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DIE PHYSISCHE BASIS DER VERERBUNG

CHROMOSOMEN

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Theodor Boveri (1862–1915),

Walter Sutton (1877–1916),

Thomas Hunt Morgan (1866–1945)

FRÜHER

1866 Der Österreicher Gregor Mendel beweist, dass Paare von »Einheiten« erbliche Eigenschaften kontrollieren.

1879 Walther Flemming nennt Zellmaterial Chromatin. Teilen sich Zellen, bildet es Fäden, die später als Chromosomen bezeichnet werden.

1900 Die Botaniker Hugo de Vries, Carl Correns und William Bateson entdeckten unabhängig voneinander Mendels Gesetze wieder.

SPÄTER

1913 Alfred Sturtevant, ein amerikanischer Genetiker, ermittelt die erste Sequenz von Genen auf einem Chromosom.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Mikroskope stark genug, um zu enthüllen, dass Lebewesen aus Zellen bestehen und dass diese noch kleinere Strukturen enthalten. Diese könnten den Schlüssel zur Vererbung enthalten, glaubten manche Wissenschaftler. Biologen entdeckten, dass Zellen bei der Teilung Fäden aus einer Substanz enthalten, die man anfärben kann. Walther Flemming nannte die Substanz Chromatin, »farbiges Material«.

Um die gleiche Zeit verstanden Biologen, dass erbliche Eigenschaften abhängig sind von physischen Partikeln, die von Generation zu Generation in Zellen weitergegeben werden – darunter Spermien und Eizellen. Gregor Mendels experimentelle Bestätigung wurde zwar zunächst übersehen, aber andere Wissenschaftler dachten ähnlich. Bemerkenswert war der deutsche Biologe August Weismann, der die These vertrat, erbliche Partikel würden gemeinsam in Einheiten transportiert, die er Idanten nannte. Diese wurden später als Chromosomen bekannt – ein Begriff, den ein anderer Deutscher, Wilhelm von Waldemeyer, für Flemmings Fäden aus farbigem Chromatin prägte.

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Paare menschlicher Chromosomen im Rasterelektronenmikroskop. Jedes Chromosom hat sich während der Zellteilung verdoppelt und eine Kopie gebildet, ein Chromatid.

Chromosomenpermanenz

Bei den Chromosomen als Träger der Erbpartikel gab es ein Problem: Sie sind nur sichtbar, wenn sich die Zellen teilen. In Zellen, die sich nicht teilen, scheinen sie sich aufzulösen. Biologen fragten sich deshalb, wie Partikel, die auf ihnen sitzen, intakt über Generationen hinweg übermittelt werden können. Mithilfe eines starken Mikroskops und einer Färbetechnik entdeckte der österreichische Anatom Carl Rabl 1885 etwas Entscheidendes: Die Chromosomenfäden innerhalb einer Zelle sind nicht zufällig und unordentlich verteilt, vielmehr enthält jeder Organismus einen festen Satz an Chromosomen. Die Zahl der Chromosomen in jeder Zelle bleibt gleich und individuelle Chromosomen haben eine eindeutige Identität. Wir wissen inzwischen, dass sich in Zellen nach dem Ende der Teilung die Chromosomen entdrillen – und dass sie sich bei der nächsten Teilung wieder aufwickeln und verdicken. Für Biologen am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete diese Kontinuität: Chromosomen konnten tatsächlich die geeigneten Vehikel der Gene sein.

Die Boveri-Sutton-Theorie

In den 1860er-Jahren wiesen Mendels Zuchtexperimente an Erbsen darauf hin, dass Erbpartikel paarweise vorliegen, eines von jedem Elternteil. Als diese Theorie 1900 wiederentdeckt wurde, erkannten Biologen, die Zellen untersuchten, eine physische Basis für diese Idee in den Chromosomen. In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts kam die Bestätigung unabhängig voneinander von beiden Seiten des Atlantiks. In Italien machte der deutsche Biologe Theodor Boveri eine wichtige Entdeckung, als er Seeigel untersuchte – Tiere, deren Embryonalentwicklung leicht unter dem Mikroskop beobachtet werden kann. Boveri entdeckte, dass ein kompletter Satz von 36 Seeigelchromosomen nötig ist, damit sich ein gesunder Embryo entwickelt.

