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EIN GEN – EIN ENZYM

WAS SIND GENE?

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

George Beadle (1903–1989),

Edward Tatum (1909–1975)

FRÜHER

1885 August Weismann erstellt eine Theorie »harter« Vererbung – mit festen, unteilbaren Partikeln, die von einer Generation zur anderen übergehen.

1902 Der britische Arzt Archibald Garrod postuliert, Erbpartikel könnten fehlerhaft werden und zu chemischen Ungleichgewichten führen.

1909 Wilhelm Johannsen nennt die Erbpartikel Gene.

SPÄTER

1961 Die Biochemiker Marshall Nirenberg, Philip Leder und Heinrich Matthaei beweisen, wie der Basen-»Code« der Gene in die Aminosäuresequenz eines Proteins »übersetzt« wird.

Die Idee, dass erbliche Eigenschaften von physischen Partikeln kontrolliert werden, entwickelte sich im 19. Jahrhundert. 1875 hatte der deutsche Zoologe Oscar Hertwig bewiesen, dass bei der Befruchtung eine einzelne Spermienzelle mit einer einzelnen Eizelle fusioniert und dass dabei im mikroskopischen Maßstab Partikel von einer Generation zur nächsten übergehen. Erst in den 1940er-Jahren entdeckten die amerikanischen Biologen George Beadle und Edward Tatum, wie diese Partikel funktionieren.

1868 behauptete Charles Darwin, Zellen enthielten Körperchen (Partikel), die Merkmale ausbilden und bei der Teilung von Zellen verteilt würden. Sie gäben Produkte in den Blutstrom ab, diese sammelten sich in den Geschlechtsorganen der Eltern, um an die Nachkommen weitergegeben zu werden. Darwin meinte auch, Umwelteffekte sowie Gebrauch oder Nichtgebrauch von Körperteilen könnten die Körperchen zu einem gewissen Grad verändern. Der deutsche Biologe August Weismann war anderer Meinung. 1885 stellte er eine Theorie der »harten« Vererbung auf – mit Partikeln, die von Generation zu Generation gleich bleiben.

Weismann war näher an der Wahrheit als Darwin: Gene, wie wir sie heute verstehen, werden normalerweise originalgetreu von einer zur nächsten Generation repliziert. Weismann glaubte, dass verschiedene Arten von Zellen auch verschiedene Partikel enthalten würden, dies würde die Unterschiede zwischen den Körperteilen erklären – doch er lag falsch. Der holländische Botaniker Hugo de Vries hatte eine bessere Erklärung. In seinem Werk von 1889, Intrazelluläre Pangenese, behauptete er: Alle Zellen – unabhängig von ihrer Lage im Körper – haben denselben kompletten Satz an Partikeln, den eine Art braucht. Aber diese Partikel sind nur in manchen Körperteilen aktiv oder »angeschaltet«, in anderen nicht.

Dies ist tatsächlich korrekt und hilft zu erklären, wie Zellen sich innerhalb des Körpers verschieden entwickeln können, obwohl sie genetisch identisch sind.

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Metabolische Fehler

1900 entdeckte de Vries das Werk des österreichischen Mönchs Gregor Mendel über die Vererbung bei Erbsenpflanzen wieder. 1865 hatte Mendel Beweise präsentiert, dass jede einzelne Eigenschaft durch ein einzelnes Partikelpaar (Genpaar) bestimmt wird. Aber wie üben Gene ihren Einfluss aus? Organismen und ihre Zellen bestehen aus Chemikalien, die auf komplexe Weise miteinander reagieren. Gene sind nicht anders, deshalb sollte es möglich sein, zu entschlüsseln, was sie auf chemischer Ebene tun. Die ersten Hinweise kamen aus dem Studium von Erbkrankheiten. Wenn diese Krankheiten auf eine Art vererbt werden, wie Mendel sie beschrieben hatte, kann jede einem fehlerhaften Gen zugeordnet werden. Und ihre Symptome können dabei helfen, herauszufinden, was dieses Gen tut – oder auch nicht.

1902 publizierte Archibald Garrod, ein britischer Arzt, eine solche Studie zu der Krankheit Alkaptonurie. Betroffene produzieren von Geburt an Urin, der schwarz wird. Erwachsene leiden unter ernsthaften Komplikationen wie Osteoarthritis. Garrod entdeckte, dass sich bei der Krankheit ein Pigment akkumuliert. Er vermutete, dies geschehe, weil der Körper eine bestimmte Reaktion nicht ausführen kann, die das Pigment abbaut und beseitigt.

Garrod wusste, dass jede Reaktion des Stoffwechsels einen Katalysator in Form eines Enzyms erfordert. Er vermutete, Alkaptonurie werde verursacht durch einen Fehler in dem Gen, das die Produktion des pigmentabbauenden Enzyms kontrolliert. Garrod ordnete später weitere Erbkrankheiten, darunter Albinismus, den entsprechenden Enzymdefekten zu; er nannte sie »angeborene Stoffwechselfehler«. Doch es brauchte jahrzehntelange Forschung, um zu beweisen, dass er bei der Alkaptonurie recht hatte.

Mit Genen experimentieren

Garrods Verbindung zwischen Genen und Enzymen benötigte Beweise. Diese kamen in den 1940er-Jahren mit der Arbeit von George Beadle und Edward Tatum, die Versuche mit einem Schimmelpilz namens Neurospora durchführten. Wie andere Organismen braucht Neurospora bestimmte Nährstoffe, um gesund zu wachsen, und erledigt den Rest durch chemische Reaktionen selbst. Indem sie den Schimmelpilz Röntgenstrahlen aussetzten, schufen Beadle und Tatum mutierte Stämme, die bestimmte Nährstoffe nicht herstellen konnten, weil ihnen das Enzym dafür fehlt.

