IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
August Weismann (1834–1914)
FRÜHER
1840 Der Schweizer Wissenchaftler Rudolf Albert von Kölliker beweist die zelluläre Natur von Spermien und Eiern.
1879 Walther Flemming führt systematische Studien zum Verhalten von Chromosomen während der mitotischen Zellteilung durch.
SPÄTER
1909 Durch Versuche mit Fruchtfliegen bestätigt Thomas Hunt Morgan, dass Gene auf den Chromosomen lokalisiert sind.
1953 James Watson und Francis Crick entdecken die Struktur der Desoxyribonukleinsäure (englisch: DNA) des Moleküls, das die genetische Information codiert.
Walther Flemmings Beobachtungen von Chromosomen im Kern sich teilender Zellen im Jahr 1882 führte zu Spekulationen, Chromosomen könnten die Träger der Vererbung sein. Der deutsche Embryologe Wilhelm Roux äußerte 1883 als einer der Ersten die These, ein Ei empfange bei der Befruchtung Substanzen, die Eigenschaften des Organismus repräsentieren; diese ordneten sich dann auf den Chromosomen an, wenn die Zelle sich teilt. 1885 studierte Carl Rabl, ein österreichischer Anatom, Salamanderzellen und entdeckte, dass ihre Chromosomen sich in konstanter Zahl und ähnlicher Formation anordnen, kurz bevor sich die Zelle teilt und kurz danach. Darauf aufbauend postulierte er, dass die Chromosomen in Wirklichkeit permanente Merkmale der Zelle sind und dass sie ihre Individualität behalten, auch wenn sie nur während der Zellteilung sichtbar sind.
Eine Keimbahn ist die Abstammungslinie der Keimzellen (Eier und Spermien) eines Organismus, die ihre genetische Information an die nächste Generation weitergeben. Das Kind, das aus der Vereinigung der elterlichen Keimzellen entsteht, hat entweder Eier oder Spermien.
1890 beschrieb Roux eine Reihe von Experimenten. Von den beiden Zellen, die bei der ersten Teilung eines befruchteten Froscheis entstehen, tötete er eine. Er beobachtete, dass der übrig gebliebene nur zu einem halben Embryo heranwächst – und zog den Schluss, dass jede der beiden Zellen nur einen halben Chromosomensatz enthalten kann. Er entwickelte die Theorie, dass die Embryonalentwicklung darin besteht, dass die Chromosomen in Pakete aufgeteilt werden – je nach dem Zelltyp, dessen Erbinformation sie enthalten.
Rouxs Theorie ließ eine entscheidende Frage offen: Wenn nur ein Teil des kompletten Chromosomensatzes während der Entwicklung an neue Zellen weitergegeben wird, wie kann dann der komplette Satz von einer Generation an die nächste weitergegeben werden? Dieses Problems nahm sich der deutsche Evolutionsbiologe August Weismann an.
1885 äußerte Weismann die Theorie, das Keimplasma sei die physische Basis der Vererbung. Sieben Jahre später entwickelte er diese Idee weiter in seinem Werk Das Keimplasma. Es gebe zwei Kategorien von Zellen, argumentierte er: Keimzellen (reproduktive Zellen), die Eier und Spermien produzieren, und somatische Zellen (Körperzellen), die die normalen Gewebe bilden. Obwohl er Rouxs These akzeptierte, somatische Zellen enthielten nur Teilmengen der Chromosomen, behauptete er, die Keimzellen enthielten einen vollständigen Satz und seien die Träger der Erbinformation. Später stellte sich heraus, dass Roux sich bei den Körperzellen geirrt hatte – jede Zelle enthält einen vollständigen Chromosomensatz.
Laut der Keimplasmatheorie findet Vererbung in einem mehrzelligen Organismus nur mittels der Keimzellen statt. Körperzellen sind keine Mittler der Vererbung. Keimzellen produzieren Körperzellen, werden aber umgekehrt nicht beeinflusst von irgendetwas, das Körperzellen erleben oder lernen. Genetische Information kann nicht von Körperzellen zu Keimzellen fließen – und weiter an die nächste Generation. Dieses Phänomen wird Weismann-Barriere genannt.
In Das Keimplasma prägte Weismann vier Begriffe: Biophoren, Determinanten, Ide und Idanten: Biophoren sind die kleinsten Einheiten der Vererbung. Determinanten sind kombinierte Biophoren, die anfangs in den Keimzellen zu finden sind, dann auf somatische Zellen übergehen und deren Struktur und Funktion bestimmen. Ide sind Gruppen von Determinanten, die aus Keimzellen stammen, aber während der Entwicklung in die Zellen der Gewebe umverteilt werden. Auf der höchsten Ebene findet man die Idanten, die Träger der Ide – später als Chromosomen bezeichnet.
Weismann sagte voraus, dass bei der sexuellen Reproduktion die Zahl der Idanten sich auf die Hälfte reduzieren muss, sodass die Nachkommen die Hälfte der Idanten von der mütterlichen und die andere Hälfte von der väterlichen Keimzelle bekommen. Dies erklärt, warum die Kinder Eigenschaften haben, die denen der Mutter gleichen, und solche, die denen des Vaters gleichen. Der Schüssel dafür ist die Meiose.