»Wo im Spermakern besondere, durch Größe oder Form charakterisierte Chromosomen vorkommen, [ist] für jedes ein morphologisch entsprechendes im Eikern enthalten.«

Theodor Boveri

(1914)

Gleichzeitig fand in den USA der Biologiestudent Walter Sutton bei der Untersuchung von Heuschrecken heraus, dass ihre Chromosomen in Paaren vorliegen, die sich während der Entwicklung der Spermien trennen. Er erkannte, dass dies dem Verhalten von Mendels Genen entspricht und ein weiterer Beweis dafür ist, dass die Gene auf den Chromosomen sitzen. Suttons detaillierte Beobachtungen zeigten, dass jedes Chromosom eine einzigartige Identität hat – ganz wie Rabl das 20 Jahre zuvor behauptet hatte.

Die Zellteilung funktioniert so, dass am Ende jede Zelle mit einem kompletten Satz Chromosomen und Genen ausgestattet ist. Genauer gesagt haben Körperzellen zwei Dosen (oder Paare) von beidem. Eine spezielle Art Zellteilung (Meiose) führt zu Spermien und Eizellen. Die Meiose trennt die Paare und halbiert die Chromosomenzahl. Die Befruchtung stellt die Paare wieder her. Dies ist genau das, was August Weismann 1887 gefordert hatte – und Mendel noch früher. Im Gegensatz dazu wird bei der Mitose, wenn Körperzellen sich teilen, jedes Mal der ganze Chromosomensatz dupliziert, jede Tochterzelle bekommt einen kompletten Satz: Die Chromosomenzahl bleibt erhalten.

Verbundene Gene

In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts bemerkten einige Forscher eine auffällige Korrelation: Bei den Tieren, die sie untersuchten, hatten die Männchen einen anderen Chromosomensatz als die Weibchen. Diese Entdeckung der Geschlechtschromosomen war die erste offensichtliche Verbindung zwischen Chromosomen und erblichen Eigenschaften und die Menge experimenteller Beweise, wie genau die Gene auf den Chromosomen angeordnet sind, wuchs bald lawinenartig an.

1809 begann der Amerikaner Thomas Hunt Morgan die Vererbung anhand von Zuchtversuchen an Fruchtfliegen zu studieren. Er war von dem holländischen Botaniker Hugo de Vries inspiriert, der erbliche Variationen an Pflanzen untersuchte. Die Veränderungen nannte de Vries Mutationen.

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Die kleine Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist perfekt für die Vererbungsforschung: Sie vermehrt sich rasch, hat viele sichtbare Merkmale und nur vier Chromosomen.

»Wir sind an der Vererbung nicht in erster Linie als mathematische Formel interessiert, sondern als ein Problem, das die Zelle betrifft, das Ei und das Spermium.«

Thomas Hunt Morgan

(1915)

Fruchtfliegen sind perfekt für das Studium der Vererbung. Ihre Varietäten kann man mit bloßem Auge sehen, wie Körperfarbe und Flügelform. In seinem »Fliegenlabor« an der Columbia University kreuzten Morgan und sein Team Fruchtfliegenvarietäten in Hülle und Fülle und zählten – wie Mendel – die Variationen beim Nachwuchs, um Vererbungsmuster zu entdecken.

Für Morgan war die Anordnung der Gene auf den Chromosomen zentral. Die erste Variation – weiße statt roten Augen – kommt öfter bei Männchen als bei Weibchen vor. Morgan schloss daraus, dass Gene für Augenfarbe und Geschlecht auf demselben Geschlechtschromosom – im wörtlichen Sinn – verbunden sein müssen.

