollten »Spaß« dabei haben und bekamen einen Lutscher zum Dank.

»Es gibt kein Patent. Kann man die Sonne patentieren?«

Jonas Salk

auf die Frage, wem das Patent für seinen Polioimpfstoff gehört

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Eine lange Geschichte

Die Pocken sind eine Infektionskrankheit, die um 10 000 v. Chr. entstanden sein muss. Allein im 20. Jahrhundert hat sie schätzungsweise 300 Mio. Todesopfer weltweit gefordert. Versuche, sie zu bekämpfen, begannen im China des 15. Jahrhunderts. Ärzte bliesen pulverisierten Pockenschorf in die Nase gesunder Menschen, um die Krankheit zu verhindern. Ein anderer Ansatz bestand darin, etwas Eiter von einem Pockenpatienten einer nicht immunen Person mit einem Kratzer zu verabreichen. Diese Technik (Variolation) funktionierte oft, aber nicht immer – und manchmal starben die Geimpften.

In den 1760er-Jahren interessierte sich der britische Arzt Edward Jenner für die Pocken. Es war bereits bekannt, dass Überlebende einer Pockeninfektion immun werden, er selbst war als Kind varioliert worden. Jenner hörte, dass Molkereimitarbeiter selten Pocken bekommen, weil sie sich an den Kühen, die sie melken, oft mit Kuhpocken anstecken. Kuhpocken lösen bei Menschen nur milde Symptome aus. 1796 nahm Jenner etwas Eiter aus der Hand von Sarah Nelms, einer Milchmagd mit Kuhpocken, und kratzte ihn in den Arm des achtjährigen James Phipps. Phipps bekam leichtes Fieber, aber innerhalb von zehn Tagen ging es ihm besser. Sechs Wochen später injizierte ihm Jenner echte Pocken. Der Junge bekam die Krankheit nicht.

Obwohl es Zweifel gab, konnte Jenner Anfang des 19. Jahrhunderts viele Ärzte überzeugen, Kuhpocken als Impfstoff gegen Pocken zu verwenden. Seine unermüdliche Kampagne bewirkte, dass der Impfstoff weltweit eingeführt wurde. Spätere Versionen des Impfstoffs retteten Millionen Menschenleben. Was dies umso bemerkenswerter macht: Wissenschaftler verstanden zu der Zeit noch nicht, dass die Krankheit durch Keime verursacht wird. Dies wurde erst später geklärt – durch den französischen Mikrobiologen Louis Pasteur.

Weitere Impfungen

Pasteur gelangen in den 1880er-Jahren große Durchbrüche bei der Entwicklung von Impfstoffen. Er bemerkte, dass alte Kulturen des Bakteriums Pasteurella multicida, das Hühnercholera verursacht, über mehrere Generationen hinweg weniger virulent (attenuiert) geworden waren. Wenn er Hühner mit den attenuierten Bakterien impfte, wurden sie resistent gegen den ursprünglichen, virulenten Stamm.

Dann wandte Pasteur seine Aufmerksamkeit dem Milzbrand zu, einer Krankheit, die durch das Bakterium Bacillus anthracis verursacht wird. Milzbrand, der bei Menschen tödlich verläuft, tötete auch Millionen Schafe. Pasteur experimentierte mit zwei Gruppen von Schafen. Er demonstrierte, dass diejenigen, die mit einer attenuierten Kultur des Bakteriums geimpft worden waren, überlebten, wenn sie später eine hohe virulente Dosis erhielten. Die ungeimpften Schafe starben.

Zur letzten Aufgabe machte sich Pasteur eine Impfung gegen Tollwut. Sie wird durch ein Virus verursacht – zu klein, um es im Lichtmikroskop zu sehen. Trotzdem konnte Pasteur das Virus in Kaninchen züchten und schwächte es dann ab, indem er das virenbefallene Nervengewebe der Tiere trocknete. 1885 behandelte er einen Jungen, der von einem tollwütigen Hund gebissen worden war: Im Lauf von elf Tagen gab er ihm 13 Spritzen mit zunehmender Virulenz. Drei Monate später war das Kind wieder gesund und Pasteurs Impfstoff wurde als großer Erfolg gefeiert.

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Jenners Pockenimpfung stieß einige Zeit auf Widerstand, trotz ihres offensichtlichen Erfolgs. James Gillrays Karikatur von 1802 macht sich darüber lustig: Während eine Frau geimpft wird, sprießen aus den Umstehenden Kühe.

Erworbene Immunität

Wissenschaftler verstehen heute, dass das Immunsystem des Körpers ein Netzwerk von Zellen, Geweben und Organen ist. Wenn Pathogene in den Körper eindringen, antwortet ein gesundes Immunsystem mit der Produktion großer Proteine, genannt Antikörper. Jeder Typ Antikörper ist spezifisch für ein bestimmtes Pathogen und zerstört diejenigen, die noch im Körper vorhanden sind, nachdem die Infektion abgeklungen ist. Kehrt sie zurück, hat das Immunsystem ein »Gedächtnis« für das Pathogen und kann schnell antworten.

