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AUSSCHNEIDEN, KLEBEN UND KOPIEREN

GENTECHNIK

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Stanley N. Cohen (*1935),

Herbert Boyer (*1936)

FRÜHER

1968 Der Schweizer Genetiker Werner Arber stellt die Hypothese auf, Bakterien produzierten Enzyme, die DNA schneiden. Sie werden später als Restriktionsenzyme in der Gentechnik verwendet.

1971 Paul Berg vereinigt erfolgreich DNA-Moleküle zweier Virenstämme.

SPÄTER

1975 Das Asilomar-Hotel in Kalifornien ist Schauplatz einer Konferenz, die ethische Fragen rund um die Gentechnik diskutiert. Die dort verabschiedeten Richtlinien gelten noch Jahrzehnte später.

1977 Herbert Boyer benutzt gentechnisch veränderte Bakterien, um Wachstumshormon für Therapien zu produzieren.

Seit Jäger und Sammler vor mehr als 10 000 Jahren begannen, wilde Pflanzen und Tiere zu domestizieren, veränderte die Menschheit Lebewesen absichtlich, um sie nützlicher zu machen. Selektive Züchtung – die Auswahl von Tieren mit den besten Eigenschaften – führte mit der Zeit zu besseren Erträgen bei Feldfrüchten, Fleisch, Milch und Wolle.

Im 20. Jahrhundert, als die physische Basis vererbter Gene auf zellulärer und chemischer Ebene enthüllt wurde, erkannten Biologen, dass es spezifischere, gezielte Wege geben muss, um nützliche Organismen zu erzeugen – indem man direkt die Gene verändert.

In den 1970er-Jahren wussten Biologen, dass Gene aus einem mit Informationen vollgepackten Stoff namens DNA bestehen. Sie verstanden auch, wie DNA sich vor der Zellteilung repliziert und wie Gene in Zellen abgelesen werden, um Proteine herzustellen und Eigenschaften zu bestimmen.

Wie andere Stoffwechselreaktionen werden diese Prozesse von Katalysatoren namens Enzymen angetrieben. Biologen dachten, es könnte möglich sein, diese Enzyme zu benutzen, um Gene von einem Organismus zum anderen zu verfrachten. Bestückt mit handverlesenen Genen für nützliche Eigenschaften, könnten sie Organismen viel genauer – und schneller – modifizieren als die selektive Zucht, die viele Generationen dauern kann.

»Gentechniker erschaffen keine neuen Gene, sie ordnen existierende Gene um.«

Thomas E. Lovejoy

Amerikanischer Biologe

(1941–2021)

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Mikroben modifizieren

Zunächst probierten die Biologen an Bakterien aus, ob Gentechnik überhaupt funktioniert. Diese einzelligen Organismen haben weniger Gene als Pflanzen und Tiere, ihre Gene sind leicher kontrollierbar. Darüber hinaus besitzen Bakterien die Möglichkeit, Gene untereinander auszutauschen – sie tauschen winzige, mobile, selbstreplizierende DNA-Ringe aus, die Plasmide genannt werden. Die Entdeckung dieses Prozesses – Konjugation genannt – im Jahr 1946 eröffnete Wissenschaftlern die Möglichkeit, Bakterien genetisch zu manipulieren. 1973 gingen die amerikanischen Genetiker Herbert Boyer und Stanley N. Cohen den ersten Schritt.

Neben den üblichen Enzymen, die Zellen benutzen, um ihre DNA aufzubauen und zu replizieren, haben Bakterien auch Enzyme, die DNA in Stücke schneiden.

Damit machen sie eindringende andere Mikroben, vor allem Viren, unschädlich. Diese Enzyme zielen auf einige wenige Stellen auf der DNA und schneiden die Doppelhelix nur an Stellen, wo diese eine ganz bestimmte Basensequenz trägt. Boyer und Cohen stellten fest, dass diese sogenannten Restriktionsenzyme in gereinigter Form hilfreich sein können, um nützliche Gene auszuschneiden und sie aus den Zellen zu entfernen.

Zwei Jahre zuvor hatte der amerikanische Biochemiker Paul Berg die Enzyme benutzt, um DNA verschiedener Viren zu schneiden und zu kleben – aber niemand wusste, ob gentechnisch veränderte DNA in lebenden Zellen funktioniert. Als Test benutzten Boyer und Cohen die Enzyme, um Gene aus Plasmiden auszuschneiden, die für eine Antibiotikaresistenz verantwortlich sind, und pflanzten sie in Plasmide von Bakterien, die nicht resistent waren. Die Bakterien überlebten eine Antibiotikagabe und bewiesen so, dass die Technik funktioniert.

Nützliche Gene

Die genetische Modifikation von Mikroben bot interessante Möglichkeiten. Gene wirken dadurch, dass sie die Zellen anweisen, Proteine herzustellen. Wissenschaftler glaubten daher, dass eine umfangreiche Bakterienkultur mit der richtigen genetischen Ausstattung als biologische Fabrik dienen kann, um kommerzielle Mengen von Proteinen für therapeutische Zwecke herzustellen.