»Wie wir uns auch drehen und wenden, wir kommen zuletzt auf die Zelle zurück.«
Rudolf Virchow
(1885)
Weismanns Sicht war zentral für das biologische Verständnis von Evolution. Sie stand in direktem Widerspruch zur Theorie des französischen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck, die damals populär war. Lamarck hatte 1809 die These aufgestellt, dass ein Organismus Eigenschaften, die er während seiner Lebenszeit erwirbt, an seine Nachkommen weitergeben kann. 1888 widerlegte Weismann diese Theorie, indem er die Schwänze von 900 Mäusen abschnitt, über fünf Generationen hinweg, mit dem Ergebnis, dass die Abkömmlinge immer noch Schwänze ausbildeten. Seine Theorie besagt: Variationen zwischen Individuen einer Art sind das Resultat verschiedener Kombinationen von Determinanten in den Keimzellen. Stärkere Determinanten konkurrieren mit schwächeren und diese werden mit der Zeit eliminiert. Dieser Selektionsprozess ist adaptiv und nicht zufällig.
Obwohl Weismann ein Fan von Darwins Theorie der natürlichen Selektion war, stellte seine Keimzellentheorie die Pangenese infrage, eine andere Idee Darwins. Dieser hatte nämlich spekuliert, jedes Organ des Körpers produziere kleine Partikel, die er Gemmulae nannte, diese enthielten Informationen über das Organ. Die Gemmulae wandern durch den Körper, so seine Theorie, und sammeln sich im Sperma und den Eiern. Auf diese Weise, so die falsche Erklärung von Darwin, gelangen Informationen über die Organe in die nächste Generation.
Die Schlüsselfrage blieb, wie die Zellteilung in der Keimbahn funktioniert. 1876 hatte der deutsche Biologe Oscar Hertwig aus seinen Seeigelexperimenten den Schluss gezogen, dass die Kerne beider Zellen zu den Eigenschaften beitragen, die an die Nachkommen vererbt werden. Als der belgische Zoologe Edouard van Beneden den Spulwurm Ascaris untersuchte, einen Organismus mit nur zwei Chromosomen, entdeckte er, dass jedes Elternteil ein Chromosom zum befruchteten Ei beisteuert. 1890 beobachtete Weismann, dass Spermien- und Eizellen genau die Hälfte der Chromosomen besitzen, die man in den Körperzellen findet. Es sei also essenziell, bemerkte er, die Chromosomenzahl der Keimzellen um die Hälfte zu reduzieren, sonst würde sich die Chromosomenzahl bei der Befruchtung in jeder Folgegeneration verdoppeln. Diese Reduktion wird durch den Prozess der Meiose (Reifeteilung) erreicht.
Die Meiose hat Ähnlichkeiten mit der Mitose, bei der aus einer Mutterzelle zwei identische Tochterzellen entstehen, es gibt aber auch Unterschiede. Die Meiose produziert vier Gametenzellen, jede enthält nur den halben Chromosomensatz. Während der Reproduktion, wenn Spermien- und Eizelle verschmelzen und eine einzige Zelle bilden, wird die Zahl der Chromosomen in den Nachkommen wiederhergestellt (verdoppelt). Die Meiose beginnt mit einer Mutterzelle, die diploid ist – sie hat von jedem Chromosom zwei Kopien. Die Mutterzelle macht eine Runde DNA-Replikation durch, gefolgt von zwei separaten Zyklen der Kernteilung. Der Prozess resultiert in vier haploiden Tochterzellen – diese haben halb so viele Chromosomen wie die diploide Mutterzelle.
»Das Keimplasma der Keimzellen des Kindes muss sich direkt von demjenigen der elterlichen Keimzelle herleiten.«
August Weismann
(1892)
Obwohl es vieles gab, was Weismann noch nicht wissen konnte, erwies sich seine Keimplasmatheorie als Schlüssel zur Erklärung der physischen Prozesse der Vererbung, insbesondere der Meiose.
August Weismann
Als Sohn eines Lehrers 1834 in Frankfurt am Main geboren, wurde Weismann zu einem der wichtigsten Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts. Er promovierte 1856 an der Universität Göttingen und arbeitete eine Weile als Arzt. Nachdem er Charles Darwins Die Entstehung der Arten gelesen hatte, wurde er zu einem entschlossenen Unterstützer der Evolutionstheorie. 1861 begann er, an der Universität Gießen die Entwicklung von Insekten zu studieren.
1863 ging Weismann an die Universitätsklinik Freiburg, um Zoologie und vergleichende Anatomie zu unterrichten. Auf sein Drängen hin wurde 1865 ein zoologisches Institut mit Museum gebaut, das er bis zu seiner Emeritierung leitete. Nachdem seine Augen sich verschlechtert hatten, half Weismanns Frau Mary bei den Beobachtungsstudien, während er sich theoretischeren Studien zuwandte. Er starb 1914 in Freiburg.
Hauptwerke
1887 Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen
1892 Das Keimplasma