Impfungen wirken nach demselben Prinzip, verleihen aber Immunität, bevor der Körper befallen worden ist. Ein Impfstoff enthält eine abgeschwächte, inaktive oder künstliche Form des Pathogens, gegen das geimpft wird. Nach der Injektion löst er eine Immunantwort und nur milde (oder keine) Symptome der Krankheit aus. In den 1940er-Jahren wurde ein Totimpfstoff gegen die Grippe entwickelt. Allerdings verändern sich die Viren so schnell, dass die Effektivität des Impfstoffs mit der Zeit abnimmt. Heute werden Grippeimpfstoffe jedes Jahr angepasst: Totimpfstoffe werden schwangeren Frauen und Menschen mit chronischen Krankheiten gegeben, eine abgeschwächte Version erhalten Menschen ohne Vorerkrankungen.

»Die Pocken sind tot!«

Weltgesundheitsorganisation

(1980)

1968 entwickelte Maurice Hilleman, ein amerikanischer Mikrobiologe, einen attenuierten Impfstoff gegen Masern, eine der ansteckendsten bekannten Krankheiten überhaupt. Vor der breiten Einführung von Impfungen verursachten Masern rund 1,6 Mio. Todesfälle pro Jahr. Der Impfstoff wird nun Millionen Kindern rund um die Welt gegeben. In den 1990er-Jahren wurden auch Impfstoffe gegen Hepatitis (Gelbsucht), eine von Viren verursachte Lebererkrankung, entwickelt.

Toxine als Ziel

Tetanus und Diphtherie entstehen, weil Pathogene Gifte (Toxine) absondern. Sie werden mit Toxoidimpfstoffen behandelt. Diese rufen eine Immunantwort gegen das Toxin statt gegen das ganze Pathogen hervor. Untereinheitsimpfstoffe zielen auf einen speziellen Teil des Pathogens: ein Protein, einen Zucker oder die äußere Hülle.

Ein Beispiel ist der Impfstoff gegen das humane Papillomavirus (HPV), einen sexuell übertragbaren Erreger, der Krebs auslösen kann. Der Impfstoff besteht aus kleinen Proteinen, die der Außenseite des HPV ähneln. Das Immunsystem des Körpers glaubt, es mit HPV zu tun zu haben, und produziert Antikörper. Wenn jemand dann mit dem echten HPV in Berührung kommt, verhindern die Antikörper, dass es in die Zellen eindringen kann. Da der Impfstoff kein Virus enthält, kann er keinen Krebs auslösen. image

Variolation

Bei einem Aufenthalt in Konstantinopel (heute Istanbul) im Jahr 1716 erfuhr die englische Adlige Mary Montagu, dass die Praxis der Variolation zum Schutz vor Pocken im Osmanischen Reich weitverbreitet war. Sie und ihr Bruder hatten zuvor die Krankheit gehabt, ihr Bruder war gestorben. Auf ihr Verlangen hin impfte der Arzt der britischen Botschaft ihren kleinen Sohn. Nach ihrer Rückkehr wurde Montagu zu einer leidenschaftlichen Verfechterin der Impfung. 1768 lud Katharina die Große, Kaiserin von Russland, den schottischen Arzt Thomas Dinsdale ein, sie und ihren Sohn zu impfen, um zu zeigen, dass die Impfung sicher und effektiv ist. Sie entwickelte nach der Prozedur eine milde Erkrankung, war aber nach 16 Tagen wieder gesund. Ihre Aktion überzeugte 20 000 ihrer Untertanen, ihrem Beispiel zu folgen. Dennoch: Pockenvariolation war nicht risikolos. Geimpfte konnten eine milde Form der Krankheit weitergeben – und manchmal auch selbst daran sterben.

Ringimpfung

Mitte der 1960er-Jahre hatten Impfprogramme die Pocken in Europa und Nordamerika ausgerottet. 1967 gab es jedoch noch 132 000 Fälle anderswo in der Welt, und diese Zahl war ziemlich sicher zu niedrig geschätzt.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entschied sich, teure und nicht zielgerichtete Massenimpfungen aufzugeben und wandte stattdessen erfolgreich Ringimpfungen an. Bei diesem Ansatz werden alle Personen identifiziert, die mit einem Erkrankten in Kontakt gekommen sein könnten (der sogenannte innere Ring). Sie kommen in Quarantäne und werden geimpft. Ein äußerer Ring – jeder, der mit diesen Personen in Kontakt gekommen sein könnte – wird dann ebenfalls geimpft.

Indien, eine der letzten Bastionen der Pocken, verzeichnete 1974 noch 86 Prozent der weltweiten Pockenfälle, aber nach dem Start von Ringimpfungen gab es innerhalb von zwei Jahren keine Fälle mehr. 1980 verkündete die WHO die weltweite Ausrottung der Pocken.