Insulin zum Beispiel wird benutzt, um Diabetes zu behandeln. In der Vergangenheit musste Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Kühen und Schweinen gewonnen werden. Diese Methode produziert nur eine geringe Insulinausbeute, und es besteht das Risiko, Infektionskrankheiten vom Tier auf den Menschen zu übertragen. Wissenschaftler dachten daher: Wenn man Gentechnik benutzen kann, um Gene für Proteine wie Insulin und Wachstumshormon in Bakterien einzuschleusen, kann man auf sichere Weise wesentlich mehr Proteine erzeugen.

Plasmidtransfer bei Bakterien

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Genetisch modifizierte Bakerien werden zur Herstellung von Medikamenten benutzt, darunter Insulin und Blutgerinnungsfaktor VIII. Das menschliche Gen (hier das Gen für Insulin) wird entweder von speziellen Enzymen aus dem Chromosom ausgeschnitten (wie hier) oder aus DNA-Bausteinen synthetisiert. Das Gen wird in ein Bakterienplasmid eingesetzt, dieses dann in ein Bakterium. Die schnelle Vermehrung von Bakterien führt zu großen Mengen des Medikaments.

Boyer gründete zu diesem Zweck ein Unternehmen. Zunächst versuchte er, ein einfacheres Protein als Insulin herzustellen, das Wachstumshormon Somatostatin. Aber eine natürliche Quelle des Gens – menschliche Zellen – zu nutzen, bot enormere Perspektiven, als bakterielle Plasmide zu benutzen. Deshalb entschloss sich Boyer zu dem radikalen Schritt, das Gen von Grund auf neu zu bauen, und benutzte Gentechnik dafür, die DNA-Basen in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen. Dann erst verpflanzte er das Gen in bakterielle Plasmide. 1977 hatte Boyers Team eine Bakterienkultur geschaffen, die brauchbares Somatostatin generierte, ein Jahr später nutzte er die Technik für Insulin. Sämtliches Insulin für die Diabetesbehandlung wird heute auf diese Weise hergestellt.

»Die tiefgreifendste Konsequenz der Gentechnik mit rekombinanter DNA ist unser Wissenszuwachs bei den grundlegenden Prozessen des Lebens.«

Paul Berg

Amerikanischer Biochemiker

(*1926)

Größere Gene

Boyers Technik zur Herstellung von Genen war nur möglich, weil die betreffenden Gene klein und gut handhabbar waren. Ein Insulingen besteht aus rund 150 DNA-Basen. Sie müssen alle in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt werden, damit Zellen die Information »lesen« und Insulin herstellen können. Aber manche Gene sind viel größer und es ist unrealistisch, sie von Grund auf neu zu bauen. So ist zum Beispiel das Gen für Faktor VIII zur Behandlung der Bluterkrankheit 50-mal so groß wie das Insulingen.

Boyers Unternehmen wählte einen anderen Ansatz, um Faktor VIII herzustellen. Restriktionsenzyme zum Schneiden von DNA boten immer noch die Hoffnung, große Gene aus menschlichen Zellen herauszuholen. Aber selbst wenn man das Gen im riesigen menschlichen Genom exakt lokalisieren kann, kann man solch ein Gen nicht so einfach in Bakterien verfrachten. Gene, die man in den komplexen Zellen von Menschen (aber auch Tieren und Pflanzen) findet, haben Teilstücke nicht codierender DNA, die man Introns nennt. Diese werden entfernt, wenn die Zelle das Gen benutzt, um ein Protein herzustellen. Aber Bakterien haben keine Introns und auch nicht die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen. Allerdings macht die Zelle, bevor sie ein Protein herstellt, eine Kopie des Gens in Form von Messenger-RNA (mRNA), bei der die Introns fehlen.

Boyers Firma isolierte die mRNA und benutzte dann ein Enzym eines Virus, um sie in DNA zu verwandeln – sodass das Gen von Bakterien gelesen werden konnte. Um dieses Gen in Bakterien einzuschleusen, wurde konventionelle Gentechnik angewandt. Ab 1983 konnte bakteriell hergestellter Faktor VIII für die Therapie von Blutern verwendet werden.

Pflanzen und Tiere

Heute wird Gentechnik benutzt, um komplexere Lebewesen zu modifizieren – Pflanzen und Tiere. Plasmide oder Mikroben können als Vektoren dienen, um ein Gen in die Zellen einer Pflanze oder eines Tiers einzuschleusen und seine Eigenschaften zu verändern.

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Goldener Reis ist eine genetisch modifizierte Variante des weißen Oryza sativa (oben links). Er ist eine Quelle für Vitamin A, das für das Sehen und das Immunsystem wichtig ist.