Mit der Zeit identifizierten Morgan und sein Team weitere verbundene Eigenschaften. Sie stellten fest, dass die Gene vier Gruppen bilden, korrespondierend zu den vier Chromosomenpaaren der Fruchtfliegenzellen. Sie tüftelten die exakte Reihenfolge der Gene auf den Chromosomen aus.

Vererbung von Genen auf dem X-Chromosom

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Tatsächlich sind Chromosomen nicht ganz so haltbar und unteilbar, wie Rabl und Weismann zunächst behauptet hatten. Während der Meiose – der Zellteilung, die Geschlechtszellen produziert – legen sich die Chromosomenpaare, die ähnliche Sätze von Genen tragen (Homologe) zeitweilig aneinander, um Stücke auszutauschen. In der Folge können Gene, die zuvor verbunden waren, getrennt werden. Gene, die weiter voneinander entfernt sind, werden leichter ausgetauscht, wohingegen Gene, die nebeneinander liegen, fast nie getrennt werden. Je näher sie sich sind, desto seltener wird ein Bruch zwischen ihnen entstehen, das heißt, umso öfter werden die Eigenschaften, die sie kontrollieren, gemeinsam vererbt.

Die Biologen im Fliegenlabor ermittelten für jedes Paar von Eigenschaften genau, wie oft dies geschieht. Daraus leiteten sie die relative Position der Gene auf den Chromosomen ab. Einer aus dem Columbia-Team, Alfred Sturtevant, führte die erste derartige Analyse durch und legte 1913 die allererste Chromosomenkarte vor – die des Geschlechtschromosoms (X) der Fruchtfliege.

Das Humangenom

Genetik wurde ein immer fassbarerer Teil der Biologie – weil die physische Anordnung der Gene in den Zellen entschlüsselt wurde. Noch nicht vorstellbar war damals, was ein Jahrhundert später gelingen würde: das gesamte menschliche Genom zu entschlüsseln. image

Walter Sutton

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1877 geboren, wuchs Walter Sutton auf der Farm seiner Eltern im Mittleren Westen der USA auf. Er zeigte Talent beim Reparieren landwirtschaftlicher Maschinen und studierte zunächst Ingenieurwissenschaften an der University of Kansas. Später wechselte er zur Biologie. Für seine Abschlussarbeit untersuchte er die Spermienproduktion einer Heuschreckenart, die er von zu Hause kannte. Dann setzte er seine Studien an der Columbia University in New York fort. Dort machte er eine Entdeckung, die die Rolle der Chromosomen als Träger der Gene zu beweisen half.

Nach kurzer Ingenieurtätigkeit in der Ölindustrie kehrte er zurück an die Columbia University und erwarb 1907 einen Doktortitel in Medizin. Im Ersten Weltkrieg wurde er Chefchirurg am American Ambulance Hospital nahe Paris. 1916 starb er an den Komplikationen einer Blinddarmentzündung.

Hauptwerke

1900 The Spermatogonial Divisions of Brachystola Magna

1903 The Chromosomes in Heredity

Geschlechtsbindung

Die Bluterkrankheit ist eine geschlechtsgebundene Störung. Sie wird auch »Krankheit der Könige« genannt, weil die britische Königin Victoria (1819–1901) sie an Kinder und Enkel vererbte. Die Störung wird durch eine Mutation in dem Gen verursacht, das den Faktor IX produziert, ein Gerinnungsprotein. Die Mutation verhindert die normale Gerinnung, die Betroffenen verlieren viel Blut. Das verantwortliche Gen sitzt auf dem X-Chromosom, deshalb sind Jungen besonders vulnerabel. Denn anders als bei Mädchen mit XX-Chromosomen ist ihr X mit einem Y gepaart, das kein dominantes Gen tragen kann, um den Defekt zu kompensieren.

Keiner von Victorias Vorfahren war Bluter, dehalb nimmt man an, dass bei ihr die Mutation entstanden ist. Ihr jüngster Sohn Leopold starb an der Krankheit und zwei Töchter (Alice und Beatrice) waren Trägerinnen des Gens. Sie gaben es an mindestens sechs ihrer eigenen Kinder weiter.