IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Hans Driesch (1867–1941)
FRÜHER
1855 Der deutsche Pathologe Rudolf Virchow sagt, dass alle Zellen aus Zellen entstehen.
1888 Wilhelm Roux beobachtet, dass Zellschäden im frühen Embryo dessen Entwicklung beeinflussen.
SPÄTER
1909 Der russische Histologe Alexander Maximow postuliert, dass alle Blutzellen aus denselben multipotenten Stammzellen entstehen.
1952 Robert Briggs und Thomas King klonen Leopardfrösche, indem sie den Kern eines älteren Tiers in ein unbefruchtetes Ei transplantieren.
2010 Amerikanische Forscher nutzen die iPS-Technik, um Ratten mit Parkinson zu behandeln. Die verwendeten Nervenzellen stammen aus menschlichen Hautzellen.
Stammzellen haben die einzigartige Eigenschaft, sich zu anderen Zelltypen entwickeln (differenzieren) zu können. Bei der Embryonalentwicklung vielzelliger Organismen und auch beim internen Reparatursystem eines Organismus sind sie unentbehrlich.
Frühe embryonale Stammzellen können sich zu allen anderen Zelltypen des Körpers entwickeln, sie sind totipotent. Wenn der Embryo heranwächst, engt sich ihre Differenzierungsfähigkeit jedoch ein – zu spezielleren Zelltypen. Erwachsene Stammzellen bilden nur Zelltypen des Organs, aus dem sie stammen. Der Begriff »Stammzelle« wurde zuerst 1868 von Ernst Haeckel benutzt. Er beschrieb damit die befruchtete Eizelle, aus der am Ende der reife, mehrzellige Organismus entsteht.
Hans Driesch schüttelte zweizellige Seeigelembryonen, um die Zellen zu trennen, setzte die einzelnen Zellen in Meerwasser und sah zu, wie sie sich zu gesunden Larven entwickelten.
1888 veröffentliche der deutsche Embryologe Wilhelm Roux die Ergebnisse von Experimenten, bei denen er zwei- und vierzellige Froschembryonen genommen und jeweils die Hälfte jedes Embryos zerstört hatte. Er stellte fest, dass die übrig gebliebenen Zellen zu halben Embryonen heranwuchsen. Die Rollen der Zellen schienen schon in diesem sehr frühen Stadium determiniert zu sein.
Befruchtete Eizellen und die ersten 16 Zellen eines Embryos sind totipotent, sie können jeden Zelltyp eines erwachsenen Organismus produzieren (und extraembryonale Zellen wie die Plazenta eines Säugetiers). Pluripotente Stammzellen können sich zu jeder Art Körperzelle differenzieren, aber nicht zu extraembryonalen Zellen. Multipotente Stammzellen können viele Zelltypen bilden – aber nur in einem bestimmten Gewebetyp. Unipotente Zellen können sich nur zu einem Zelltyp differenzieren.
1891 machte der deutsche Biologe Hans Driesch ein ähnliches Experiment wie Roux, jedoch mit zweizelligen Seeigeleiern. Statt eine Zelle zu zerstören, trennte er die Zellen nur. Er stellte fest, dass oftmals eine davon starb, die überlebende sich jedoch zu einer kompletten Seeigellarve entwickelte, die lediglich kleiner war als normal. Dies zeigte, dass Roux sich geirrt hatte und das Entwicklungsschicksal embryonaler Zellen nicht festgelegt ist. Drieschs Experimente ließen ihn den Schluss ziehen, dass embryonale Zellen im frühen Entwicklungsstadium totipotent sind. Seine Forschung bestätigte, dass jede Zelle im frühen Embryo ihren eigenen kompletten Satz genetischer Instruktionen besitzt.
Der amerikanische Forscher Leroy Stevens stellte 1953 bei Experimenten an Krebsgewebe von Mäusen fest, dass Tumore Mixturen undifferenzierter und differenzierter Zellen enthalten, darunter auch Haare, Knochen und Darmzellen. Er schloss daraus, dass die Krebszellen pluripotent sind – fähig, sich in jeden Zelltyp zu entwickeln, aber nicht zu einem ganzen Organismus.
Die britischen Forscher Martin Evans und Matt Kaufman isolierten 1981 embryonale Stammzellen von Mäusen und vermehrten sie erfolgreich in Zellkultur. Dies gab Wissenschaftlern die Möglichkeit, Mausgene zu manipulieren und ihre Funktion bei Krankheiten zu untersuchen. Forscher können inzwischen das Genom einer Maus in den embryonalen Stammzellen modifizieren und diese Zellen in einen Mausembryo injizieren. Wenn der Mausembryo heranreift, ist jede seiner Zellen modifiziert.
»Jeder Versuch, den wissenschaftlichen Fortschritt aufzuhalten, ist zum Scheitern verurteilt … Aber wir dürfen den grundlegenden Respekt vor dem Leben nicht vergessen …«
Joseph E. Murray
Pionier der Transplantationschirurgie am Menschen
(1919–2012)
1998 entnahm der amerikanische Embryologe James Thomson Zellen aus einem menschlichen Embryo, ließ sie im Labor heranwachsen und begründete die erste menschliche Stammzelllinie – sie existiert noch heute. Obwohl er nur Embryonen von Spenderinnen benutzte, die sie nicht mehr für eine Schwangerschaft nutzen wollten, war diese Forschung sehr umstritten.
2006 fanden japanische Forscher einen Weg, erwachsene Hautzellen von Mäusen in Stammzellen zu verwandeln, sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS). Medizinforscher nutzen seither reprogrammierte iPS-Zellen in klinischen Studien zur Behandlung neurologischer Krankheiten. Sie werden auch benutzt, um neue Gewebe und Organe für die Transplantation heranzuzüchten.