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Albinismus wie bei diesem Jungen (Mitte) aus Südafrika ist eine genetische Störung, die die Produktion von Melanin verhindert, einem Pigment, das Haut, Haare und Augen färbt.

»Gene sind die Atome der Vererbung.«

Seymour Benzer

Amerikanischer Physiker (1921–2007)

Beadle und Tatum untersuchten einen mutierten Stamm nach dem anderen und identifizierten die Gene, die mit der Herstellung bestimmter Nährstoffe verbunden sind. Sie bestätigten, dass die Funktion der Gene darin besteht, spezifische Enzyme zu kontrollieren.

Ein Gen, ein Protein

Die Idee »ein Gen – ein Enzym« war ein großer Schritt zum Verständnis der Natur der Gene. In den 1950er-Jahren trugen rasche Erfolge der Biochemie dazu bei, die molekularen Bausteine der Lebewesen zu entschlüsseln und zu zeigen, wie wichtig für ihr Funktionieren Gene wirklich sind. Enzyme gehören zu einer Klasse komplexer Substanzen, die man Proteine nennt. Jeder Organismus produziert Tausende verschiedene Proteine, jedes mit seiner eigenen Rolle. Enzyme treiben Reaktionen an, andere Proteine fungieren als Signalstoffe, Rezeptoren, Antikörper und noch vieles mehr und alle haben ihren Ursprung in Genen. Auch die wachsende Überzeugung, dass Gene aus DNA bestehen, half, die Verbindung zwischen Genen und Proteinen zu erhärten: Ein Gen ist ein DNA-Abschnitt, der die Produktion eines Proteins codiert. DNA und Proteine sind beide langkettige Moleküle, die aus kleineren Bausteinen zusammengesetzt sind. Eine Zelle kann im Endeffekt die Reihenfolge der Bausteine (oder Basen) entlang der DNA »ablesen« und diese Information in die Reihenfolge der Aminosäuren entlang des Proteins übersetzen. Die Form der gefalteten Proteinkette hängt direkt von der Sequenz der Aminosäuren ab – und die Form beeinflusst die Funktion.

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Das Experiment von Beadle und Tatum demonstrierte, dass ein normaler Schimmelpilz einen kompletten Satz funktionierender Gene hat, sodass er all seine Nährstoffe herstellen und seine Sporen auf einem Medium bilden kann, das diese nicht enthält. Kann ein mutierter Pilz die Nährstoffe nicht mehr herstellen, wachsen seine Sporen nur, wenn das Nährmedium den Stoff bereitstellt.

1865 hatte Gregor Mendel schon gemutmaßt, dass Eigenschaften von Erbsenpflanzen von Partikeln verursacht werden, die auch mit den besten Mikroskopen der damaligen Zeit nicht sichtbar waren. Wir können heute sehen und sogar verstehen, wie Gene exprimiert werden, also wie ihr Code in ein Protein übersetzt wird. Im Jahr 2010 brachten Biologen in Neuseeland die Blütenfarbe von Erbsen mit einem Gen in Verbindung, das ein Enzym produziert. Dieses steuert eine Reaktion, bei der ein Pigment hergestellt wird. Das Pigment färbt die Blüten violett. Ist nur ein einziger Baustein des Gens verändert, funktioniert das Enzym nicht mehr, und die Blüten bleiben weiß. image

George Beadle

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Der Farmerssohn aus Nebraska, USA, geboren 1903, studierte an der University of Nebraska und promovierte dort auch mit einem Thema aus der Genetik von Maispflanzen. Später arbeitete George Beadle am California Institute of Technology und entwickelte ein Interesse daran, wie Gene auf biochemischer Ebene funktionieren. Er wurde Professor für Genetik, erst in Harvard, dann an der Stanford University.

In Stanford arbeitete er mit Edward Tatum zusammen. Ihre Forschungen an der Biochemie von Schimmelpilzen zeigten, dass Gene Zellen dazu bringen, spezielle Enzyme herzustellen. Dafür erhielten er und Tatum 1958 den Medizin-Nobelpreis. Unter den vielen Ehrungen, die George Beadle erhielt, war auch die Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Sciences im Jahr 1946. Er starb 1989.

Hauptwerke

1930 Genetical and Cytological Studies of Mendelian Asynapsis in Zea mays

1945 Biochemical Genetics

Knock-out-Experimente

Bei Gen-Knock-out handelt es sich um Experimente, bei denen Gene eines Organismus absichtlich unbrauchbar gemacht werden, um ihre Wirkung zu entdecken. Durch den Vergleich mit normalen Organismen können Biologen Schlüsse ziehen, was das Gen tun würde, wenn es funktionierte.

Anfangs verließen sich Biologen auf mutationsauslösende Faktoren wie Röntgenstrahlen. So arbeiteten auch Beadle und Tatum bei ihren Schimmelexperimenten. Heute können Gene mit gentechnischen Methoden viel präziser entfernt oder ersetzt werden – im lebenden Organismus. Solche Knock-out-Organismen sind besonders nützlich bei medizinischen Studien, etwa in der Krebsforschung. Knock-out-Mäuse aus dem Labor wurden benutzt, um zu beweisen, dass Gene wie BRCA1 normalerweise bösartige Tumore unterdrücken. So fand man mögliche Behandlungsmethoden für Brust- und Eierstockkrebs.