Eine Mikrobe, die Pflanzen infiziert, namens Agrobacterium hat sich als besonders nützlich herausgestellt. Sie schleust DNA-Stücke in die Wirtszellen ein – ein Verhalten, das Wissenschaftler ausnutzen können, indem sie die Viren-DNA durch nützliche Gene ersetzen. 2000 wurde mit dieser Technik ein genetisch modifizierter Reis produziert. Man kann damit Vitamin-A-Mangel bekämpfen, der zu Erblindung im Kindesalter führen kann. Man infizierte Reis mit Agrobacterium, das das Gen für das Pigment Betacarotin enthielt, und erzeugte eine neue Varietät namens »Goldener Reis«. Er produziert das Pigment und speichert es in den Körnern. Menschen, die den Reis essen, wandeln das Betacarotin in Vitamin A um.

Medizinische Forschung

Einige der ehrgeizigsten Anwendungen der Gentechnik stammen aus der medizinischen Forschung. Ein Beispiel ist die Erzeugung von Knock-out-Mäusen. Sie werden als Embryonen genetisch verändert, sodass bestimmte Gene deaktiviert sind. Damit können die Forscher die Funktion dieser Gene studieren. Im Allgemeinen sind die proteincodierenden Regionen des Mausund des Menschengenoms zu 85 Prozent identisch. Deshalb können Forscher mithilfe von Knock-out-Mäusen verstehen, wie ein bestimmtes Gen an menschlichen Krankheiten beteiligt ist, etwa Krebs, Parkinson und Arthritis.

Heute geht Gentechnik weit hinaus über die Modifikation von Mikroben für die Pharma- oder Lebensmittelproduktion. Gentechnik hat es Wissenschaftlern ermöglicht, den Kreis zu schließen und die Gene selbst besser zu verstehen. image

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Knock-out-Mäuse dienen als Modellorganismen für die Genforschung am Menschen. Bei der linken Maus wurde ein bestimmtes Gen »ausgeknockt«, wodurch sich die Fellfarbe änderte.

Stanley N. Cohen

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Geboren in New Jersey im Jahr 1935, studierte Stanley N. Cohen an der University of Pennsylvania Medizin, bevor er an die kalifornische Stanford University ging. Dort arbeitete er an Plasmiden, DNA-Ringen, die zwischen Bakterien ausgetauscht werden können. 1972 traf er auf einer Konferenz über Bakteriengenetik Herbert Boyer von der University of San Francisco, der schon mit DNA-schneidenden Enzymen gearbeitet hatte. Sie kooperierten bei Experimenten mit dem Ziel, DNA in Bakterien zu verändern, und hatten im Jahr darauf Erfolg als Pioniere der Gentechnik.

Cohen bekam die amerikanische National Medal of Science im Jahr 1988 (Boyer erhielt sie 1990). Cohen und Boyer ließen sich ihre Techniken 1974 patentieren – ein Schritt, von dem ihre Universitäten profitierten, der aber umstritten war.

Hauptwerke

1973 Construction of biologically functional bacterial Plasmids in vitro

1980 Transposable Genetic Elements

DNA amplifizieren

1984 entwickelte der amerikanische Biochemiker Kary Mullis eine Technik, die Gene oder DNA-Stränge schnell kopieren (amplifizieren) kann. Dieser Durchbruch veränderte das Tempo der Forschung und führte zu völlig neuen Methoden, mit Genen zu arbeiten.

Mullis’ Technik, die Polymerasekettenreaktion (englisch PCR), ahmt die DNA-Replikation in Zellen nach, benutzt jedoch Zyklen der Erhitzung und Abkühlung. Zunächst wird das Gen oder DNA-Fragment, das amplifiziert werden muss, mit dem Enzym DNA-Polymerase (das in Zellen für die DNA-Synthese zuständig ist) und DNA-Basen gemischt. Die Mischung wird bis knapp unter den Siedepunkt erhitzt, um die Doppelhelixstränge zu trennen. Dann darf sie abkühlen bis zur optimalen Temperatur, bei der sich DNA-Basen an den DNA-Einzelstrang anlagern. Das Enzym hilft nun, die Basen zu verbinden, und produziert eine Kopie des Gens oder DNA-Fragments. Wenn man den Zyklus mehrfach wiederholt, verdoppelt sich jedes Mal die DNA-Menge.

Für die Erfindung bekam Mullis 1993 den Nobelpreis für Chemie. Heute wird die PCR benutzt, wann immer winzige DNA-Proben für eine Analyse amplifiziert werden müssen – von forensischen Anwendungen über das Humangenomprojekt bis zum Studium alter DNA von Fossilien oder archäologischen Fundstätten. Sie kann auch genutzt werden, um kleine Mengen viraler RNA und damit Infektionen zu entdecken. Ab 2020 wurden PCR-Tests auf das COVID-19-Virus breit eingesetzt.