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MANCHE ORGANISMEN HABEN DIE SEXUELLE REPRODUKTION AUFGEGEBEN

ASEXUELLE REPRODUKTION

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Abraham Trembley (1710–1784),

Charles Bonnet (1720–1793)

FRÜHER

Um 2000 v. Chr. Römische Winzer schneiden von ihren besten Reben Stecklinge, um neue Pflanzen zu ziehen – eine Form asexueller Vermehrung.

1702 In seinen Mikroskopzeichnungen zeigt Antoni van Leeuwenhoek eine Hydra bei der Knospenbildung.

SPÄTER

1758 Der schwedische Taxonom Carl von Linné benennt die Gattung Hydra.

1871 Der deutsche Zoologe Karl von Siebold prägt den Begriff »Parthenogenese«.

1974 Der Amerikaner Samuel McDowell berichtet, der Nachwuchs der Blumentopfschlange sei immer weiblich; diese Art reproduziere sich immer parthenogenetisch.

Menschen und die meisten anderen Tiere produzieren Nachwuchs auf ähnliche Weise: Ein Weibchen und ein Männchen pflanzen sich sexuell fort. Auch viele Pflanzen haben weibliche und männliche Teile – in manchen Fällen auf verschiedenen Individuen, in anderen auf demselben. Auch hier ist es so, dass weibliche und männliche Zellen zusammenkommen müssen, um Samen oder Sporen zu produzieren. Diese weiblich-männliche Methode der Fortpflanzung ist als sexuelle Reproduktion bekannt. Aber es gibt noch ein anderes System, das verschiedene Tiere, Pilze und viele Pflanzen benutzen: Es benötigt keinen Sex. Diese »Ein-Eltern-Methode« wird als asexuelle Reproduktion (asexuelle Vermehrung) bezeichnet.

»Nach dem Zerschneiden des Polypen … sah jeder der beiden [Teile] wie ein kompletter Polyp aus und sie hatten alle Funktionen, die ich kannte.«

Abraham Trembley

Viele Pflanzen betreiben die sogenannte vegetative Vermehrung – Stängel (etwa Ausläufer am Boden), Rhizome, Knollen und Zwiebeln können Knospen bilden oder andere Teile, die zu neuen, getrennten Individuen heranwachsen, ohne dass sexuelle Reproduktion eine Rolle spielt. Bis zum 18. Jahrhundert glaubten nur wenige Biologen, Tiere könnten sich auf ähnliche Weise fortpflanzen.

Teichwesen und Blattläuse

1740 studierte Abraham Trembley, ein Genfer Naturforscher, einen kleinen Organismus, den er im Teichwasser fand. Unter anderem zerschnitt und spaltete er den Organismus, der nur ein paar Millimeter groß ist: Oft wuchs dann solch ein Teilstück zu einem neuen Individuum heran. Er sah auch, dass sich »Babys« auf einem Elternorganismus bilden, wie Knospen an einem Pflanzenstängel. Aber zusätzlich zu diesen pflanzlichen Fähigkeiten konnte sich die kleine Lebensform auch bewegen, mit ihren Tentakeln winken, auf ihrem »Stängel« herumrutschen, zappeln und eine Schleife bilden – sie war mehr wie ein Tier. Trembley nannte sie Hydra, nach dem mythischen vielköpfigen Wasserungeheuer, dem zwei Köpfe nachwachsen, wenn einer abgeschlagen wird.

In den 1740er-Jahren schrieb Trembley Briefe an den französischen Akademiker René de Reaumur. In seinen Mémoires pour Servir à l’Histoire d’un Genre de Polypes d’Eau Douce (Aufzeichnungen zur Naturgeschichte eines Süßwasserpolypen) beschrieb und illustrierte Trembley seine Beobachtungen und lieferte damit eine der ersten Beschreibungen eines sich asexuell durch Sprossung vermehrenden Tiers. Trembley wusste nicht, dass rund 40 Jahre früher, 1702, der holländische Mikroskopiker Antoni van Leeuwenhoek diese Polypen ebenfalls gezeichnet hatte.

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Eine knospende Hydra nutzte Trembley zu Experimenten. Wenn genug Nahrung vorhanden ist, reproduziert sich der Polyp asexuell: Aus seinen Knospen entstehen neue Hydren.

Zur selben Zeit untersuchte Trembleys Neffe, Charles Bonnet, auch aus Genf und ein Freund von de Réaumur, grüne und schwarze Blattläuse. 1740 entwarf er Experimente, die bewiesen, dass weibliche Blattläuse Junge bekommen können, ohne sich zu paaren oder Kontakt zu Männchen zu haben. Bonnets Publikation Traité d’Insectologie (Abhandlung zur Insektenkunde) erklärte diese Form der asexuellen Fortpflanzung bei Tieren. Sie wurde später Parthenogenese (»jungfräuliche Geburt«) genannt.

Seitdem hat sich die Liste weiblicher Tiere, die sich bekanntermaßen nur mittels ihrer eigenen Eizellen fortpflanzen, ohne männliches Sperma zu brauchen, erweitert. Sie umfasst viele Würmer, Insekten und andere wirbellose Tiere sowie einige Arten von Haien, Amphibien, Reptilien, ja sogar domestizierte Wachteln und Truthähne.

Eine weitere asexuelle Reproduktionsmethode ist Fragmentation und Regeneration: Getrennte Teile eines Individuums wachsen zu neuen Individuen heran. Dies findet man bei der Hydra (beschrieben von Trembley), bei einigen Würmern (die Bonnet in den 1740er-Jahren erforschte) und beim Seestern. Bei Pflanzen gibt es Apomixis – die Reproduktion durch einen Samen, der von der unbefruchteten Eizelle gebildet wird und somit ein Klon der Mutter ist. image

Sex versus kein Sex

Bei der sexuellen Reproduktion erbt der Nachwuchs einen Satz Gene. Wenn Ei und Spermium entstehen, werden diese Gene wie ein Kartenspiel zu neuen Kombinationen gemischt. So bekommt der Nachwuchs einen einzigartigen Genmix, der Eigenschaften enthalten könnte, die seine Überlebenschancen erhöhen – er könnte etwa resistent gegen eine neue Krankheit sein. Diese genetische Variation bei den Nachkommen stellt der Evolution Rohmaterial für die Selektion zur Verfügung.

Bei asexueller Reproduktion kann ein Elternteil schneller viel mehr Nachkommen haben als bei sexueller Reproduktion. Alle Nachkommen erben dieselben Gene wie die Eltern. Organismen, die genetisch identisch sind (zumindest beinahe), nennt man Klone. Ein Nachteil ist die mangelnde genetische Varianz. Alle Individuen haben sehr ähnliche Eigenschaften – sollte eine neue Krankheit auftauchen, gibt es zu wenig Variation, aus der die natürliche Selektion »auswählen« kann, und die Überlebenschancen sind geringer.